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L0 Verfassungs- und OrganisationsrechtNorm
B-VG Art141 Abs1 litaLeitsatz
Aufhebung des Verfahrens zur Wahl eines Gemeinderates insoweit, als es der Stimmenabgabe nachfolgte, wegen für das Wahlergebnis relevanter rechtswidriger Bewertung zweier Stimmzettel als gültigSpruch
Der Wahlanfechtung wird stattgegeben.
Das Verfahren zur Wahl des Gemeinderats der Gemeinde Attersee am 6. Oktober 1991 wird insoweit aufgehoben, als es der Stimmenabgabe (Wahlhandlung) nachfolgte.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Am 6. Oktober 1991 fanden die von der Oberösterreichischen Landesregierung am 11. Juli 1991 im Landesgesetzblatt Nr. 82/1991 ausgeschriebenen Wahlen zum Gemeinderat der Gemeinden des Bundeslandes Oberösterreich, darunter die Gemeinde Attersee (politischer Bezirk Vöcklabruck), statt.
1.1.2. Dieser Wahl lagen die von den folgenden wahlwerbenden Parteien eingebrachten, gemäß §23 der Oberösterreichischen Gemeindewahlordnung 1991 (GWO 1991), Kdm. WV LGBl. 94/1991, abgeschlossenen und veröffentlichten Wahlvorschläge zugrunde:
Liste 1: Österreichische Volkspartei (ÖVP)
Liste 2: Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ)
Liste 3: Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ).
1.1.3. Laut Kundmachung der Gemeindewahlbehörde der Gemeinde Attersee vom 8. Oktober 1991 entfielen von den insgesamt 867 abgegebenen gültigen Stimmen - 22 Stimmzettel wurden als ungültig gewertet - auf
ÖVP 468 Stimmen (11 Mandate)
SPÖ 255 Stimmen ( 5 Mandate)
FPÖ 144 Stimmen ( 3 Mandate).
1.2.1. Mit ihrer am 30. Oktober 1991 zur Post gegebenen, an den Verfassungsgerichtshof gerichteten und auf Art141 Abs1 lita B-VG gestützten Wahlanfechtungsschrift begehrte die SPÖ durch ihren zustellungsbevollmächtigten Vertreter F S die Nichtigerklärung der Wahl zum Gemeinderat der Gemeinde Attersee vom 6. Oktober 1991 wegen Rechtswidrigkeit (eines Teils) des Wahlverfahrens.
Begründend brachte die Anfechtungswerberin - kurz zusammengefaßt - vor, die Gemeindewahlbehörde habe gesetzwidrig zwei Stimmzettel als gültig ausgefüllt anerkannt (und für die ÖVP abgegeben gewertet), anstatt sie - als ungültig - bei der Ermittlung des Wahlergebnisses nicht zu berücksichtigen.
1.2.2. Die Gemeindewahlbehörde der Gemeinde Attersee legte dem Verfassungsgerichtshof die Wahlakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die Abweisung der Wahlanfechtung eintrat.
1.2.3. Die beiden strittigen Stimmzettel zeigen folgendes Bild:
1.3.1. Der mit "Gültige Ausfüllung" überschriebene §38 GWO 1991 lautet:
"(1) Zur Stimmabgabe darf nur der vom Wahlleiter gleichzeitig mit dem Wahlkuvert dem Wähler übergebene amtliche Stimmzettel verwendet werden.
(2) Der Stimmzettel ist gültig ausgefüllt, wenn aus ihm eindeutig zu erkennen ist, welche Parteiliste der Wähler wählen wollte. Dies ist der Fall, wenn der Wähler in einem der neben jeder Parteibezeichnung vorgedruckten Kreise ein Kreuz oder ein anderes Zeichen mit Tinte, Farbstift oder Bleistift und dgl. anbringt, aus dem unzweideutig hervorgeht, daß er die in derselben Zeile angeführte Parteiliste wählen will. Der Stimmzettel ist aber auch dann gültig ausgefüllt, wenn der Wille des Wählers auf andere Weise, zum Beispiel durch Anhaken, Unterstreichen, sonstige entsprechende Kennzeichnung einer wahlwerbenden Partei, durch Durchstreichen der übrigen wahlwerbenden Parteien oder durch Bezeichnung eines, mehrerer oder aller Bewerber einer Parteiliste, eindeutig zu erkennen ist."
1.3.2. §40 GWO 1991 - übertitelt mit "Ungültige Stimmzettel" - bestimmt:
"(1) Der Stimmzettel ist ungültig, wenn
1.
ein anderer als der amtliche Stimmzettel zur Abgabe der Stimme verwendet wurde, oder
2.
der Stimmzettel durch Abreißen eines Teiles derart beeinträchtigt wurde, daß nicht mehr unzweideutig hervorgeht, welche Parteiliste der Wähler wählen wollte, oder
3.
keine Parteiliste und auch kein Bewerber angezeichnet wurden, oder
4.
zwei oder mehrere Parteilisten angezeichnet wurden, oder
5.
der Wähler ausschließlich Bewerbern verschiedener Parteilisten Vorzugsstimmen gibt, oder
6.
aus dem vom Wähler angebrachten Zeichen oder der sonstigen Kennzeichnung nicht unzweideutig hervorgeht, welche Parteiliste er wählen wollte.
(2) Leere Wahlkuverts zählen als ungültige Stimmzettel. Enthält ein Wahlkuvert mehrere Stimmzettel, die auf verschiedene wahlwerbende Parteien bzw. auf Bewerber verschiedener Parteien lauten, so zählen sie, wenn sich ihre Ungültigkeit nicht schon aus anderen Gründen ergibt, als ein ungültiger Stimmzettel.
(3) Worte, Bemerkungen oder Zeichen, die auf den amtlichen Stimmzetteln außer zur Kennzeichnung der wahlwerbenden Partei oder zur Vergabe von Vorzugsstimmen angebracht wurden, beeinträchtigen die Gültigkeit eines Stimmzettels nicht, wenn sich hiedurch nicht einer der vorangeführten Ungültigkeitsgründe ergibt. Im Wahlkuvert befindliche Beilagen aller Art beeinträchtigen die Gültigkeit des amtlichen Stimmzettels nicht."
2. Über die Wahlanfechtung wurde erwogen:
2.1.1. Gemäß Art141 Abs1 lita B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof ua. über Anfechtungen von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern, so auch über die Anfechtung einer Gemeinderatswahl (zB VfSlg. 8973/1980, 10610/1985; VfGH 1.3.1990 WI-4/89). Nach Art141 Abs1 Satz 2 B-VG kann eine solche Anfechtung auf die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens gegründet werden.
2.1.2. Nach §68 Abs1 VerfGG 1953 muß die Wahlanfechtung binnen vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfahrens, wenn aber in dem betreffenden Wahlgesetz ein Instanzenzug vorgesehen ist, binnen vier Wochen nach Zustellung des in letzter Instanz ergangenen Bescheids eingebracht werden.
Nun sieht zwar §48 Abs1 GWO 1991 administrative Einsprüche - iS eines Instanzenzugs nach §68 Abs1 VerfGG 1953 - vor, doch nur gegen ziffernmäßige Ermittlungen einer Gemeindewahlbehörde.
Zur Geltendmachung aller anderen (ds. alle nicht ziffernmäßige Ermittlungen betreffenden) Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens steht - weil insoweit ein zunächst zu durchlaufender Instanzenzug iS des §68 Abs1 VerfGG 1953 nicht eingerichtet ist - die unmittelbare Anfechtung der Wahl beim Verfassungsgerichtshof binnen vier Wochen nach Beendigung des Wahlverfahrens (erster Teilsatz des §68 Abs1 VerfGG 1953) offen (vgl. zB VfSlg. 10610/1985, 11732/1988; VfGH 1.3.1990 WI-4/89).
2.1.3. Im vorliegenden Fall strebt die SPÖ in ihrer Anfechtungsschrift nicht die - nach dem Gesagten dem Einspruchsverfahren nach §48 GWO 1991 vorbehaltene - Nachprüfung ziffernmäßiger Ermittlungen einer Wahlbehörde an; sie rügt vielmehr die - in den Bereich sonstiger Rechtswidrigkeiten des Wahlverfahrens fallende - Wertung zweier Stimmzettel als gültig, wofür die sofortige Wahlanfechtung nach Art141 Abs1 lita B-VG eingeräumt ist.
Maßgebender Zeitpunkt für den Beginn des Laufs der vierwöchigen Frist zur Anfechtung ist in diesem Fall die Beendigung des Wahlverfahrens (s. VfSlg. 9085/1981, 10610/1985; VfGH 1.3.1990 WI-4/89), di. bei Gemeinderatswahlen nach der GWO 1991 die der jeweiligen Gemeindewahlbehörde obliegende Kundmachung des Wahlergebnisses "einschließlich der Namen der gewählten Mitglieder des Gemeinderates und der Ersatzmitglieder" in ortsüblicher Weise.
Diese Verlautbarung fand hier am 8. Oktober 1991 statt.
Die am 30. Oktober 1991 zur Post gegebene Wahlanfechtungsschrift (s. Punkt 1.2.1.) wurde darum rechtzeitig eingebracht.
2.1.4. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Wahlanfechtung zulässig.
2.2.1.1. Der Verfassungsgerichtshof geht auf Grund der Aktenlage davon aus, daß jeder der beiden streitverfangenen Stimmzettel in den Kreisen neben den Parteibezeichnungen sowohl der ÖVP als auch der FPÖ Eintragungen aufweist, und zwar der erste im Kreis für die ÖVP ein doppelt ausgeführtes liegendes Kreuz und im Kreis für die FPÖ einen senkrechten Strich, der zweite im Kreis für die ÖVP ein liegendes Kreuz und im Kreis für die FPÖ kreuzähnliche sowie mehrere ellipsenartige Striche.
2.2.1.2. Die Gemeindewahlbehörde brachte in ihrer Gegenschrift ua. vor:
"Zum Stimmzettel 1:
Der Wähler hat zuerst die FPÖ angekreuzt, dann - aus welchem Grund immer - das Kreuz bei der FPÖ durchgestrichen und im Kreis der ÖVP das Kreuz klar eingetragen. Der Wählerwille ist daher unzweideutig ersichtlich. Der Stimmzettel wurde daher mit Stimmenmehrheit als gültig anerkannt.
Zum Stimmzettel 2:
Der Wähler hat zuerst im Kreis der FPÖ angesetzt und dann - aus welchem Grund auch immer - im Kreis der ÖVP das Kreuz klar eingetragen. Zur Bestärkung seines Wählerwillens wurde dieses Kreuz sogar doppelt eingetragen. Der Wählerwille ist somit unzweideutig, der Stimmzettel wurde daher mit Stimmenmehrheit als gültig anerkannt.
In beiden Fällen geht der Wählerwille klar hervor, der Wähler wollte in beiden Fällen der ÖVP seine Stimme geben. Es muß dem Wähler die Möglichkeit gegeben sein, in der Wahlzelle am Stimmzettel bei einem Irrtum eine Korrektur anzubringen. Es ist eine Lebenserfahrung, daß sich der Wähler scheut, bei unrichtigem Ausfüllen des Stimmzettels einen neuen Stimmzettel von der Wahlbehörde zu verlangen.
Im gegenständlichen Fall kommt hinzu, daß am gleichen Tag die Landtags- und die Gemeinderatswahlen stattgefunden haben. Der Wähler hatte daher zwei Stimmzettel erhalten. Es ist daher durchaus möglich, daß der Wähler die Stimmzettel für den Landtag und für den Gemeinderat zunächst verwechselte."
2.2.2. Dieser Deutung des Wählerwillens liegen aber nur Mutmaßungen über den Hergang der Stimmenabgabe zugrunde, die nicht zwingend sind.
§38 Abs2 GWO 1991 legt zunächst in Satz 1 fest, daß ein Stimmzettel gültig ausgefüllt ist, "wenn aus ihm eindeutig zu erkennen ist, welche Parteiliste der Wähler wählen wollte", und nennt anschließend in Satz 2 bestimmte Fallkonstellationen, bei denen diese Voraussetzung jedenfalls zutrifft; nämlich dann, "wenn der Wähler in einem der neben jeder Parteibezeichnung vorgedruckten Kreise ein Kreuz oder ein anderes Zeichen mit Tinte, Farbstift oder Bleistift und dgl. anbringt, aus dem unzweideutig hervorgeht, daß er die in derselben Zeile angeführte Parteiliste wählen will."
Hier sind auf beiden der ÖVP zugezählten Stimmzetteln die neben den Parteibezeichnungen ÖVP und FPÖ vorgedruckten Kreise mit Kreuzen oder Zeichen versehen, also - in strikter Wortinterpretation des §40 Abs1 Z4 GWO 1991 - "angezeichnet". Stimmzettel, auf denen zwei oder mehrere Parteilisten angezeichnet wurden, sind aber nach der zwingenden Vorschrift des §40 Abs1 Z4 GWO 1991 - wie die Anfechtungswerberin zutreffend ausführte - in jedem Fall ungültig; Raum für Überlegungen, welcher der "angezeichneten Parteien" der Wähler den Vorzug gegeben haben könnte, bleibt unter solchen Voraussetzungen nicht mehr (in diese Richtung weist letztlich auch schon das Erkenntnis VfSlg. 9086/1981, S. 293, 4. Absatz).
2.2.3. Die Gemeindewahlbehörde hat darum die beiden strittigen Stimmzettel zu Unrecht als gültig ausgefüllt (und für die ÖVP abgegeben) gewertet.
Beizufügen bleibt, daß §34 Abs5 GWO 1991 ausdrücklich regelt, wie vorzugehen ist, wenn dem Wähler beim Ausfüllen des amtlichen Stimmzettels ein Fehler unterlief und die Aushändigung eines weiteren Stimmzettels begehrt wird.
2.3.1. Nun ist einer Wahlanfechtung - wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung darlegte (VfSlg. 11732/1988) - nicht schon dann stattzugeben, wenn die behauptete Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens erwiesen wurde; sie muß darüber hinaus auch auf das Wahlergebnis von Einfluß gewesen sein (Art141 Abs1 Satz 3 B-VG, §70 Abs1 VerfGG 1953).
2.3.2. Dies trifft hier zu, weil die festgestellten, der Gemeindewahlbehörde anzulastenden Rechtswidrigkeiten (im Zug der Bewertung der zu Abschnitt 1.2.3. abgebildeten und zu Abschnitt
2.2. genannten Stimmzettel) zur Folge hatten, daß die SPÖ bei der Vergabe der Gemeinderatsmandate unzulässig benachteiligt wurde, wie nachstehende Ausführungen zeigen:
2.3.2.1. Der Gemeinderat der Gemeinde Attersee besteht aus 19 Mitgliedern (§18 Abs1 Oberösterreichische Gemeindeordnung 1990, Kdm. WV LGBl. 91/1990).
2.3.2.2. Auf der Basis der in der Niederschrift vom 7. Oktober 1991 festgehaltenen Parteisummen berechnete die Gemeindewahlbehörde die Wahlzahl gemäß §45 GWO 1991 wie folgt:
ÖVP SPÖ FPÖ
Stimmen: 468 255 144
1/2 234 127,5 72
1/3 156 85 48
1/4 117 63,75 36
1/5 93,6 51 28,8
1/6 78 42,5
1/7 66,857 36,428
1/8 58,5 31,875
1/9 52 28,33
1/1 0 46,8 25,5
1/11 42,545
1/12 39
1/13 36
1/14 33,428
1/15 31,2
Da das 1/11 der ÖVP-Parteisumme (di. die Zahl 42,545) der neunzehntgrößten der gemäß §45 Abs1 GWO 1991 angeschriebenen Zahlen entspricht und somit die Wahlzahl bildet, entfielen kraft §45 Abs2 leg.cit. auf die
ÖVP 11 Mandate
SPÖ 5 Mandate
FPÖ 3 Mandate.
2.3.2.3. Legt man der Wahlzahlberechnung jedoch das im Sinn der Ausführungen im Abschnitt 2.2. korrigierte Wahlergebnis, nämlich
ÖVP 466 Stimmen (468 - 2)
SPÖ 255 Stimmen (255 + 0)
FPÖ 144 Stimmen (144 + 0),
zugrunde, so ergibt sich folgendes Bild:
ÖVP SPÖ FPÖ
Stimmen: 466 255 144
1/2 233 127,5 72
1/3 155,33 85 48
1/4 116,5 63,75 36
1/5 93,2 51 28,8
1/6 77,66 42,5
1/7 66,571 36,428
1/8 58,25 31,875
1/9 51,77 28,33
1/10 46,6 25,5
1/11 42,363
1/12 38,833
Angesichts der richtigen Wahlzahl 42,5 (di. das 1/6 der SPÖ-Parteisumme als neunzehntgrößte Zahl der gemäß §45 Abs1 GWO 1991 angeschriebenen Zahlen) kämen - anders als laut dem kundgemachten Wahlergebnis - der ÖVP 10 (bisher 11) und der SPÖ 6 (bisher 5) Mandate zu.
2.4. Der Wahlanfechtung der SPÖ war daher stattzugeben und das Verfahren zur Wahl des Gemeinderats der Gemeinde Attersee am 6. Oktober 1991 insoweit aufzuheben, als es der Stimmenabgabe (Wahlhandlung) nachfolgte.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.
Schlagworte
VfGH / Instanzenzugserschöpfung, Wahlen, Stimmzettel, WahlergebnisEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1992:WI8.1991Dokumentnummer
JFT_10079695_91W00I08_00