Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung; Fehlen eines inländischen Wohnsitzes keine Rechtfertigung für FluchtverdachtSpruch
Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er von Organen der Bundespolizeidirektion Wien am 4. Mai 1990 um 19.15 Uhr in Wien festgenommen und bis 23.10 Uhr angehalten worden ist, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 15.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer, ein in der BRD wohnhafter deutscher Staatsangehöriger, bringt in der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde gegen die Bundespolizeidirektion Wien - sinngemäß auf das Wesentliche zusammengefaßt - vor, daß er am 4. Mai 1990 als Lenker eines Pkw im Stadtgebiet von Wien auf der A 23 von einem Beamten der Bundespolizeidirektion Wien aufgehalten worden sei. Der Beamte habe ihm die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorgehalten und ihn, nachdem seine Identität festgestellt worden war und er den Erlag einer vorläufigen Sicherheit von 1.000 S abgelehnt hatte, um 19.15 Uhr festgenommen. Anschließend sei er zum Bezirkspolizeikommissariat Favoriten gebracht und dort bis 23.10 Uhr angehalten worden.
Der Beschwerdeführer begehrt die Feststellung, daß er durch die Festnahme und anschließende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
2. Die Finanzprokuratur legte namens der belangten Bundespolizeidirektion Wien den bezughabenden Verwaltungsakt vor und teilte mit, daß von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen wird.
II. Im Hinblick auf die in allen wesentlichen Belangen übereinstimmenden Angaben in der Beschwerde und im vorgelegten Verwaltungsakt steht die vom Beschwerdeführer geschilderte Festnahme und weitere Anhaltung nach seiner Überstellung in das Bezirkspolizeikommissariat Favoriten ebenso fest wie der Umstand, daß der gegen ihn einschreitende Beamte vor der Festnahme die Identität des Beschwerdeführers (einschließlich seiner Wohnadresse in der BRD) festgestellt und erfolglos den Erlag einer vorläufigen Sicherheit von 1.000 S verlangt hatte. Laut der Anzeige (in der die Festnahme auf den Festnehmungsgrund des §35 litb VStG gestützt wird) gab der Beschwerdeführer an, daß er in Österreich keinen Wohnsitz habe und das Bundesgebiet noch am selben Tag verlassen werde; den Erlag der verlangten vorläufigen Sicherheit lehnte der Beschwerdeführer mit der Begründung ab, daß er kein Geld (anscheinend gemeint: kein Bargeld in österreichischer Währung) bei sich habe, er werde (auch) deshalb nicht bezahlen, "da man ihn sowieso nicht verfolgen könne".
III. 1. In rechtlicher Hinsicht geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, daß die gegen die Festnahme und Anhaltung am 4. Mai 1990 als Akt der unmittelbaren verwaltungsbehördlichen Befehls- und Zwangsgewalt gerichtete Beschwerde zulässig ist, da sämtliche Prozeßvoraussetzungen gegeben sind (zur Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes s. ArtIX Abs2 - iVm ArtX Abs1 Z1 - der B-VG-Novelle 1988, BGBl. 685, demzufolge am 1. Jänner 1991 anhängige Verfahren nach der bisherigen Rechtslage - d.i. jene bis Ablauf des 31. Dezember 1990 - zu Ende zu führen sind).
2. Die Beschwerde ist auch gerechtfertigt.
Im Lichte der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes lagen die im §4 des (im vorliegenden Fall maßgeblichen - siehe Art8 Abs4 des BVG BGBl. 864/1988) Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, bezogenen gesetzlichen Voraussetzungen für eine Festnahme nicht vor. Der gemäß §35 litb VStG für die Zulässigkeit einer Festnahme erforderliche begründete Verdacht, daß sich der Betretene der Strafverfolgung zu entziehen suchen werde, kann nicht allein durch das Fehlen eines inländischen Wohnsitzes gerechtfertigt werden. Auch die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Betretene bald an seinen ausländischen Wohnort begeben werde, läßt lediglich den Schluß auf zu erwartende objektive Schwierigkeiten bei der Strafverfolgung zu (VfSlg. 3154/1957, 7060/1973, 9916/1984, 11335/1987 m.w.N.). Der erwähnte Verdacht muß vielmehr auf konkrete Umstände zurückgeführt werden können, die erfahrungsgemäß annehmen lassen, daß der Betretene sich der Strafverfolgung tatsächlich zu entziehen suchen werde (VfSlg. 3154/1957). Wie der Gerichtshof ebenfalls schon ausgesprochen hat, wird der Verdacht, sich einer drohenden Strafverfolgung entziehen zu wollen, auch nicht durch einen (sogar in provozierender Weise geäußerten, aber) den Tatsachen entsprechenden Hinweis begründet, daß bei einer Strafverfolgung wegen einer Verwaltungsübertretung bei im Ausland wohnhaften Tätern objektive Schwierigkeiten bestehen (VfSlg. 7060/1973); dies trifft auch im vorliegenden Fall zu, wenn man - der Darstellung des Hergangs in der Anzeige folgend - annimmt, daß der Beschwerdeführer (im Zusammenhang mit seiner Weigerung, eine vorläufige Sicherheit zu leisten) mit Beziehung auf seinen Wohnsitz im Ausland bemerkte, "man (könne) ihn sowieso nicht verfolgen ...".
Da sohin der Festnahmegrund des §35 litb VStG nicht gegeben war, ist auch die darauffolgende Anhaltung gesetzwidrig.
Der Beschwerdeführer wurde somit durch seine Festnehmung und anschließende Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
4. Die Kostenentscheidung fußt auf §88 VerfGG 1953. Vom zugesprochenen Betrag entfallen 2.500 S auf die Umsatzsteuer. Da die Organe der belangten Behörde im Kompetenzbereich des Landes Wien einschritten, war dieses zum Kostenersatz zu verpflichten (vgl. VfSlg. 11527/1987).
IV. Von einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG abgesehen.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, FestnehmungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1992:B738.1990Dokumentnummer
JFT_10079378_90B00738_00