TE Vwgh Erkenntnis 1994/4/27 93/01/1165

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Veröffentlicht am 27.04.1994
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB);
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

ABGB §870;
AsylG 1991;
AVG §63 Abs4;
BBetrG 1991;
B-VG Art129a Abs1 Z2;
VwRallg;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):93/01/1166

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Herberth und die Hofräte Dr. Dorner, Dr. Händschke, Dr. Bernegger und Dr. Beck als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Lammer, über die Beschwerden

1. des HG in U und 2. der MG in U, beide vertreten durch Dr. M, Rechtsanwalt in W, gegen die Bescheide des Bundesministers für Inneres vom 15. April 1993, Zl. 4.342.589/2-III/13/93, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern jeweils Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführer, bosnische Staatsangehörige, sind am 15. Februar 1993 über Ungarn in das Bundesgebiet eingereist und haben am 16. Februar 1993 Anträge auf Asylgewährung gestellt. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 24. Februar 1993 wurden die Anträge abgewiesen. Die dagegen erhobenen Berufungen wies die belangte Behörde mit den angefochtenen Bescheiden gemäß § 66 Abs. 4 iVm § 63 Abs. 4 AVG zurück, weil die Beschwerdeführer im Rahmen der persönlichen Aushändigung der Bescheide am 25. Februar 1993 jeweils einen von ihnen in ihrer Muttersprache eigenhändig verfaßten Rechtsmittelverzicht abgegeben hätten, den sie damit begründeten, daß sie in die sogenannte "de-facto-Aktion" aufgenommen hätten werden wollen.

In den Berufungen der Beschwerdeführer vom 11. März 1993 war jeweils zur Zulässigkeit der Berufung ausgeführt worden, daß der bei der Abgabe des Rechtsmittelverzichtes anwesende Dolmetsch den Beschwerdeführern gegenüber erklärt habe, daß sie, wenn sie nicht unterschrieben, Österreich innerhalb von 24 Stunden verlassen müßten. Sofern sie diesem Auftrag nicht freiwillig entsprächen, würde dies mit Polizeigewalt durchgesetzt werden. Im Falle eines Rechtsmittelverzichtes könnten sie im Flüchtlingslager Traiskirchen weiterhin wohnen und Unterstützung bekommen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sei das Vorliegen eines Berufungsverzichtes streng zu prüfen. Allfällige Willensmängel würden zur Unwirksamkeit einer Verzichtserklärung führen. Unter den angegebenen Umständen bei der Abgabe des Rechtsmittelverzichtes der Beschwerdeführer aufgrund einer unrichtigen bzw. unterbliebenen Rechtsbelehrung, insbesondere über die Folgen einer Berufung und die Folgen eines Rechtsmittelverzichts, sei der Rechtsmittelverzicht mit einem Willensmangel behaftet. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, daß die Beschwerdeführer im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland erneut asylrechtlich relevante Verfolgung befürchten müßten, insbesondere wieder in einem Internierungslager inhaftiert zu werden. Ein unter solchen Umständen abgegebener Rechtsmittelverzicht könne keinerlei Rechtswirkung entfalten, da er unter Druck zustandegekommen sei.

Die belangte Behörde übermittelte die Berufungen der Beschwerdeführer dem Bundesasylamt. In einem Aktenvermerk vom 19. März 1993 stellte der Beamte des Bundesasylamtes, der die erstinstanzlichen Bescheide ausgehändigt hatte, aus seiner Sicht die Vorgänge bei der Übergabe des Bescheides an die Beschwerdeführer dar. Es sei den Beschwerdeführern erklärt worden, daß sie nicht in die Bundesbetreuung aufgenommen werden könnten, weil sie keine vorläufige Aufenthaltsberechtigung hätten. Es bestünde lediglich die Möglichkeit, in die sogenannte "de-facto-Aktion" aufgenommen zu werden. Letzteres setze aber voraus, daß das Asylverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei. Dies wäre dann der Fall, wenn die Beschwerdeführer auf die Einbringung eines Rechtsmittels verzichteten. Daraufhin hätten die Beschwerdeführer freiwillig den Rechtsmittelverzicht abgegeben und seien in der Folge in die "de-facto-Aktion" aufgenommen worden. Zu der Angabe der Beschwerdeführer, der Dolmetsch hätte ihnen gesagt, daß sie Österreich binnen 24 Stunden verlassen müßten, wenn sie keinen Rechtsmittelverzicht abgeben, stellte der die Amtshandlung durchführende Beamte fest, alle bosnischen Kriegsflüchtlinge würden auf die Möglichkeit der Aufnahme in die "de-facto-Aktion" hingewiesen und dahin belehrt, daß diese davon abhängig sei, ob das Asylverfahren abgeschlossen sei. Dazu sei ein Rechtsmittelverzicht erforderlich. Jedem Asylwerber aus Bosnien würde auch mitgeteilt werden, daß er keiner Gefahr einer Abschiebung nach Bosnien ausgesetzt sei, auch dann nicht, wenn er keinen Rechtsmittelverzicht abgebe. Nach Auffassung des die Amtshandlung durchführenden Beamten sei es nicht glaubhaft, daß Dolmetscher Angaben über Abschiebungen oder Ausweisungen machen würden. Im vorliegenden Fall sei - wie in den meisten anderen Fällen - von dieser Möglichkeit vom Asylwerber Gebrauch gemacht worden.

Die belangte Behörde vertrat zur Frage der Wirksamkeit des Berufungsverzichtes nach Wiedergabe des Aktenvermerkes vom 19. März 1993 in den angefochtenen Bescheiden die Auffassung, daß es auf die Motive für die Abgabe eines Berufungsverzichtes

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von Zwang und Drohung abgesehen - nicht ankomme. Die Beschwerdeführer seien - wie alle bosnischen Kriegsflüchtlinge - von der Möglichkeit der Aufnahme in die sogenannte "de-facto-Aktion" mit dem Hinweis aufmerksam gemacht worden, daß dies nur nach rechtskräftigem Abschluß des Asylverfahrens möglich sei. Da die Beschwerdeführer offensichtlich anstrebten, in die genannte Betreuungsaktion aufgenommen zu werden und weiterhin öffentliche Unterstützung zu erhalten, seien sie gewillt gewesen, ihr Asylverfahren durch Verzicht zu beenden. Die Behauptung der Beschwerdeführer, man hätte ihnen für den Fall, daß sie keinen Rechtsmittelverzicht abgeben würden, mit der Abschiebung gedroht, sei nicht glaubwürdig, weil bosnische Staatsangehörige grundsätzlich

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auch bei rechtskräftiger Ablehnung des Asylantrages - nicht in ihr Heimatland abgeschoben würden, solange dort bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Von einem durch Drohung oder Zwang herbeigeführten Willensmangel bei der Abgabe des Rechtsmittelverzichtes, der zur Unwirksamkeit der Verzichtserklärung geführt hätte, könne nicht gesprochen werden. Es sei die erklärte Absicht der Beschwerdeführer gewesen, in die sogenannte "de-facto-Aktion" aufgenommen zu werden. Um die dafür erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen, hätten die Beschwerdeführer auf die Durchführung des Asylverfahrens durch Erhebung eines Rechtsmittels verzichtet.

In der gegen diese Bescheide der belangten Behörde erhobenen Beschwerden vor dem Verwaltungsgerichtshof machen die Beschwerdeführer inhaltliche Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend. Sie erachten sich in ihrem Recht auf Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes und auf Entscheidung der Berufungsbehörde in der Sache verletzt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden erwogen:

Gemäß § 63 Abs. 4 AVG ist eine Berufung nicht mehr zulässig, wenn die Partei nach der Zustellung oder Verkündung des Bescheides ausdrücklich auf die Berufung verzichtet hat. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 16. April 1980, Zl. 324/80, vom 10. Februar 1982, Zl. 01/3336/79, vom 11. Jänner 1989, Zl. 88/01/0188, und vom 16. Jänner 1991, Zl. 89/01/0399) ist das Vorliegen eines Berufungsverzichtes besonders streng zu prüfen. Ein anläßlich der Unterzeichnung eines Berufungsverzichtes vorliegender Willensmangel ist, wenn er tatsächlich bestanden hat, zugunsten des Beschwerdeführers zu deuten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. Jänner 1991, Zl. 89/01/0399, und die in diesem zitierte Vorjudikatur).

Geht man von dem von der belangten Behörde angenommenen Sachverhalt bei Abgabe des Berufungsverzichtes aus, ist festzustellen, daß die Abgabe eines Berufungsverzichtes eines Asylwerbers nach dem Hinweis darauf, daß die Bundesbetreuung mangels Aufenthaltsberechtigung nicht zustehe und die Erlangung der sogenannten "de-facto-Aktion" voraussetze, daß kein Asylverfahren anhängig bzw. rechtskräftig abgeschlossen sei, im Lichte der besonderen Situation eines Flüchtlings, insbesondere im vorliegenden Fall von bosnischen Moslems, nicht frei von Willensmängeln erfolgt, vielmehr die Beschwerdeführer unter Erzeugung von psychischem Druck zur Abgabe des Rechtsmittelverzichtes bestimmt wurden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Oktober 1988, Zl. 88/11/0213, 0214, und das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 17. Juni 1992, B 1167/91, und die dort zitierte Vorjudikatur). Denn in dieser Angabe verbirgt sich die Aussage, daß der Asylwerber andernfalls zum Aufenthalt in Österreich nicht berechtigt sei, ihm also die Ausweisung drohe bzw. ihm die Situation bevorstehe, sich unberechtigt und ohne jegliche staatliche Unterstützung in Österreich aufzuhalten. Der Umstand, daß die Bedingung des nicht anhängigen Asylverfahrens im Rahmen der sogenannten "de-facto-Aktion" Inhalt einer Vereinbarung des Bundes und der Länder über Flüchtlingshilfe ist, ändert an diesem Ergebnis nichts. Es ist vielmehr diese im Lichte des Rechtsstaatsprinzip bedenklich erscheinende vertragliche Regelung, die die ursächliche Grundlage für den angeführten Druck auf die Beschwerdeführer war, wenn ihnen ohne Rechtsgrundlage aufgrund des Asylgesetzes der weitere Verbleib in Österreich de facto unter der Bedingung in Aussicht gestellt wird, ein vom Staat in Durchführung einer internationalen Konvention zur Verfügung gestelltes Verfahren nicht in Anspruch zu nehmen und sich damit erreichbarer Rechtspositionen (insbesondere der Aufenthaltsberechtigung und der möglichen Asylgewährung) unter Umständen für immer zu begeben.

Aufgrund dieser rechtlichen Beurteilung war auf die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Verfahrensverletzungen nicht mehr einzugehen.

Die angefochtenen Bescheide waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 104/1991.

Schlagworte

Rechtsgrundsätze Verzicht Widerruf VwRallg6/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1994:1993011165.X00

Im RIS seit

11.07.2001

Zuletzt aktualisiert am

25.01.2012
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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