Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb Ausübung nicht erfolgteLeitsatz
Verletzung im Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch nicht notwendige, ungerechtfertigte Fesselung mit Handschellen; keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Festnahme und Anhaltung eines unter Umgehung der Grenzkontrolle eingereisten Fremden aus dem Grund der Zurückschiebung; Zurückweisung der Beschwerde hinsichtlich einer nicht erwiesenen Ablehnung der Entgegennahme eines Asylantrags und der Aufforderung zum Verlassen des Warteraumes eines Flüchtlingslagers mangels Vorliegen eines Aktes unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er am 1. Juni 1990 in Traiskirchen von Organen der Bezirkshauptmannschaft Baden (für einen nicht eindeutig feststehenden Zeitraum) mit Handschellen gefesselt wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt worden.
II. Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er am 1. Juni 1990 von Organen der Bezirkshauptmannschaft Baden festgenommen und bis 2. Juni, 15 Uhr, in Haft angehalten wurde, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.
III. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
IV. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 36.548 S bestimmten Prozeßkosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1. Der ghanesische Staatsangehörige K K A begehrt mit seiner an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Beschwerde gemäß Art144 Abs1 B-VG die kostenpflichtige Feststellung, er sei dadurch in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden, daß Beamte der Bezirkshauptmannschaft Baden A) am 25. Mai 1990 ihm die Annahme eines (schriftlichen) Asylansuchens verweigerten, B) ihn a) am 1. Juni 1990 mit Handschellen fesselten und b) festnahmen und bis 2. Juni 1990 ohne Verabreichung von Nahrung festhielten, zur österreichisch-ungarischen Grenze verbrachten und ihn c) nach Rückkehr zum Flüchtlingslager Traiskirchen zum Verlassen des Warteraums aufforderten.
1.2. Die Bezirkshauptmannschaft Baden als belangte Behörde legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, worin sie für eine kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde eintrat.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Vorausgeschickt wird, daß dieses beim Verfassungsgerichtshof am 1. Jänner 1991 bereits anhängig gewesene Verfahren (über eine Beschwerde gegen Akte polizeilicher Befehls- und Zwangsgewalt) kraft der Übergangsbestimmungen des Art8 Abs4 (iVm Abs1) des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. 684, und des ArtIX Abs2 (iVm ArtX Abs1 Z1) des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 (Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988), BGBl. 685, nach der "bisherigen" Rechtslage, d.h. nach der Rechtslage bis zum 31. Dezember 1990, zu Ende zu führen ist (s. dazu: ArtII des Bundesgesetzes vom 6. Juni 1990, BGBl. 329/1990).
2.2.1.1. Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend (Punkt A), ein für die Bezirkshauptmannschaft Baden im Lager Traiskirchen dienstversehendes Verwaltungsorgan (W H) habe am 25. Mai 1990 die Entgegennahme seines Asylantrags abgelehnt.
Die belangte Bezirkshauptmannschaft hält dem in ihrer Gegenschrift entgegen, daß der Beschwerdeführer überhaupt erst am 1. Juni 1990 bei der Behörde erschienen sei.
2.2.1.2. Der Inhalt der dem Verfassungsgerichtshof vorgelegten Administrativakten steht mit dieser Einlassung der belangten Behörde im wesentlichen im Einklang; danach wurde der Beschwerdeführer offenbar am 1. Juni 1990 von österreichischen Sicherheitsorganen betreten. Der im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Zeuge einvernommene W H sagte im gegebenen Zusammenhang unbedenklich aus, er erinnere sich an den Beschwerdeführer nicht, könne aber ausschließen, daß ein (bei ihm vorsprechender) Asylwerber jemals ohne (computermäßige) Aufnahme seiner Daten "weggeschickt" worden sei, sofern er nicht (nach Belehrung) von sich aus auf die Stellung eines (Asyl-)Antrags verzichtet habe.
Angesichts dieser Beweisergebnisse vermag der Verfassungsgerichtshof der Schilderung des als Partei gehörten Beschwerdeführers nicht zu folgen, er habe noch am Tage seines Grenzübertritts (von Ungarn nach Österreich) bei W H in Traiskirchen vorgesprochen, dort Dokumente vorgewiesen und einen Asylantrag gestellt.
Soweit sich die Beschwerde gegen - nicht eindeutig erwiesene - administrative Vorgänge am 25. Mai 1990 wendet, fehlt es also an dem ihr zugrunde gelegten Tatsachensubstrat, sodaß sie insoweit allein schon deshalb - als unzulässig - zurückgewiesen werden mußte.
2.2.2. Gleiches gilt, wenn der Beschwerdeführer geltend macht (Punkt B/c), er sei (am 7. Juni 1990) zum Verlassen des Warteraums des Flüchtlingslagers Traiskirchen aufgefordert worden. Denn nichts spricht dafür, daß es damals zu einem nach Art144 Abs1 B-VG idF vor der Novelle BGBl. 685/1988 anfechtbaren Akt der Befehlsgewalt, nämlich zu einer Aufforderung unter Ankündigung einer (unverzüglichen) Zwangsmaßnahme für den Fall der Nichtbefolgung, gekommen sei. Der Beschwerdeführer behauptete in seiner gerichtlichen Parteienvernehmung selbst gar nicht, daß ihm die zwangsweise Entfernung aus dem Warteraum angedroht wurde; er brachte nur vor, jemand habe eine Tür geöffnet und ihn "mit der Hand" aus dem Saal geschoben, worin allein im übrigen den Umständen nach auch noch kein Akt der Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG gesehen werden könnte.
2.2.3.1. Ferner rügt der Beschwerdeführer (Punkt B/b), daß er am 1. Juni 1990 von Organen der belangten Behörde festgenommen, bis gegen 15 Uhr des nächsten Tages ohne Versorgung mit Nahrung festgehalten und zur österreichisch-ungarischen Grenze geschafft (und dort freigelassen) worden sei.
Die belangte Behörde führt dazu aus, daß gegen den Beschwerdeführer ein Zurückschiebungsauftrag nach §10 FrPolG ergangen sei, in dem die bekämpfte freiheitsentziehende Maßnahme ihre Deckung fände, doch hätten die ungarischen Behörden die Rücknahme des Fremden abgelehnt. Während der Haftanhaltung (1./2. Juni 1990) sei der Beschwerdeführer ausreichend mit Nahrung (Eßwaren/Getränke) versorgt gewesen.
2.2.3.2. Nach den Verfahrensergebnissen reiste der Beschwerdeführer am 25. Mai 1990 unter Umgehung der Grenzkontrolle - wie er selbst sagt: "über die grüne Grenze" - nach Österreich ein. Die Bezirkshauptmannschaft Baden verfügte daraufhin am 1. Juni 1990 seine "Zurückschiebung" nach Ungarn gemäß §10 Abs1 Z1 FrPolG idF BGBl. 190/1990. Als die ungarischen Grenzorgane am nächsten Tag eine Rückübernahme ablehnten, wurde er wieder aus der Haft entlassen.
Aus der glaubhaften Aussage des im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Zeuge einvernommenen Gendarmeriebeamten A G ergibt sich, daß dem Beschwerdeführer während seiner Haftzeit ausreichend Speise und Trank zur Verfügung standen.
Nach §10 Abs2 FrPolG idF BGBl. 190/1990 sind Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ermächtigt, Fremde binnen sieben Tagen nach der Einreise festzunehmen, wenn sie unter Umgehung der Grenzkontrolle eingereist sind; eine Anhaltung des Fremden aus dem Grund der Zurückschiebung für mehr als 48 Stunden ist unzulässig.
2.2.3.3. Diese (Festnahme- und Anhalte-)Voraussetzungen waren hier zur Gänze erfüllt. Der Beschwerdeführer wurde darum im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt, ebensowenig in einem anderen verfassungsgesetzlich verbürgten Recht, so auch nicht - unter dem Aspekt unzureichender Versorgung mit Nahrung - im Recht nach Art3
EMRK.
2.2.4. Der Beschwerdeführer bekämpft schließlich seine Fesselung mit Handschellen im Zuge der Festnahme durch Gendarmeriebeamte als Akt der verwaltungsbehördlichen Zwangsgewalt (Punkt B/a), der ihn in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art3 EMRK verletzt habe.
In diesem Punkt ist der Beschwerdeführer im Recht.
Aus den Administrativakten geht, von der belangten Behörde unbestritten, hervor, daß es zu der in der Beschwerdeschrift behaupteten Fesselung des Beschwerdeführers mit Handschellen (für einen nicht eindeutig feststehenden Zeitraum) tatsächlich gekommen war.
Die belangte Behörde nimmt in ihrer Gegenschrift zu den Gründen der Fesselung nicht selbst Stellung. Sie bezieht sich lediglich auf einen Gendarmeriebericht vom 5. November 1990, worin es nur allgemein heißt, daß dem Beschwerdeführer Handschellen "zur gesicherten Durchführung der Amtshandlung" angelegt worden seien.
Im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren sagte der Gendarmeriebeamte H K dazu als Zeuge aus, der Beschwerdeführer sei "in der konkreten Situation" nicht "renitent" geworden. Nach Aussage des Gendarmeriebeamten A G war eine Fesselung üblich; dieser Zeuge verwies auf die Verhältnisse im Flüchtlingslager Traiskirchen, ohne das konkrete Verhalten des Beschwerdeführers als auffällig (oder in irgendeiner Art gefährlich) zu charakterisieren. Der Gendarmeriebeamte J H deponierte sinngemäß, eine Fesselung habe seiner "Eigensicherung" gedient; der Beschwerdeführer habe weder "randaliert" noch sonst ein Verhalten an den Tag gelegt, das eine Fesselung erforderte. Abzuschiebende Ausländer seien zu dieser Zeit üblicherweise mit Handschellen gefesselt worden.
Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. 201/1958 (EMRK), die gemäß dem BVG BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand . . . unmenschlicher oder erniedrigender . . . Behandlung unterworfen werden darf.
Eine den Umständen nach nicht notwendige, ungerechtfertigte Fesselung verstößt gegen Art3 EMRK, wie der Verfassungsgerichtshof schon wiederholt, so auch in seinen Erkenntnissen VfSlg. 7081/1973, 8146/1977 und 9836/1983 darlegte. Der Verfassungsgerichtshof hält an dieser Rechtsprechung fest.
Nach den Verfahrensergebnissen war hier die - angeblich "übliche" - Fesselung keinesfalls notwendig; der Beschwerdeführer verhielt sich im Verlauf der Amtshandlung nicht im geringsten gewalttätig, sondern offenkundig völlig ruhig; er ließ sich widerstands- und anstandslos abführen, sodaß sein Verhalten keinen Grund für ein Anlegen von Handschellen abgeben konnte. Auch sonst war nach den Begleitumständen der Amtshandlung eine Gefährdung der einschreitenden Gendarmeriebeamten nicht ernstlich zu befürchten.
Zusammenfassend steht daher fest, daß der Beschwerdeführer durch die angefochtene Fesselung mit Handschellen in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art3 EMRK verletzt wurde.
2.3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Angesichts des Gesamtergebnisses des Beschwerdeverfahrens (teils Zurückweisung, teils Abweisung, teils Stattgebung) war davon auszugehen, daß der Beschwerdeführer mit einem Drittel seines Begehrens obsiegte. Es wurde ihm daher ein Drittel der Kosten für die Verfassung der Beschwerde zuerkannt, ebenso die Hälfte der Kosten jener Beweistagsatzungen, die (auch) der Aufklärung der behaupteten Fesselung dienten (§43 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VerfGG 1953). Die Tagsatzung vom 10. Juni 1991 (beim Bezirksgericht Baden) mußte außer Betracht bleiben, weil der Beschwerdeführer es verabsäumt hatte, das Gericht von seinem Aufenthaltswechsel zu verständigen, und daher die Ursache dafür setzte, daß er nicht vernommen werden konnte. Auch die Tagsatzung vom 25. Juni 1991 (beim Bezirksgericht Bruck a.d. Leitha) konnte nicht berücksichtigt werden, weil die dort erhobenen Beweise nur andere Beschwerdefakten betreffen.
Die von der belangten Behörde begehrten Kosten für die Vorlage des Verwaltungsaktes und für die Einbringung der Gegenschrift - die Behörde besuchte keine der Beweistagsatzungen - konnten nicht zugesprochen werden, weil der Ersatz dieses Aufwandes im VerfGG 1953 nicht vorgesehen ist (VfSlg. 10003/1986, 11340/1987). Eine sinngemäße Anwendung der für den Verwaltungsgerichtshof geltenden Kostenbestimmungen kommt im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof nicht in Betracht (zB VfSlg. 9488/1982).
Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer von 6.091,33 S enthalten.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lita und Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Fremdenpolizei, Festnehmung, Zurückschiebung, Asylrecht, Mißhandlung, FesselungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1992:B820.1990Dokumentnummer
JFT_10079391_90B00820_00