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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
AVG §39 Abs2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Germ, Dr. Höß, Dr. Riedinger und Dr. Waldstätten als Richter, im Beisein der Schriftführerin Kommissär Mag. Unterer, über die Beschwerde der NN in W, vertreten durch Dr. S, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 29. April 1994, Zl. 124.643/10-II/2/94, betreffend Anrechnung von Zeiten für die Ruhegenußbemessung gemäß § 9 Abs. 1 des Pensionsgesetzes 1965, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.630,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die 1962 geborene Beschwerdeführerin befand sich als Kontrollorin bis zum September 1993 in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund. Ihre Dienststelle war die Bundespolizeidirektion Wien.
Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien (Dienstbehörde erster Instanz) vom 23. August 1993 wurde sie gemäß § 14 Abs. 1 Z. 1 BDG 1979 in den Ruhestand versetzt. Die Dienstbehörde stützte sich dabei auf die Feststellungen im polizeichefärztlichen Gutachten vom 10. August 1993.
In diesem Gutachten führte der Amtssachverständige aus, die Beschwerdeführerin gebe an, ständig zu erbrechen und sehr häufig an Durchfall zu leiden. Die behandelnden Ärzte hätten dies auf einen chronischen Virusinfekt nach Gallenblasenoperation zurückgeführt. Trotz Behandlung mit "Prepulsid" sei keine Besserung eingetreten. Die gynäkologischen Beschwerden seien abgeklungen.
Im Zuge des von der Dienstbehörde erster Instanz angeregten Verfahrens nach § 9 Abs. 1 des Pensionsgesetzes 1965 (PG) - einen entsprechenden Antrag hat die Beschwerdeführerin selbst erst mit Schreiben vom 13. April 1994 gestellt - unterzog sich die Beschwerdeführerin einer stationären Untersuchung in der Universitätsklinik für Innere Medizin IV des AKH in der Zeit vom 22. bis 26. November 1993. Im Gutachten der Klinik vom 3. März 1994 berief sich der Gutachter auf ein Ersuchen des chefärztlichen Dienstes der Dienstbehörde erster Instanz vom 18. Oktober 1993, die Frage zu klären, ob bei der Beschwerdeführerin "ein chronischer Virusinfekt bei Zustand nach Gallenblasenoperation bestehe, welcher häufigen Durchfall verursacht. Insbesondere solle der Frage nachgegangen werden, ob es sich dabei um ein dauerndes Leiden handle und ob dadurch eine Berufsunfähigkeit gegeben sei". Unter Angabe der Vorbefunde sowie der in der Klinik durchgeführten Untersuchungen (insbesondere Blutbefunde, Röntgen, Ultraschalluntersuchung, serologische Untersuchungen, Recto-Coloskopie, Gastroskopie, Stuhluntersuchungen usw.) kam das Gutachten zu folgender "Zusammenfassung und Schlußfolgerung":
"Bei der Patientin besteht bei St.p. Cholecystektomie kein faßbarer Virusinfekt und auch kein dadurch bedingter Durchfall. Durch die von der Patientin angegebenen Beschwerden, für die kein organisches Substrat nachgewiesen werden konnte, ist eine Berufsunfähigkeit nicht gegeben. Das beklagte Beschwerdebild könnte am ehesten im Sinne eines Irritablen Darm-Syndroms interpretiert werden. Dies ist ein harmloser, wenngleich subjektiv störend und lästig empfundener Zustand, der ursächlich nicht mit der Tatsache des Zustandes nach Cholecystektomie zusammenhängt. Jedenfalls wird dadurch keine Berufsunfähigkeit bedingt."
Zu dem ihr in Wahrung des Parteiengehörs übermittelten Klinikgutachten nahm die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 17. April 1994 Stellung, in dem sie auf ihrer Auffassung nach bestehende Ungereimtheiten und auch auf die zu ihrer Pensionierung führenden Leidenszustände hinwies.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 29. April 1994 wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin vom 13. April 1994 auf Zurechnung von Jahren gemäß § 9 Abs. 1 PG ab. Sie setzte sich in der Begründung nach Hinweisen auf den Ruhestandsversetzungsbescheid der Dienstbehörde erster Instanz, das polizeichefärztliche Gutachten vom 10. August 1993, das sie für die eindeutige Beurteilung der von ihr zu lösenden Frage, ob die Beschwerdeführerin zu einem zumutbaren Erwerb unfähig sei, nicht als taugliches Beweismittel angesehen hatte und die Zusammenfassung des Klinikgutachtens mit den Einwendungen der Beschwerdeführerin vom 17. April 1994 auseinander, die sie als nicht geeignet bezeichnete, den medizinisch-wissenschaftlichen Sachverständigenbeweis in seiner Aussagekraft zu erschüttern. Auf Grund der zitierten Sachverständigenbeweise, insbesondere unter Bedachtnahme auf das Universitätsklinikgutachten, nehme es die belangte Behörde als erwiesen an, daß die Beschwerdeführerin zu einem zumutbaren Erwerb fähig sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, in der Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
§ 9 Abs. 1 des Pensionsgesetzes 1965 in der Fassung der 8. Pensionsgesetz-Novelle, BGBl. Nr. 426/1985, lautet:
"(1) Ist der Beamte ohne sein vorsätzliches Verschulden zu einem zumutbaren Erwerb unfähig geworden, so hat ihm seine oberste Dienstbehörde aus Anlaß der Versetzung in den Ruhestand den Zeitraum, der für die Erlangung des Ruhegenusses im Ausmaß der Ruhegenußbemessungsgrundlage erforderlich ist, höchstens jedoch zehn Jahre, zu seiner ruhegenußfähigen Bundesdienstzeit zuzurechnen."
Gemäß § 36 Abs. 1 PG hat die Dienstbehörde, soweit die Beurteilung eines Rechtsbegriffes von der Beantwortung von Fragen abhängt, die in das Gebiet ärztlichen Fachwissens fallen, durch ärztliche Sachverständige Beweis zu erheben.
Die Beschwerdeführerin erachtet sich in ihrem Recht auf Zurechnung von Jahren nach § 9 Abs. 1 PG verletzt. Unter dem Gesichtspunkt einer Rechtswidrigkeit des Inhaltes bzw. einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften bringt sie im wesentlichen vor, die entscheidungswesentliche Frage, ob sie zu einem zumutbaren Erwerb unfähig geworden sei oder nicht, sei eine Rechtsfrage und daher nicht vom ärztlichen Gutachter zu klären. Daher sei schon die Aufgabenstellung an die Universitätsklinik, auf deren Gutachten sich die belangte Behörde stütze, rechtswidrig gewesen. Die belangte Behörde könne sich auch nicht auf ein schlüssiges, alle fachlichen Zweifel in überzeugender Weise behebendes ärztliches Gutachten berufen: Es sei nämlich unterlassen worden, die eklatanten Widersprüche zwischen dem polizeiärztlichen Gutachten vom 10. August 1993, das der Beschwerdeführerin dauernde Dienstunfähigkeit attestiert habe, und dem Klinikgutachten vom 3. März 1994, das jede Berufsunfähigkeit (wenn auch unzulässig) verneint habe, aufzuklären bzw. darüber ergänzende Beweisaufnahmen vorzunehmen. Durch die Unterlassung der Einholung eines berufskundlichen Gutachtens sei auch nicht hinreichend geklärt worden, welche zumutbare Erwerbstätigkeit der Beschwerdeführerin (trotz festgestellter Dienstunfähigkeit) weiter in Frage käme.
Die Beschwerde ist im Ergebnis berechtigt.
Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung zu § 9 Abs. 1 PG die Auffassung, daß die Behörde die in einem Verfahren nach der genannten Gesetzesstelle entscheidende Rechtsfrage (vgl. z.B. Erkenntnis vom 20. September 1988, Zl. 88/12/0022), ob der Beamte noch "zu einem zumutbaren Erwerb" fähig ist, nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Versetzung des Beamten in den Ruhestand zu lösen hat (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom 22. Juni 1987, Zl. 87/12/0033, und vom 29. Februar 1988, Zl. 87/12/0170); hiebei hat sie zunächst auf der Grundlage eines mängelfreien und schlüssigen ärztlichen Gutachtens die Frage zu beantworten, ob der Beamte überhaupt noch zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit befähigt ist; bejahendenfalls hat sie sodann auf der Grundlage dieses sowie eines mängelfreien und schlüssigen berufskundlichen Gutachtens die Frage zu klären, ob dem Beamten jene Erwerbstätigkeiten, die er nach seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit vom medizinischen Standpunkt aus noch auszuüben vermag, zugemutet werden können; letzteres ist dann der Fall, wenn diese Tätigkeiten ihrer sozialen Geltung nach der früheren Beschäftigung, der dienstlichen Stellung und der Fortbildung des Beamten annähernd gleichkommen und wenn die Aufnahme solcher Tätigkeiten vom Beamten auch nach seinen sonstigen persönlichen Lebensumständen billigerweise erwartet werden kann (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom 23. Oktober 1987, Zl. 86/12/0115, vom 18. Jänner 1988, Zl. 87/12/0123, und vom 20. September 1988, Zl. 86/12/0114, Zl. 88/12/0021 und Zl. 88/12/0022, jeweils mit weiteren Judikaturhinweisen). Ob dem Beamten eine solche Beschäftigung, die an sich Gegenstand des allgemeinen Arbeitsmarktes ist, tatsächlich vermittelt werden kann, ist für die abstrakt vorzunehmende Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ohne Bedeutung (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom 20. September 1988, Zl. 88/12/0022, und vom 23. April 1990, Zl. 89/12/0103). In einem dem Standpunkt des Beamten nicht vollinhaltlich Rechnung tragenden Bescheid nach § 9 Abs. 1 PG hat die Behörde entsprechend den §§ 58 Abs. 2, 60 AVG und § 1 DVG in einer sowohl die Wahrnehmung der Rechte durch den Beamten als auch die nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof ermöglichenden Art und Weise die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen (vgl. dazu das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Februar 1992, Zl. 90/12/0140, sowie vom 8. Juni 1994, Zl. 93/12/0150).
Das im Beschwerdefall durchgeführte Verfahren wird diesen Anforderungen nicht gerecht.
Zwar lassen entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sowohl der Auftrag an die Universitätsklinik als auch das Klinikgutachten trotz mißverständlicher Formulierungen die Deutung zu, daß die beauftragte Stelle ihren Aufgabenbereich (Feststellung der Fähigkeit der Beschwerdeführerin zur Ausübung der Erwerbstätigkeit aus medizinischer Sicht) nicht überschritten hat. Völlig offen bleibt jedoch, ob sich das Klinikgutachten, auf das sich die belangte Behörde in erster Linie stützt, auf den für die Zurechnung maßgebenden Zeitpunkt der Ruhestandsversetzung der Beschwerdeführerin bezieht oder nicht. Insbesondere ist nicht erkennbar, ob dieses Gutachten aus den in der Zeit vom 22. bis 26. November 1993 durchgeführten klinischen Untersuchungen (in Verbindung mit den Vorbefunden) einen Rückschluß auf die Verhältnisse zum maßgeblichen Zeitpunkt zieht oder sich die Aussagen in den Schlußfolgerungen auf die Situation zum Zeitpunkt der klinischen Untersuchungen und in der Folge beziehen.
Ausschlaggebend ist jedoch folgendes: Zwar hat das Klinikgutachten medizinisch schlüssig dargelegt, daß für die von der Beschwerdeführerin angegebenen Beschwerden "kein organisches Substrat" nachweisbar sei. Es hat jedoch offengelassen, ob das "beklagte Beschwerdebild" existiert, hat dieses (hypothetisch) "am ehesten im Sinne eines irritablen Darm-Syndroms interpretiert" und als subjektiv störend und lästig empfundenen Zustand gewertet. Bei dieser Sachlage kann aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden, daß die von der Beschwerdeführerin angeführten Beschwerden (Erbrechen; Durchfall) auf psychischen Ursachen beruhen, ein (medizinischer) Zusammenhang zwischen der mit jeder Erwerbstätigkeit verbundenen psychischen Anforderung und der Häufigkeit des Auftretens der angeführten Beschwerden besteht und ob eine derartige Auswirkung zu einer begrenzten Einsatzfähigkeit der Beschwerdeführerin aus medizinischer Sicht führen könnte oder nicht. Sollte sich eine eingeschränkte Erwerbsfähigkeit ergeben, wird sich die Einholung eines berufskundlichen Sachverständigengutachtens als erforderlich erweisen, sofern nicht aus anderen Umständen im Einzelfall (wie z. B. einer tatsächlich ausgeübten Erwerbstätigkeit - siehe dazu das hg. Erkenntnis vom 8. Juni 1994, Zl. 93/12/0150) verläßliche Rückschlüsse für den rechtserheblichen Sachverhalt gewonnen werden können.
Da aber schon die für den Ausgang des Verfahrens rechtserheblichen medizinisch zu beurteilenden Tatsachen nicht ausreichend klargestellt wurden, leiden Verfahren und Bescheid der belangten Behörde an Mängeln, die gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften führen mußten. Abschließend wird darauf hingewiesen, daß der Begriff der "Dienstunfähigkeit" im Sinne des § 14 Abs. 3 BDG 1979 und der Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 PG nicht deckungsgleich sind. Erwerbsfähigkeit nach dem allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet, in der Lage zu sein, durch eigene Arbeit einen wesentlichen Beitrag zum Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Fähigkeit ist abstrakt zu beurteilen; es kommt aber darauf an, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Einsatzfähigkeit für bestimmte Tätigkeiten vorliegen. Hiebei ist auch zu berücksichtigen, ob die Einsatzfähigkeit auch im Hinblick auf die üblichen Erfordernisse in der Arbeitswelt (z.B. Einhaltung der Arbeitszeit oder Fähigkeit zur Selbstorganisation) gegeben ist (vgl. dazu das bereits zitierte Erkenntnis vom 8. Juni 1994, Zl. 93/12/0150).
Dagegen liegt Dienstunfähigkeit nach § 14 Abs. 3 BDG 1979 dann vor, wenn der Beamte infolge seiner körperlichen oder geistigen Verfassung seine dienstlichen Aufgaben nicht erfüllen und ihm im Wirkungsbereich seiner Dienstbehörde kein mindestens gleichwertiger Arbeitsplatz zugewiesen werden kann, dessen Aufgaben er nach seiner körperlichen und geistigen Verfassung zu erfüllen imstande ist und der ihm mit Rücksicht auf seine persönlichen, familiären und sozialen Verhältnisse billigerweise zugemutet werden kann.
Es folgt daher allein aus der Tatsache der von Amts wegen erfolgten Versetzung in den Ruhestand, und zwar auch im Falle der dauernden Dienstunfähigkeit im Sinne des § 14 Abs. 1 Z. 1 in Verbindung mit Abs. 3 BDG 1979 nicht notwendig, daß deshalb die Unfähigkeit zu einem zumutbaren Erwerb im Sinne des § 9 Abs. 1 PG gegeben sein muß. Dies enthebt die Behörde allerdings nicht von der Verpflichtung medizinische Gutachten, die im Ruhestandsversetzungsverfahren herangezogen wurden, auch im Verfahren nach § 9 Abs. 1 PG zu berücksichtigen und die dort festgestellten Leidenszustände (sofern sie medizinisch fundiert sind) in ihre Überlegungen miteinzubeziehen.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47, 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 und 59 VwGG in Verbindung mit der Pauschalierungsverordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994.
Schlagworte
Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7 Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7 Dienstunfähigkeit Gutachten Verwertung aus anderen Verfahren Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung ArztEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1994:1994120162.X00Im RIS seit
11.07.2001