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20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB);Norm
ABGB §1294;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde der E in O, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in R, gegen den Bescheid der Kärntner Landesregierung vom 30. März 1993, Zl. 13-SH-34.522/1993, betreffend Wiederaufnahme eines Verwaltungsverfahrens in Angelegenheit der Pflegebeihilfe nach dem Kärntner Sozialhilfegesetz, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Kärnten hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.830,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30. März 1993 wurde die der Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 9. Juni 1992 zuerkannte Pflegebeihilfe der Stufe II gemäß § 69 Abs. 3 AVG (Hervorkommen neuer Tatsachen oder Beweismittel) mit Wirkung ab 1. Juli 1992 auf Stufe I herabgesetzt. Begründend führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin übe eine Berufstätigkeit bei der KELAG aus, beziehe seit 1. Oktober 1984 eine Berufsunfähigkeitspension von der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten und stehe seit 1. Dezember 1986 im Bezug einer Pflegebeihilfe der Stufe I nach dem Kärntner Sozialhilfegesetz. Mit Bescheid des Landesinvalidenamtes für Kärnten vom 23. Oktober 1991 sei der Grad der Behinderung der Beschwerdeführerin mit 100 % festgestellt worden. Am 11. November 1991 habe die Beschwerdeführerin den Antrag auf Neueinstufung der Pflegebeihilfe eingebracht. Es habe keine Veränderung in der Einschätzung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin festgestellt werden können und sei ihr dazu Parteiengehör gewährt worden. Die Beschwerdeführerin habe daraufhin "entsprechende medizinische Befunde" vorgelegt. Nach Durchführung einer persönlichen Begutachtung am 4. Mai 1992 sei es der Landessanitätsdirektion als begutachtender Instanz für die Gewährung der Pflegebeihilfe möglich gewesen, eine Pflegebeihilfe der Stufe II zu empfehlen. Eine solche sei auch letztlich rückwirkend mit 1. Dezember 1991 zuerkannt worden.
Die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten habe mit Bescheid vom 24. Juli 1992 einen Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung eines Hilflosenzuschusses nach § 105a ASVG abgelehnt. Die Beschwerdeführerin habe dagegen Klage beim Arbeits- und Sozialgericht eingebracht. Gleichzeitig sei vorsorglich die Pflegebeihilfe der Stufe II mit Wirkung ab 1. Juli 1992 eingestellt worden, um das Ergebnis dieses Verfahrens abzuwarten. Die Beschwerdeführerin sei darauf aufmerksam gemacht worden, daß im Falle einer endgültigen Abweisung des Antrages auf Hilflosenzuschuß auch die Pflegebeihilfe der Stufe II nicht gerechtfertigt erscheine, weil die medizinischen Voraussetzungen für den Hilflosenzuschuß annähernd gleich seien wie für die Pflegebeihilfe der Stufe II. Zumindest könne die Stufe II der Pflegebeihilfe nach dem Kärntner Sozialhilfegesetz nicht unter medizinisch günstigeren Voraussetzungen als der Hilflosenzuschuß gewährt werden.
Mit Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Februar 1993 sei das Begehren der Beschwerdeführerin auf Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses endgültig abgewiesen worden. Das Gericht habe folgendes festgestellt:
"Erhebliche Bewegungseinschränkung des linken Schultergelenkes bei pathologischer Subluxation des linken Schultergelenkes und Oberarmverkürzung, chronisch wiederholte Kreuzschmerzen bei statischer Skoliose, pathologische Hüftluxation beidseits mit Arthrose beider Hüftgelenke und erheblicher Bewegungseinschränkung beider Hüftgelenke, ausgeprägte funktionelle Beinverkürzung links, Gangstörung. Diese Gesundheitsstörungen bedingen eine ausgeprägte statische und dynamische Minderbelastbarkeit des gesamten Stütz- und Bewegungsapparates, wobei die linke Schulter und beide Hüftgelenke als auch die Lendenwirbelsäule im Vordergrund stehen. Gegenüber der letzten orthopädischen Begutachtung aus Anlaß des vorerwähnten Verfahrens ist bei objektiv weitgehend identem Befund eine tendenzielle Zunahme der Schmerzsymptomatik zuzubilligen.
Die am 14.3.1959 geborene Klägerin benötigt Fremdhilfe bei umfangreicherer Reinigung der Wohnung (z.B. Bodenpflege, Staubsaugen, Fensterputzen), sämtlichen Arbeiten in exponierten Positionen (z.B. auf Leitern), Zubereiten von umfangreicheren Mahlzeiten und beim Abwaschen des anfallenden Geschirrs, beim Waschen und Bügeln der größeren Wäsche und bei differenzierterer Körperpflege (Pediküre, differenziertere Frisuren). Darüber hinaus besteht Selbständigkeit ohne die Notwendigkeit einer Fremdhilfe.
Diese Feststellungen stützen sich auf Befund und Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. Bernd Walther, Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie. Der Gutachter ist dem Gericht seit langem als erfahren und zuverlässig bekannt, seine Ausführungen sind logisch und schlüssig sowie nachvollziehbar. Es bestehen keinerlei Bedenken, die Ergebnisse des Gutachtens vollinhaltlich in die Feststellungen zu übernehmen."
Dieses Gutachten vom 15. Jänner 1993 sei dem Urteil angeschlossen gewesen.
In rechtlicher Hinsicht führte die belangte Behörde aus:
Als pflegebedürftig definiere § 28 Abs. 2 Kärntner Sozialhilfegesetz Personen, die für lebenswichtige, ständig wiederkehrende Verrichtungen ständig der Wartung oder der Hilfe oder ständig der Aufsicht bedürfen. Der im § 105a ASVG geregelte Begriff der Hilflosigkeit enthalte ebenfalls das Erfordernis nach Wartung und Hilfe. Aufgrund der seit 1976 bestehenden Stufenregelung der Pflegebeihilfe sei das Grundprinzip zu beachten, daß die Stufe II der Pflegebeihilfe nicht unter leichteren medizinischen Voraussetzungen erreicht werden könne als ein Hilflosenzuschuß. Würde dieses Prinzip nicht bestehen, wäre damit die Konsequenz gegeben, daß jeder, der den Hilflosenzuschuß nicht erreiche, ohne besondere Schwierigkeiten die Stufe II der Pflegebeihilfe erlangen könne. Immer dann, wenn ein Antrag auf Hilflosenzuschuß nach sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen abgewiesen werde, wohl aber ein gewisses Maß an Wartung oder Hilfe oder Aufsicht beim Pflegebedürftigen gegeben sei, könne höchstens die Stufe I der Pflegebeihilfe nach dem Kärntner Sozialhilfegesetz zuerkannt werden, niemals aber die Stufe II. Aus dem Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes gehe hervor, daß im wesentlichen nur die Voraussetzungen der Hilfe, nicht aber der Wartung (kumulativ) gegeben seien und daher sowohl für die Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses als letztlich auch für die Zuerkennung einer Pflegebeihilfe der Stufe II nach dem Kärntner Sozialhilfegesetz keine Grundlage bestehe. Der Umstand, daß die Landessanitätsdirektion als für die Einstufung der Pflegebeihilfe begutachtende Stelle des Amtes der Kärntner Landesregierung zu einem anderen Ergebnis als das Arbeits- und Sozialgericht gekommen sei, rechtfertige in keiner Weise die Aufrechterhaltung der bisher zuerkannten Pflegebeihilfe der Stufe II, weil die rechtskräftigen Feststellungen des Gerichtes für die Beurteilung der Pflegebeihilfe eine größere Relevanz besäßen. Seitens der belangten Behörde sei daher auf die nunmehrigen Neuerungen, welche sich durch das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes ergeben hätten, Bedacht zu nehmen und die Pflegebeihilfe rückwirkend ab 1. Juli 1992 von Stufe II auf Stufe I rückzustufen.
Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Nach dem Beschwerdevorbringen stelle weder der Bescheid der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 24. Juli 1992 noch das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Februar 1993 noch das in diesem Verfahren erstattete Sachverständigengutachten vom 15. Jänner 1993 einen gesetzlichen Wiederaufnahmsgrund dar.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten. Unter diesen Voraussetzungen kann die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden (§ 69 Abs. 3 AVG).
Tatsachen und Beweismittel können nur dann einen Grund für die Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG darstellen, wenn sie bei Abschluß des seinerzeitigen Verfahrens schon vorhanden gewesen sind, deren Verwertung der Partei aber ohne ihr Verschulden erst nachträglich möglich geworden ist, nicht aber wenn es sich um erst nach Abschluß des seinerzeitigen Verfahrens neu entstandene Tatsachen und Beweismittel handelt (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 4. Februar 1970, Zl. 1532/69, Slg. N.F. 7721/A).
Im Hinblick auf das Datum des Bescheides der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten vom 24. Juli 1992 und des Urteiles des Landesgerichtes Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Februar 1993 ergibt sich, daß dieser Bescheid und dieses Urteil bei Abschluß des Verfahrens auf Zuerkennung der Pflegebeihilfe der Stufe II mit Bescheid vom 9. Juni 1992 noch nicht vorhanden waren und schon deshalb (unabhängig davon, ob dieser Bescheid und das Urteil überhaupt neue Tatsachen oder Beweismittel sind) der sogenannte Neuerungstatbestand des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG nicht erfüllt ist. Ob das im Verfahren beim Landesgericht Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht eingeholte (ärztliche) Sachverständigengutachten, das ebenfalls nach Rechtskraft des Bescheides über die Zuerkennung der Pflegebeihilfe der Stufe II erstattet wurde, einen Wiederaufnahmsgrund darstellt, kann anhand des angefochtenen Bescheides nicht abschließend beurteilt werden. Dies aus folgenden Gründen: Ein Gutachten besteht aus einer sachverständigen Tatsachenfeststellung - der sogenannten Befundaufnahme - und aus sachverständigen Schlußfolgerungen unter Anwendung der jeweiligen Kunst oder Wissenschaft aus eben den festgestellten Tatsachen - dem Gutachten im engeren Sinn. Sollte ein Sachverständiger Tatsachen, die zur Zeit der Sachverhaltsverwirklichung im Hauptverfahren bereits bestanden, erst später feststellen oder sollten solche Tatsachen einem Sachverständigen erst später zur Kenntnis kommen, so könnten solche neuen Befundergebnisse - die sich ja auf seinerzeit bestandene Tatsachen beziehen müssen - durchaus einen Wiederaufnahmegrund darstellen, wenn die weiteren Voraussetzungen gegeben sind. Anders steht es mit den vom Sachverständigen gezogenen Schlußfolgerungen. Es stellt weder einen Wiederaufnahmegrund dar, wenn der bereits im Hauptverfahren vernommene Sachverständige später erklären sollte, sich bei seinen Schlußfolgerungen - ohne daß die Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Z. 1 AVG vorgelegen seien - geirrt zu haben und nunmehr zu neuen Schlußfolgerungen zu kommen, noch, wenn ein im Hauptverfahren nicht vernommener Sachverständiger aufgrund UNVERÄNDERTER Sachverhaltsgrundlage nunmehr zu anderen Schlüssen kommen sollte als der im Hauptverfahren vernommene Sachverständige (vgl. hiezu das hg. Erkenntnis vom 2. Juni 1982, Zl. 81/03/0151).
Ausgehend von dem unrichtig erkannten Begriff der neuen Tatsachen oder Beweismittel unterließ es die belangte Behörde, sich damit auseinanderzusetzen, ob das als Wiederaufnahmsgrund herangezogene, im Verfahren beim Landesgericht Klagenfurt erstellte Sachverständigengutachten bloß neue Schlußfolgerungen aus unveränderten Befundtatsachen bringt oder ob dadurch Tatsachen, die schon zur Zeit des Bescheides vom 9. Juni 1992 über die Gewährung der Pflegebeihilfe der Stufe II bestanden hatten, nach Abschluß dieses Verfahrens erstmals festgestellt wurden und daher für die belangte Behörde "neu" waren.
Sollte die belangte Behörde im fortgesetzten Verfahren solche "neue Tatsachen" feststellen, wird sie das Vorliegen der weiteren Voraussetzung für eine amtswegige Wiederaufnahme zu prüfen haben.
Nach § 69 Abs. 3 AVG kann die Wiederaufnahme des Verfahrens unter den Voraussetzungen des Abs. 1 auch von Amts wegen verfügt werden, wobei auch ein Verschulden der Behörde daran, daß die neuen Tatsachen nicht schon im abgeschlossenen Verfahren hervorgekommen sind, einer Wiederaufnahme des Verfahrens entgegensteht. Bei dem (auch bei der amtswegigen Wiederaufnahme beachtlichen) Verschulden im Sinne des § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG handelt es sich um ein Verschulden im Sinne des § 1294 ABGB. Ein solches Verschulden kann auch in einem Verfahrensmangel gelegen sein, der zur Folge hatte, daß die erst nachträglich hervorgekommene Tatsache nicht schon in dem abgeschlossenen Verfahren verwertet werden konnte (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Mai 1981, Slg. 10.465/A, mit weiteren Nachweisen).
Hätten "neue Tatsachen" im oben dargelegten Sinn allerdings schon im seinerzeitigen Verfahren durch eine ordnungsgemäße Begutachtung festgestellt werden können, stünde das seinerzeitige fehlerhafte Ermittlungsverfahren der Annahme einer unverschuldeten Unkenntnis einer Tatsache auf seiten der Behörde und damit der Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter Berufung auf § 69 Abs. 1 Z. 2 AVG entgegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. März 1983, Slg. 11.013/A, in Fortführung des hg. Erkenntnisses vom 2. Juni 1982, Zl. 81/03/0151).
Der Bescheid der belangten Behörde war wegen der aufgezeigten Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung
BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil ein Ersatz für Stempelgebühren nur insoweit gebührt, als solche im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu entrichten waren (für 2 Ausfertigungen der Beschwerde und 1 Ausfertigung des angefochtenen Bescheides).
Schlagworte
SachverständigengutachtenNeu hervorgekommene entstandene Beweise und Tatsachen nova reperta nova productaVerschuldenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1994:1993080123.X00Im RIS seit
20.11.2000Zuletzt aktualisiert am
05.07.2010