TE Vwgh Erkenntnis 1994/11/3 92/18/0042

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Veröffentlicht am 03.11.1994
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
19/05 Menschenrechte;
40/01 Verwaltungsverfahren;
60/02 Arbeitnehmerschutz;
60/03 Kollektives Arbeitsrecht;

Norm

AAV §81 Abs5;
ArbVG §34 Abs1;
ASchG 1972;
MRK Art7;
VStG §1;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Zeizinger und Dr. Graf als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der H in W, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 4. Dezember 1991, Zl. MA 63-P 3/91/Str., betreffend Bestrafung wegen einer Übertretung der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzverordnung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.890,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (der belangten Behörde) vom 4. Dezember 1991 wurde die Beschwerdeführerin einer Übertretung des § 81 Abs. 5 der Allgemeinen Arbeitnehmerschutzverordnung (AAV) schuldig erkannt, weil sie es als verantwortliche Beauftragte einer näher bezeichneten Gesellschaft zu verantworten habe, daß am 3. April 1990 in einer näher bezeichneten Filiale des Unternehmens bei sieben ständig beschäftigten Arbeitnehmern keine Person nachweislich für die Erste-Hilfe-Leistung ausgebildet gewesen sei. Über die Beschwerdeführerin wurde eine Geldstrafe (Ersatzfreiheitsstrafe) verhängt.

In der Begründung dieses Bescheides führte die belangte Behörde aus, der Einwand der Beschwerdeführerin, es seien nie mehr als vier Arbeitnehmer gleichzeitig in der Filiale tätig, sei nicht zielführend, weil die Verpflichtung, daß eine Person für die Erste-Hilfe-Leistung ausgebildet sein müsse, für Betriebe mit fünf bis zwanzig Arbeitnehmern bestehe und es dabei nicht auf die Anzahl der gleichzeitig anwesenden Arbeitnehmer ankomme. Auf die Anwesenheit der Arbeitnehmer nehme nur der letzte Satz des § 81 Abs. 5 AAV Bezug.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

1. § 81 Abs. 5 AAV hat folgenden Wortlaut:

"In Betrieben bis zu vier Arbeitnehmern sowie auf auswärtigen Arbeitsstellen bis zu 19 Arbeitnehmern soll eine Person für die erste Hilfeleistung nachweislich ausgebildet sein; in Betrieben mit fünf bis 20 Arbeitnehmern sowie auf auswärtigen Arbeitsstellen, auf denen regelmäßig 20 oder mehr Arbeitnehmer beschäftigt werden, muß mindestens eine Person diese Voraussetzungen erfüllen. In Betrieben mit mehr als 20 Arbeitnehmern oder mit besonderen Betriebsgefahren muß eine dem Umfang des Betriebes entsprechende Zahl von für die erste Hilfeleistung ausgebildeten Personen bestellt sein; in Handelsbetrieben, Banken, Versicherungsanstalten, anderen Verwaltungsstellen und sonstigen Bürobetrieben müssen mindestens 5 Prozent, in sonstigen Betrieben mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer für die erste Hilfeleistung ausgebildet sein. Während der Betriebszeit muß in jeder festen Betriebsstätte entsprechend der Anzahl der anwesenden Arbeitnehmer die erforderliche Anzahl ausgebildeter Personen anwesend sein."

2. Die Beschwerdeführerin wirft der belangten Behörde eine Verkennung der Rechtslage unter anderem deshalb vor, weil sie die genannte Filiale als Betrieb ansehe. § 81 Abs. 5 AAV stelle jedoch bei der Notwendigkeit der Ausbildung für die Erste-Hilfe-Leistung auf die Begriffe "Betrieb" und "auswärtige Arbeitsstelle" ab. Nur bei der Anwesenheitspflicht werde hingegen der Begriff der "festen Betriebsstätte" verwendet.

3. Die belangte Behörde vertritt in der Gegenschrift die Auffassung, unter "Betrieb" im Sinne des § 81 Abs. 5 AAV könne sinnvollerweise nur eine feste Betriebsstätte eines Unternehmens - im Beschwerdefall also die Filiale - verstanden werden. Würde unter Betrieb der Gesamtbetrieb des Unternehmens einschließlich der außerhalb seines Standortes gelegenen Arbeitsstellen verstanden werden, so wäre die gesonderte Regelung für auswärtige Arbeitsstellen überflüssig. Da § 81 Abs. 5 letzter Satz AAV vorschreibe, daß während der Betriebszeit in jeder festen Betriebsstätte entsprechend der Anzahl der anwesenden Arbeitnehmer die erforderliche Anzahl ausgebildeter Personen anwesend sein müsse, könne sich die einleitende Bestimmung des § 81 Abs. 5 AAV über die Zahl der für die Erste-Hilfe-Leistung nachweislich ausgebildeten Personen sinnvollerweise nur auf die Anzahl der in der festen Betriebsstätte beschäftigten Personen beziehen.

4.1. Bei der Beurteilung der zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens strittigen Rechtsfrage ist davon auszugehen, daß die AAV auf Grund der §§ 24 Abs. 1 bis 3 und 33 Abs. 1, 2 und 4 des Arbeitnehmerschutzgesetzes erlassen wurde. Es ist daher naheliegend, daß die in der AAV verwendeten Begriffe im selben Sinne zu verstehen sind wie im Arbeitnehmerschutzgesetz, zu dessen Durchführung diese Verordnung erlassen wurde.

4.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes orientiert sich der Betriebsbegriff des Arbeitnehmerschutzgesetzes grundsätzlich an der Definition des § 34 Abs. 1 Arbeitsverfassungsgesetz. Danach gilt als Betrieb jede Arbeitsstätte, die eine organisatorische Einheit bildet, innerhalb der eine physische oder juristische Person oder eine Personengemeinschaft mit technischen oder immateriellen Mitteln die Erzielung bestimmter Arbeitsergebnisse fortgesetzt verfolgt, ohne Rücksicht darauf, ob Erwerbsabsicht besteht oder nicht. Wesentliches Merkmal eines Betriebes im Sinne des Arbeitsverfassungsgesetzes ist die organisatorische Einheit, die in der Einheit des Betriebsinhabers, des Betriebszweckes und der Organisation zum Ausdruck kommen muß (siehe das hg. Erkenntnis vom 3. Dezember 1992, Zl. 92/18/0287, mwN).

Filialbetriebe sind nur dann eigene Betriebe, wenn sie - vom Arbeitsergebnis betrachtet - auch selbständig bestehen könnten. Sie müssen also ein Mindestmaß an Möglichkeiten haben, unabhängig von der Zentrale zu handeln, und zwar nicht nur in personellen und finanziellen Belangen, sondern auch hinsichtlich der in diesen Arbeitsstätten durchzuführenden Arbeitsvorgänge. Werden Buchhaltung, Warenbeschaffung, Festsetzung der Preise, Entlohnung der Beschäftigten, Personalaufnahme und Werbung für mehrere Filialen von der Zentrale durchgeführt, so kommt diesen Filialen keine Qualifikation eines Betriebes zu (vgl. Cerny, Arbeitsverfassungsgesetz8, Seite 124 f).

4.3. Zwischen den Partein des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist nicht strittig, daß die Filiale, für deren Bereich die Beschwerdeführerin zur verantwortlichen Beauftragten bestellt wurde, kein Betrieb im Sinne des Arbeitnehmerschutzgesetzes ist. Die belangte Behörde vertritt jedoch die Auffassung, daß unter dem in § 81 Abs. 5 AAV verwendeten Betriebsbegriff in berichtigender Auslegung eine feste Betriebsstätte zu verstehen sei.

Dieser Auffassung kann der Verwaltungsgerichtshof nicht beitreten. Abgesehen davon, daß im Verwaltungsstrafverfahren eine berichtigende Auslegung zum Nachteil des Beschuldigten an sich problematisch erscheint, ist im vorliegenden Fall für eine berichtigende Auslegung im Sinne der belangten Behörde schon deshalb kein Raum, weil keinerlei Grund für die Annahme vorhanden ist, der Wille des Verordnungsgebers sei in eine andere Richtung gegangen, als sie in der genannten Verordnungsstelle zum Ausdruck gekommen ist (vgl. zur berichtigenden Auslegung Antoniolli-Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht2, Seite 93 f). Im Gegensatz zur Auffassung der belangten Behörde gibt die zitierte Verordnungsstelle auch dann Sinn, wenn man den Betriebsbegriff im Sinne des Arbeitnehmerschutzgesetzes versteht. Die Verordnungsstelle sieht für Betriebe (im Sinne des Arbeitnehmerschutzgesetzes) ab einer bestimmten Zahl von Beschäftigten das Vorhandensein einer qualifizierten Person im Sinne der Verordnung vor, (darüberhinaus) für Arbeitsstellen ab einer bestimmten Beschäftigtenzahl. Es besteht daher kein zwingender Grund für die Annahme, der Verordnungsgeber habe die Begriffe "Betrieb" und "feste Betriebsstätte" in derselben Verordnungsstelle synonym verwendet. War daher die Filiale, für deren Bereich die Beschwerdeführerin zur verantwortlichen Beauftragten bestellt wurde, kein Betrieb, bestand auch keine Verpflichtung, daß bei sieben Arbeitnehmern dieser Filiale eine bestimmte Person für die Erste-Hilfe-Leistung nachweislich ausgebildet seien müsse.

Ein Verstoß gegen den letzten Satz des § 81 Abs. 5 AAV wurde der Beschwerdeführerin nicht angelastet.

5. Aus den unter Punkt 4.3. dargelegten Gründen hat die belangte Behörde ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Von der von der Beschwerdeführerin beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1994:1992180042.X00

Im RIS seit

11.07.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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