TE Vfgh Erkenntnis 1992/6/10 B1199/90, B1200/90, B1201/90, B1202/90, B1203/90, B211/91, B515/91, B51

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 10.06.1992
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
V-ÜG 1929 ArtII §4 Abs2

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch die von Sicherheitsorganen zwecks Auflösung einer Demonstration erzwungene Rückkehr von der Staatsgrenze und die anschließende Fahrt in einem Autobus; Verletzung des Freiheitsrechts durch die über das von einer gemäß ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 erlassenen Verordnung über das Verlassen eines Gebietes hinausgehende "Abschiebung" der Beschwerdeführer von der burgenländischen Grenze nach Wien

Spruch

1. Die Beschwerdeführer B F, H L und M G sind dadurch, daß sie am Nachmittag des 9. September 1990 auf Anordnung eines Organs der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See von der österreichisch-ungarischen Staatsgrenze bis zum K (Bezirk Neusiedl am See, Burgenland) zurückgehen, dort in einen Autobus steigen und mit diesem das Gebiet um den K verlassen mußten, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerden dieser Beschwerdeführer werden daher insoweit abgewiesen.

Hingegen sind diese Beschwerdeführer dadurch, daß sie in der Folge von Organen der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl und der Bundespolizeidirektion Wien gezwungen wurden, mit einem Autobus bis Wien, Simmeringer Hauptstraße zu fahren, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

2. Die Beschwerdeführerin Dr. M P ist dadurch, daß sie gezwungen wurde, in dem genannten Autobus von Parndorf (Burgenland) bis Wien, Simmeringer Hauptstraße mitzufahren, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

3. Die vier Beschwerden werden im übrigen (betreffend die weitere Fahrt mit dem Autobus von der Simmeringer Hauptstraße bis zum Wiener Südbahnhof) zurückgewiesen.

4. Die Kosten der Beschwerdeführer B F, H L und M G einerseits und des Bundes (Bundesminister für Inneres) andererseits werden gegeneinander aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin Dr. M P zu Handen ihres Rechtsvertreters die mit S 45.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) In den auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden wird im wesentlichen vorgebracht, die Beschwerdeführer B F, H L und M G hätten am 9. September 1990 an einer Fahrt mit einem Mietautobus von Wien zur ungarischen Grenze in der Gegend von Nickelsdorf (Burgenland) teilgenommen. In der Nähe von Nickelsdorf bei einem Gehöft mit der Bezeichnung "K" hätten die Beschwerdeführer gemeinsam mit den Mitreisenden den Autobus verlassen und seien in einer Gruppe auf einem Güterweg spaziert, der auf die Staatsgrenze zuläuft. Unmittelbar vor der Staatsgrenze seien Soldaten des Bundesheeres anzutreffen gewesen. Die Beschwerdeführer und andere Personen der Gruppe hätten mit den Soldaten ein Gespräch über den Zweck ihres Einsatzes und das Asylrecht begonnen.

Zu diesem Zeitpunkt sei der stellvertretende Bezirkshauptmann der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl, Dr. A G, aufgetreten und habe eine auf ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 gestützte Verordnung verkündet, wonach die Beschwerdeführer und ihre Begleiter zu dem Autobus zurückzukehren und sich mit diesem aus dem Bereich des Bezirkes Neusiedl am See zu entfernen hätten. Beim Rückmarsch Richtung K hätten sich Gendarmeriebeamte der Personengruppe angeschlossen und die Letzten der Gruppe mehrfach aufgefordert, das Tempo zu beschleunigen, ansonsten werde eine Festnahme ausgesprochen. Auch Dienstfahrzeuge hätten den Zug derart begleitet, daß ein Umkehren oder Abweichen vom Güterweg nicht möglich gewesen sei. Beim Autobus angekommen, seien die Beschwerdeführer und ihre Begleiter aufgefordert worden, rasch in diesen einzusteigen. Dieser Aufforderung habe die Behörde dadurch Nachdruck verliehen, daß Gendarmeriebeamte einen geschlossenen Kordon in Richtung des Autobusses zusammengezogen und so die Beschwerdeführer gezwungen hätten, den Bus zu besteigen. Der Vertreter der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See, Dr. G, habe dem Fahrer des Autobusses befohlen, "so weit wie möglich" wegzufahren und habe zugleich veranlaßt, daß vor und hinter dem Bus je ein Gendarmeriefahrzeug fuhr. Die Reisegesellschaft sei so gezwungen worden, die Fahrtroute über Bruck an der Leitha und Mannersdorf nach Wien zu nehmen. Noch bei Schwechat sei der Bus auf die Einfahrtsroute über die Simmeringer Hauptstraße durch ein die Fahrtrichtung vorgebendes Gendarmeriefahrzeug befohlen worden. An der Wiener Stadtgrenze sei der Autobus samt Reisegesellschaft von zwei Funkstreifenwagen der Bundespolizeidirektion Wien "übernommen" und so bis zum Südbahnhof in Wien "verbracht" worden; dort sei die Reisegesellschaft "auf freien Fuß gesetzt" worden.

Die Beschwerdeführerin Dr. M P, die nach ihrem Beschwerdevorbringen am 9. September 1990 in einem zweiten Autobus an einer ähnlichen Fahrt wie die drei anderen Beschwerdeführer teilgenommen hatte, traf gegen 17.20 Uhr anläßlich eines Zwischenaufenthaltes des ersten Autobusses samt Eskorte in Parndorf mit den Beschwerdeführern F, L und G zusammen (weil der zweite Autobus dort - laut Beschwerdevorbringen - zufällig vorbeikam). In der Folge habe ein Vertreter der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See die Beschwerdeführerin aufgefordert, den ersten Autobus, bei welchem sie sich befunden habe, zu besteigen. Die Beschwerdeführerin habe dieser mit Nachdruck ausgesprochenen Aufforderung Folge leisten müssen und sei sodann als Insassin des Autobusses gegen ihren freien Willen von Parndorf bis zum Wiener Südbahnhof "verbracht" worden.

b) Die Beschwerdeführer erachten sich durch die von Sicherheitsorganen erzwungene Rückkehr von der Staatsgrenze zum Autobus und die anschließende Fahrt im Autobus (die Beschwerdeführerin Dr. P erst ab dem erzwungenen Zusteigen in Parndorf) bis zum Südbahnhof in Wien im Zeitraum zwischen etwa

15.30 Uhr bis 19.00 Uhr des 9. September 1990, die Beschwerdeführerin Dr. P ab etwa 17.30 Uhr, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit sowie in anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt und beantragen, der Verfassungsgerichtshof wolle dies kostenpflichtig feststellen.

2.a) Die belangte Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See beantragt in Gegenschriften die Abweisung der Beschwerden. In den Gegenschriften wird eingeräumt, daß vom Vertreter der Bezirkshauptmannschaft, Dr. A G, "zwecks Auflösung einer verbotenen Demonstration" Zwangsmaßnahmen gesetzt worden seien. Die in den Beschwerden angeführte Verordnung sei gemäß ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 zur Abwehr von Gefahren für Personen und für das Eigentum erlassen worden. Unter Gefahr für das Eigentum sei die Brandgefahr hinsichtlich der riesigen und staubtrockenen Maisfelder des Gutsbetriebes K (wo es kurze Zeit zuvor einen Brand mit Millionenschaden gegeben habe) zu verstehen. Schon durch eine von Demonstranten allenfalls achtlos weggeworfene Zigarette hätte eine derartige Feuersbrunst hervorgerufen werden können. Die Gefahr für Personen habe im Beschießen eines Militärhubschraubers mit vier Explosionsgeschoßen bestanden.

In den Gegenschriften wird - soweit dies für die rechtliche Beurteilung der in Beschwerde gezogenen behördlichen Vorgangsweise von Belang ist - weiters vorgebracht, nach der aufgrund der genannten Verordnung erfolgten Rückkehr der Demonstranten zum Autobus habe Dr. G den Buslenker angewiesen, mit den Demonstranten das Burgenland zu verlassen und nach Wien zu fahren. Gleichzeitig habe er Gendarmeriebeamten den Auftrag erteilt, den Bus in der Form bis Wien zu begleiten, daß ein Gendarmeriefahrzeug vor und eines hinter dem Bus zu fahren habe. Per Funk sei auch eine Verständigung der Bundespolizeidirektion Wien über das Eintreffen des Autobusses erfolgt. Die zwangsweise Verbringung der Demonstranten nach Wien - somit an einen über den örtlichen Wirkungsbereich der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See hinausreichenden Ort - sei im Rahmen "der gebotenen behördlichen Maßnahmen" das gelindeste Mittel gewesen und nach erfolgter Interessenabwägung durch den Einsatzleiter zur Hintanhaltung einer Gefährdung des öffentlichen Wohles und der öffentlichen Sicherheit als erforderlich angesehen worden.

b) Die belangte Bundespolizeidirektion Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, beantragt in Gegenschriften die Zurückweisung der Beschwerden. Es wird im wesentlichen vorgebracht, am 9. September 1990 sei der Informationsdienst der Bundespolizeidirektion Wien von der Gendarmerie davon informiert worden, daß eine Gruppe von angeblichen Demonstranten mit einem Autobus in Richtung Wien unterwegs sei. Der Permanenzoffizier habe hierauf den Auftrag erteilt, den Autobus an der Stadtgrenze zu erwarten und ihm nachzufahren, um einerseits über durch die Businsassen allenfalls verursachte rechtswidrige Situationen berichten und andererseits im Bedarfsfall sofort einschreiten zu können. Der an die Besatzungen von zwei Funkstreifenwagen ergangene Auftrag habe keinerlei Zwangsmaßnahmen beinhaltet, sondern lediglich beobachtende Tätigkeit erfordert. Ab etwa 18.45 Uhr seien die Besatzungen von zwei Funkstreifenwagen dem aus Richtung Schwechat kommenden Autobus stadteinwärts über die Simmeringer Hauptstraße gefolgt. Im Zuge dieser Tätigkeit hätten sämtliche beteiligte Polizeibeamte ausschließlich Sichtkontakt mit dem Autobus gehabt, es seien keinerlei Amtshandlungen durchgeführt worden. Kurz nach dem Zentralfriedhof habe der Bus auf der Simmeringer Hauptstraße bei einer Straßenbahnhaltestelle angehalten, wo ca. 10 Personen den Bus verlassen und in weiterer Folge eine Straßenbahn bestiegen hätten. Dieser Vorgang sei von den Polizeibeamten "in keiner Weise erzwungen, gefordert oder behindert" worden. Der Autobus mit den restlichen Insassen habe seine Fahrt zum Südbahnhof fortgesetzt, wo alle Personen ausgestiegen seien. Daraufhin sei die Beobachtung "ohne weiteres eingestellt" worden. Im Zuge der ganzen "Nachfahrt" sei es weder zu Vorfällen noch zu Amtshandlungen gekommen.

c) Im verfassungsgerichtlichen Verfahren haben die Prozeßparteien sodann weitere Schriftsätze eingebracht.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen - Beschwerden erwogen:

1. Der Verfassungsgerichtshof hat Beweis erhoben durch die Einvernahme der Zeugen P W-B, Dr. A G, Major S A, Hauptmann R E, Oberleutnant R L, Abt.Insp. E N (alle zu den in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen im Burgenland), I Z, C S-T, Rev.Insp. W S,

T R, Insp. T L, Major J H und Insp. E S (alle zu den in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen in Wien) im Rechtshilfewege.

2. Der Verfassungsgerichtshof nimmt aufgrund dieser Beweismittel sowie des beiderseitigen Parteienvorbringens folgenden - hier rechtlich relevanten - Sachverhalt als erwiesen an:

a) Die Beschwerdeführer B F, H L und M G nahmen am 9. September 1990 an einer Fahrt mit einem Mietautobus von Wien an die österreichisch-ungarische Staatsgrenze bei Nickelsdorf (Burgenland) teil. Nach anderen Aktivitäten in der Nähe von Nickelsdorf verließen die Beschwerdeführer sowie die anderen Mitreisenden bei einem Gehöft namens K den Autobus und gingen über einen Güterweg zur Staatsgrenze. Die Beschwerdeführer wollten mit den an der Grenze anzutreffenden Soldaten des Bundesheeres über deren Einsatz zum Grenzschutz und das Asylrecht ins Gespräch kommen. Als zwei Hubschrauber, die zur Unterstützung der Grenzsicherung eingesetzt waren, über die (größere) Personengruppe mit den drei Beschwerdeführern flogen, wurden aus der Richtung dieser Gruppe mehrere Geschosse in Richtung der Hubschrauber abgefeuert, welche von den Insassen der beiden Hubschrauber (Offiziere des Bundesheeres und der Bundesgendarmerie) als "Signalraketen" und "Leuchtkugeln", welche sich "als brennender roter Ball" darstellten (Zeuge Major A), als "rote Feuerkörper" bzw. "Geschoße aus einer Leuchtpistole" (Hauptmann E) und als "Leuchtraketen" (Oberleutnant L) bezeichnet wurden.

Unter anderem aufgrund dieser Vorfälle erließ der stellvertretende Bezirkshauptmann der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See, Dr. A G, namens dieser Behörde eine auf ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 gestützte, an Ort und Stelle um 15.23 Uhr verkündete Verordnung, wonach zum Schutz der körperlichen Sicherheit von Menschen und zum Schutz des Eigentums (Dritter) die "Demonstranten" unter Strafandrohung aufgefordert wurden, ein näher bezeichnetes Gebiet in einem Bereich von der Staatsgrenze bis zum K bis 15.45 Uhr zu verlassen. Beim darauffolgenden Rückweg zum beim K stehenden Autobus wurden die "Demonstranten" von Gendarmeriebeamten umringt und von ihnen aufgefordert, zum Autobus zu gehen.

In der Folge wurden die "Demonstranten" von Dr. G aufgefordert, den Bus zu besteigen, ansonsten müßten sie mit ihrer Festnahme rechnen. Nachdem die Beschwerdeführer (und die übrigen Mitglieder der Gruppe) den Bus bestiegen hatten, wies Dr. G den Fahrer des Autobusses an, das Burgenland unverzüglich zu verlassen und verfügte gleichzeitig eine Begleitung des Busses durch Gendarmeriebeamte bis zur Wiener Stadtgrenze, wobei ein Gendarmeriefahrzeug vor und eines hinter dem Autobus fahren sollte.

Bei der so durchgeführten Fahrt nach Wien kam es vor Parndorf - aus hier nicht weiter relevanten Gründen - zu einem Zwischenaufenthalt, bei welchem die Beschwerdeführerin Dr. M P, die mit einem anderen Autobus gerade vorbeikam, zur Gruppe der drei übrigen Beschwerdeführer stieß. Sie wurde am Ende des Zwischenaufenthaltes veranlaßt, ebenfalls in den (ersten) Bus einzusteigen und mitzufahren, wobei Dr. G den Gendarmeriebeamten abermals die Anordnung erteilte, den Autobus bis zur Wiener Stadtgrenze zu begleiten.

Die Fahrt wurde daraufhin (mit allen vier Beschwerdeführern) in der bereits beschriebenen Reihenfolge der Fahrzeuge bis zur Wiener Stadtgrenze fortgesetzt, wo auf der Simmeringer Hauptstraße - aufgrund eines mit der Bundespolizeidirektion Wien hergestellten Funkkontaktes - bereits zwei Funkstreifenwagen der Bundespolizei auf den Autobus warteten und die Gendarmeriebeamten in der Form "ablösten", daß nunmehr - zumindest für einige Zeit - ein Funkstreifenwagen vor und der andere hinter dem Autobus fuhren. Eine unmittelbare Kontaktaufnahme zwischen den Polizeibeamten und dem Fahrer oder den Insassen des Autobusses erfolgte nicht. Bei einer Haltestelle der Straßenbahnlinie 71 auf der Simmeringer Hauptstraße verließ eine Anzahl von Personen den Bus, der verkehrsbedingt angehalten hatte, und stieg in die Straßenbahn um. Die Polizeibeamten reagierten auf diesen Vorfall nicht. Daraufhin setzte der Bus (mit den vier Beschwerdeführern) die Fahrt bis zum Südbahnhof fort, wo die restlichen Insassen ausstiegen, ohne von den Polizeibeamten in irgendeiner Weise behindert worden zu sein.

b) Der Verfassungsgerichtshof gelangte zu diesen Feststellungen aufgrund des - sich hinsichtlich einer Reihe relevanter Umstände nicht widersprechenden - Parteienvorbringens, weiters aufgrund der glaubhaften und schlüssigen Aussagen der Offiziere, die sich in den beiden Hubschraubern befunden hatten, (in ergänzenden Schriftsätzen der Beschwerdeführer wird auch nicht direkt in Abrede gestellt, daß "Leuchtraketen" in Richtung der Hubschrauber abgefeuert worden sein könnten) sowie, was das Verhalten von Organen der Bundespolizeidirektion Wien betrifft, aufgrund der Angaben der als Zeugen vernommenen Polizeibeamten, welche - entgegen den Ausführungen in den Gegenschriften der belangten Bundespolizeidirektion Wien - angaben, daß eines der Polizeifahrzeuge zumindest anfangs vor dem Autobus gefahren sei.

Die Aufnahme weiterer Beweise ist im Hinblick auf die nachfolgende rechtliche Beurteilung nicht erforderlich, so insbesondere nicht die beantragte Einholung von Sachverständigengutachten aus den Fachgebieten der Helikopterflugkunde und der Pyrotechnik. Da die oben getroffenen Feststellungen weitgehend mit dem Tatsachenvorbringen der Beschwerdeführer im Einklang stehen, erübrigt sich deren Einvernahme als Parteien. Dies gilt angesichts der zur Fahrt in Wien getroffenen Feststellungen (welche mit dem Beschwerdevorbringen weitestgehend übereinstimmen) auch hinsichtlich der beantragten Wiederholung der Einvernahme von im Rechtshilfeweg vernommener Zeugen (das Rechtshilfegericht hatte nur einen der vier Beschwerdevertreter zur Beweistagsatzung geladen).

3. Der festgestellte Sachverhalt ist rechtlich wie folgt zu beurteilen:

Vorausgeschickt wird hier, daß diese beim Verfassungsgerichtshof am 1. Jänner 1991 bereits anhängig gewesenen Verfahren (über Beschwerden gegen Akte polizeilicher Befehls- und Zwangsgewalt) kraft der Übergangsbestimmung des ArtIX Abs2 (iVm ArtX Abs1 Z1) des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 (Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988), BGBl. 685, nach der "bisherigen" Rechtslage, d.h. nach der Rechtslage bis zum 31. Dezember 1990, zu Ende zu führen sind.

a) Zu den Amtshandlungen bis zur Wiener Stadtgrenze:

aa) Aufgrund des festgestellten Sachverhaltes besteht kein Zweifel daran, daß die in Beschwerde gezogenen Amtshandlungen (Aufforderung zum Autobus zurückzugehen, diesen zu besteigen und damit nach Wien zu fahren) sofortige Befolgung heischende Befehle darstellten, bei deren Mißachtung die Beschwerdeführer mit der Ausübung von körperlichen Zwang durch die anwesenden Gendarmeriebeamten zu rechnen gehabt hätten. Die belangte Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See, der diese Anordnungen zuzurechnen sind, stellt den Zwangscharakter ihres Vorgehens auch in keiner Weise in Abrede. Das in Beschwerde gezogene Geschehen bildet daher einen tauglichen Gegenstand für eine Anfechtung im Sinne des Art144 Abs1 B-VG idF vor der Novelle BGBl. 685/1988 (s. hiezu die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, zB VfSlg. 11568/1987 S. 614 und die dort angeführte Vorjudikatur).

Die Beschwerden sind daher - da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen gegeben sind - insoweit zulässig.

bb) Nach der - gemäß Art8 Abs4 des Bundesverfassungsgesetzes BGBl. 684/1988 hier noch anzuwendenden - Bestimmung des Art8 StGG ist die Freiheit der Person gewährleistet. Diese Verfassungsnorm und das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, schützen jedoch - ebenso wie Art5 EMRK - nicht vor jeglicher Beschränkung der Bewegungsfreiheit schlechthin, sondern nur vor willkürlicher Verhaftung, rechtswidriger Inverwahrnahme sowie rechtswidriger Internierung und Konfinierung (VfSlg. 8815/1980, 9983/1984, 10378/1985; vgl. auch VfSlg. 11397/1987). Eine - nach der konkreten Fallkonstellation allein in Betracht zu ziehende - "Verhaftung" liegt aber nur dann vor, wenn Amtsorgane im Zuge einer Amtshandlung unter Anwendung physischen Zwanges oder unter Androhung von dessen unmittelbar bevorstehender Anwendung persönliche Ortsveränderungen entweder überhaupt unterbinden oder auf bestimmte, nach allen Seiten hin begrenzte Örtlichkeiten oder Gebiete, die nicht verlassen werden dürfen, einschränken (VfSlg. 3447/1958, 7149/1973, 9983/1984, 10378/1985, 11930/1988).

Diese Voraussetzungen lagen hier vor: Die Beschwerdeführer wurden - anders als im Falle des Erkenntnisses VfSlg. 11930/1988 S. 685 - nicht nur am Verbleiben an Ort und Stelle (zwangsweise) gehindert. Sie wurden vielmehr durch die vom Einsatzleiter Dr. G unmißverständlich ausgesprochenen, durch die Anwesenheit einer größeren Anzahl von Gendarmeriebeamten unterstützten Anordnungen gezwungen, von der Staatsgrenze zum K zurückzugehen, den Autobus zu besteigen und mit dem von Gendarmeriefahrzeugen eskortierten Autobus nach Wien zu fahren, wobei das voranfahrende Gendarmeriefahrzeug auch die Fahrtroute bestimmte; ihre Bewegungsfreiheit war also in erheblichem Ausmaß eingeschränkt.

Diese Freiheitsbeschränkung war rechtmäßig: Die belangte Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See stützte ihr Vorgehen auf die oben unter Punkt 2.a) angeführte Verordnung und die Verordnung wiederum auf die Bestimmung des ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929, welche die Behörden auf dem Gebiet der allgemeinen Sicherheitspolizei sowohl zu generellen wie auch zu individuellen Anordnungen ermächtigt (vgl. hiezu die ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, aus jüngerer Zeit etwa VfSlg. 10916/1986 und 12081/1989). Voraussetzung einer auf dieser Verfassungsbestimmung beruhenden sicherheitspolizeilichen Maßnahme ist deren Erforderlichkeit zur Abwendung einer Gefahr für die körperliche Sicherheit von Menschen oder des Eigentums. Hiebei genügt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes die Vertretbarkeit der Annahme der Sicherheitsorgane über das Vorliegen einer solchen Gefahr (s. VfSlg. 8928/1980 S. 187, 10272/1984 S. 604, 10916/1986 S. 654, 11266/1987 S. 217 und VfGH 30.9.1991 B794/90).

Der Vertreter der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See konnte aufgrund der ihm gemeldeten, oben unter Punkt 2.a) im einzelnen wiedergegebenen Wahrnehmungen der Insassen der beiden Hubschrauber nach den Erfahrungen des Lebens die begründete Besorgnis haben, daß das Abfeuern von Signalraketen oder sonstigen raketenähnlichen Gegenständen in Richtung der - relativ niedrig fliegenden - Hubschrauber eine konkrete Gefahr für die Hubschrauber und die darin befindlichen Personen darstellt. Der Behördenvertreter konnte auch von der weiteren Information ausgehen, daß diese Gegenstände aus der Demonstrantengruppe oder aus ihrer unmittelbaren Nähe abgefeuert worden waren. Hiebei kommt es - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer - nicht darauf an, ob bei genauer Untersuchung mit spezifischem fachmännischen Sachverstand eine Gefährdung der Hubschrauber durch derartige Flugkörper technisch möglich ist oder nicht. Wenn der Vertreter der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See bei der damals gegebenen Situation eine Gefahr für die Hubschrauber, zumindest durch Sichtbehinderung oder sonstige Irritation der Piloten mit sich daraus allenfalls ergebenden Konsequenzen befürchtet hat, kann der Verfassungsgerichtshof dieser - durchaus vertretbaren - Annahme jedenfalls nicht entgegentreten. Die Verordnung über das Verlassen eines bestimmten (auch den K umfassenden) Gebietes konnte daher schon aus diesen Gründen mit Recht auf ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 gestützt werden, sodaß nicht untersucht zu werden braucht, ob - wie die belangte Bezirkshauptmannschaft behauptet - auch noch andere Gründe für die Erlassung dieser Verordnung vorhanden waren.

Die von der belangten Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See gegen die Beschwerdeführer B F, H L und M G gesetzten, in Beschwerde gezogenen Zwangsmaßnahmen waren daher bis einschließlich der Anordnung an den Fahrer des Autobusses, das Gebiet um den K (mit den drei Beschwerdeführern) zu verlassen, rechtmäßig.

Die Beschwerden sind somit insoweit abzuweisen.

cc) Nach Verlassen des von der zitierten Verordnung umfaßten Gebietes ist jedoch die aufgrund einer Anordnung des Vertreters der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See erfolgte zwangsweise Eskortierung des Autobusses mit den Beschwerdeführern (ab Parndorf auch mit der Beschwerdeführerin Dr. M P) durch Gendarmeriebeamte bis zur Wiener Stadtgrenze weder durch diese Verordnung noch als individuelle Maßnahme durch ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 oder durch eine andere Rechtsvorschrift gedeckt. Nach dem Entfernen der Demonstranten aus dem Gebiet um den K bestand keine konkrete Gefahr (mehr) für Menschen oder für das Eigentum im Sinne der genannten Verfassungsbestimmung. Auch von der belangten Behörde wird derartiges nicht behauptet, sondern nur vorgebracht, es wäre ansonsten wahrscheinlich gewesen, daß weitere Demonstrationen oder Zwischenfälle stattfinden könnten. Die Möglichkeit, daß die Autobusinsassen allenfalls an einem anderen Ort wieder eine Art Demonstration veranstalten könnten, stellt als solche (noch) keine konkrete Gefahr dar, welche eine Maßnahme im Sinn des ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 erforderlich gemacht hätte, zumal es, selbst wenn eine weitere Manifestation stattgefunden hätte, von deren Gestaltung im einzelnen abhängig gewesen wäre, ob hiebei eine unter ArtII §4 Abs2 V-ÜG 1929 zu subsumierende Gefährdung aufgetreten wäre.

Die "Abschiebung" der Beschwerdeführer aus dem Burgenland bis Wien war daher - ganz abgesehen davon, daß diese Maßnahme auch mit Wirkung für ein Gebiet außerhalb des örtlichen Zuständigkeitsbereiches der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl am See getroffen wurde - rechtswidrig und verletzte die Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit. Bei diesem Ergebnis braucht - auch unter Berücksichtigung der hier gegebenen Umstände - nicht erörtert zu werden, ob die Beschwerdeführer durch diese Amtshandlung auch in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden sind.

b) Zu den Amtshandlungen in Wien:

aa) Der Autobus mit den darin befindlichen vier Beschwerdeführern wurde - wie bereits oben unter Punkt 2.a) festgestellt - an der Wiener Stadtgrenze, als die Gendarmeriefahrzeuge die Eskortierung beendeten, von zwei Funkstreifenwagen der Bundespolizeidirektion Wien in der Form gleichsam "übernommen", daß - zumindest eine Zeit lang - ein Funkstreifenwagen (damit deutlich die Fahrtroute fixierend) vor und ein anderer hinter dem Autobus fuhr. Der auf einer koordinierten Aktion beruhende, nahtlose Übergang der Eskortierung von einer Sicherheitsbehörde auf die andere und die gleichartig fortgesetzte Form der Begleitung ließen in keiner Weise erkennen, daß nunmehr - wie es die hier belangte Bundespolizeidirektion Wien darstellt - der Zwangscharakter des behördlichen Vorgehens auf einmal nicht mehr gegeben gewesen wäre. Es war jedenfalls aus der gegebenen Situation keineswegs ableitbar, daß die Polizeibeamten bei Mißachtung der früher gegebenen Anordnungen nicht sofort Zwangsmaßnahmen setzen würden.

Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis VfSlg. 12017/1989 zum Begriff der "Verhaftung" im Sinne des Art8 StGG - und damit implizit auch zur Frage des Vorliegens von Zwang - ausgeführt (S. 315f.), daß ein behördliches Vorgehen dann als "Verhaftung" zu werten ist, wenn der Betroffene aus dem Handeln der einschreitenden Organe vernünftigerweise nur folgern kann, daß er nicht in der Lage ist, beliebige Ortsveränderungen durchzuführen; es muß sich aus dem Verhalten des Organes schlüssig ergeben, daß der hievon Betroffene nicht persönlich frei ist. Diese Erwägungen treffen auf den hier gegebenen Sachverhalt bis zu dem Zeitpunkt voll zu, als eine Anzahl der Insassen des Autobusses auf der Simmeringer Hauptstraße (rasch) ausstieg und zu einer Straßenbahnhaltestelle ging. Nachdem die begleitenden Polizeibeamten auf diesen Vorfall nicht reagierten, mußte den übrigen Autobusinsassen (darunter den vier Beschwerdeführern) klar geworden sein, daß ein Verlassen des Autobusses nunmehr ohne weitere Konsequenzen möglich war.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich zwei Schlußfolgerungen:

Die Beschwerden sind bis zu dem Zwischenaufenthalt des Autobusses auf der Simmeringer Hauptstraße zulässig und auch begründet (für die in Beschwerde gezogene freiheitsbeschränkende Maßnahme findet sich keine Rechtsgrundlage, auch die belangte Bundespolizeidirektion Wien behauptet nichts dergleichen). Ab dem Zwischenaufenthalt bis zum Ende der Fahrt beim Südbahnhof lag kein Zwangscharakter des Verhaltens der Polizeibeamten mehr vor.

bb) Die Beschwerdeführer sind also durch die in Beschwerde gezogene Maßnahme von Organen der Bundespolizeidirektion Wien von der Stadtgrenze bis zum Zwischenaufenthalt des Autobusses auf der Simmeringer Hauptstraße im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Im übrigen (betreffend das behördliche Vorgehen ab dem Zwischenaufenthalt des Autobusses bis zu dessen Eintreffen beim Südbahnhof) sind die Beschwerden mangels Vorliegens der Voraussetzungen des Art144 Abs1 B-VG als unzulässig zurückzuweisen.

4. Da die Beschwerdeführer B F, H L und M G einerseits und der Bund (Bundesminister für Inneres) andererseits teils obsiegt haben, teils unterlegen sind, werden die Kosten hinsichtlich dieser Beschwerdeführer gemäß §43 Abs1 ZPO (§35 Abs1 VerfGG) iVm §88 VerfGG gegeneinander aufgehoben.

Da die Beschwerdeführerin Dr. M P nur mit einem geringfügigen Teil ihrer Beschwerde, dessen Geltendmachung überdies besondere Kosten nicht veranlaßt hat, unterlegen ist, wird dem Bund (Bundesminister für Inneres) gemäß §43 Abs2 ZPO (§35 Abs1 VerfGG) der Ersatz der gesamten dieser Beschwerdeführerin entstandenen Kosten auferlegt. In diesen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 7.500,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Polizei, Sicherheitspolizei, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1992:B1199.1990

Dokumentnummer

JFT_10079390_90B01199_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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