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41 Innere AngelegenheitenNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes über eine FremdeSpruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 15.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1.1. Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, beantragte am 28. März 1990 bei der österreichischen Botschaft in Ankara die Ausstellung eines Sichtvermerkes zur Einreise nach Österreich gemäß §25 PaßG. Als Reisezweck gab sie einen Besuch bei ihrer Schwester, als beantragte Gültigkeitsdauer drei Monate an.
Am selben Tag erteilte ihr die Botschaft einen Sichtvermerk für die einmalige Einreise nach Österreich und für einen anschließenden Aufenthalt bis 28. Juni 1990. Am 30. März 1990 reiste die Beschwerdeführerin nach Österreich ein und nahm in der Folge Unterkunft in der Wohnung ihrer Schwester und deren Ehemannes in Hard (politischer Bezirk Bregenz).
1.1.1.2. Mit Schreiben vom 13. Juli 1990 (bei der Bezirkshauptmannschaft Bregenz am 16. Juli 1990 eingegangen) stellte ihr Schwager (in den Akten des Verwaltungsverfahrens mitunter irrtümlich als Bruder bezeichnet) den Antrag an die Bezirkshauptmannschaft Bregenz, der Beschwerdeführerin einen Sichtvermerk zunächst für ein Jahr zu erteilen. Er gab an, die Beschwerdeführerin hätte nach den Gepflogenheiten ihrer kurdischen Heimat als Braut "verkauft" werden sollen; dem habe sie sich durch Flucht ins Ausland entzogen. Sie suche Arbeit und könne bei ihrem Schwager wohnen, der auch für ihre Lebenshaltungskosten aufkomme.
Die Bezirkshauptmannschaft Bregenz führte Erhebungen über die Wohnverhältnisse durch, erledigte aber - nach der Aktenlage - den Antrag bisher nicht. Vielmehr teilte sie dem Rechtsfreund des Antragstellers mit Schreiben vom 5. Feber 1991 mit, sie beabsichtige, der Beschwerdeführerin keinen Sichtvermerk auszustellen, weil diese am 28. März 1990 auf der österreichischen Botschaft in Ankara folgende Erklärung habe "unterfertigen müssen":
"Ich erkläre, daß ich nur zu dem Zweck und für jene Dauer, wie ich in meinem gleichzeitig abgegebenen Sichtvermerksantrag angegeben habe, nach Österreich reisen werde."
1.1.2. Mit Bescheid vom 8. März 1991 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Bregenz über die Beschwerdeführerin ein Aufenthaltsverbot gemäß §3 Abs1 und 2 Z6 und Abs3 FrPolG, BGBl. 75/1954 idF BGBl. 21/1991, für das österreichische Bundesgebiet, befristet bis zum 30. Juni 1995.
1.1.3. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg gab mit Bescheid vom 15. Juli 1991 der dagegen gerichteten Berufung keine Folge. Sie führte aus, die Angaben der Beschwerdeführerin im Sichtvermerksantrag an die österreichische Botschaft in Ankara seien insofern unrichtig gewesen, als "der eigentliche Zweck" ihrer Reise nicht der Besuch ihrer Schwester, sondern die Flucht aus der Türkei gewesen sei, um sich einem "Brautverkauf" zu entziehen. Auch die beabsichtigte Aufenthaltsdauer von drei Monaten sei unrichtig angegeben worden, weil das Auflösen eines solchen "Verkaufsvertrages" in ihrer Heimat verpönt sei und die Beschwerdeführerin daher mit einem längeren Aufenthalt in Österreich habe rechnen müssen. Sie habe somit vor der österreichischen Vertretungsbehörde in Ankara unrichtige Angaben über den Zweck und die beabsichtigte Dauer ihres Aufenthaltes gemacht, um die Einreise zu ermöglichen. Im Rahmen der Interessenabwägung gemäß §3 Abs3 FrPolG kam die Sicherheitsdirektion zum Schluß, daß die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes unverhältnismäßig schwerer wögen als seine Auswirkungen auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin.
1.2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) und die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.
Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg als belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, verzichtete aber darauf, eine Gegenschrift zu erstatten.
1.3. §3 Abs1 und Abs2 Z6 FrPolG lautet im Zusammenhang:
"(1) Gegen einen Fremden kann ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sein Aufenthalt im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen in Art8 Abs2 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. Nr. 210/1958, genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.
(2) Als bestimmte Tatsache im Sinne des Abs1 hat insbesondere zu gelten, wenn ein Fremder . . .
6. gegenüber einer österreichischen Behörde oder ihren Organen unrichtige Angaben über seine Person, seine persönlichen Verhältnisse, den Zweck oder die beabsichtigte Dauer seines Aufenthaltes gemacht hat, um sich die Einreise oder die Aufenthaltsberechtigung gemäß §2 Abs1 zu verschaffen; . . ."
2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
2.1. Die Beschwerdeführerin erachtet sich durch die Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt, nämlich durch die Anwendung des Erlasses des Bundesministers für Inneres vom 11. Feber 1990, Z73.540/49-III/12/90, den der angefochtene Bescheid zwar nicht ausdrücklich zitiere, auf den er aber offensichtlich gestützt sei. Dieser Erlaß sei als Verordnung iSd Art139 B-VG zu qualifizieren; er sei vom Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 15. Juni 1991, V603/90 ua., als gesetzwidrig aufgehoben worden. Der Verfassungsgerichtshof habe zwar für das Außerkrafttreten dieses Erlasses eine Frist bis zum 30. November 1991 gesetzt; der angefochtene Bescheid sei dennoch mit Rechtswidrigkeit belastet, weil er in das durch Art8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreife und weil ein solcher Eingriff gemäß Art8 Abs2 EMRK nur statthaft sei, insoweit er gesetzlich vorgesehen ist. Diesem Rechtmäßigkeitsstandard ("gesetzlich") entspreche der Erlaß gerade nicht.
Damit ist aber nicht dargetan, daß die Beschwerdeführerin durch Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung in ihren Rechten verletzt wurde: Der Verfassungsgerichtshof hat zwar mit Erk. vom 15. Juni 1991, V603/90 ua., den erwähnten Erlaß als gesetzwidrig aufgehoben; er hat jedoch gemäß Art139 Abs5 B-VG verfügt, daß die Aufhebung erst mit Ablauf des 30. November 1991 in Kraft tritt. Der zitierte Erlaß ist daher - mit Ausnahme der Anlaßfälle jenes Erk. (die vorliegende Beschwerde betrifft keinen Anlaßfall, sondern langte erst am 18. September 1991 beim Verfassungsgerichtshof ein) - gemäß Art139 Abs6 B-VG auch auf die vor diesem Zeitpunkt konkretisierten Sachverhalte weiterhin anzuwenden und wurde verfassungsrechtlich unangreifbar (vgl. VfSlg. 8026/1977, 8508/1979, 10075/1984). Bei diesem Ergebnis kann unerörtert bleiben, ob der Erlaß auf die Beschwerdeführerin überhaupt angewandt wurde oder anzuwenden war. Eine Verletzung in Rechten wegen Anwendung dieser Verordnung ist jedenfalls ausgeschlossen.
2.2.1. Die Beschwerde behauptet weiters, der angefochtene Bescheid verletze die Beschwerdeführerin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK).
Dies wäre nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 11638/1988, 11857/1988, 11982/1989; VfGH 27.11.1991 B42/91) dann der Fall, wenn der Bescheid, der - wie hier - den Eingriff verfügt, ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, wenn er auf einer gegen Art8 EMRK verstoßenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn die Behörde bei seiner Erlassung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewandt hätte; ein solcher Fall läge vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hätte, daß er mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewandten Vorschrift fälschlich einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 EMRK widersprechenden Inhalt unterstellt hätte.
2.2.2.1. Die Beschwerdeführerin behauptet nicht, daß §3 FrPolG verfassungswidrig sei; auch der Verfassungsgerichtshof hat - aus der Sicht dieses Beschwerdefalles - keine Bedenken gegen §3 FrPolG (vgl. VfSlg. 11857/1988, 11982/1989).
2.2.2.2. Der belangten Behörde ist jedoch ein den Art8 EMRK verletzender Vollzugsfehler anzulasten. Die Beschwerdeführerin gab vor der österreichischen Botschaft in Ankara als Zweck ihres Aufenthaltes einen Besuch bei ihrer Schwester an; nach der Aktenlage steht fest, daß sie ihre Schwester dann tatsächlich in Österreich besucht hat. Dies ist auch zwischen den Parteien des verfassungsgerichtlichen Verfahrens nicht strittig. Die Behörde ging also nicht etwa davon aus, daß die Beschwerdeführerin gar nicht beabsichtigt hätte, ihre Schwester zu besuchen. Sie meinte vielmehr, der "eigentliche Zweck" des Aufenthaltes sei die Flucht aus der Türkei gewesen. Damit verwechselte sie aber den Zweck des Aufenthaltes mit dem Motiv des Besuches und wandte §3 Abs2 Z6 FrPolG denkunmöglich an.
Dies gilt auch für die beabsichtigte Aufenthaltsdauer, welche die Beschwerdeführerin vor der Botschaft angegeben hatte: Sie führte im Verwaltungsverfahren aus, sie hätte in ihrer Heimat als Braut "verkauft" werden sollen. Sie sei zu ihren in Österreich lebenden Verwandten gefahren, um ihre persönliche Situation mit ihnen zu beraten. Dabei sei sie zu dem Schluß gekommen, daß ein weiterer Aufenthalt in Österreich die einzige Möglichkeit sei, die bereits beschlossene Heirat mit einem ihr fremden Mann zu verhindern. Dazu habe sie sich aber erst entschlossen, als die Bemühungen ihrer Verwandten, ihre Familie in der Heimat von dem geplanten "Brautverkauf" abzubringen, gescheitert seien.
Die belangte Behörde folgt der Beschwerdeführerin - deren Sichtvermerksantrag unerledigt blieb (sh. 1.1.1.2.) - darin, daß sie als Braut hätte "verkauft" werden sollen. Sie folgt aber der weiteren, widerspruchsfreien Darstellung der Beschwerdeführerin nicht, sondern nimmt, ohne dafür einen Grund anzugeben und ohne auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin in der Berufungsschrift einzugehen, an, die Beschwerdeführerin habe von vornherein beabsichtigt, länger in Österreich zu bleiben und daher unrichtige Angaben über die beabsichtigte Aufenthaltsdauer gemacht. Auch insoweit wandte sie damit §3 Abs2 Z6 FrPolG denkunmöglich an und belastete den Bescheid mit Verfassungswidrigkeit.
2.3. Die Beschwerdeführerin wurde durch den angefochtenen Bescheid sohin in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Der Bescheid war aufzuheben.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Betrag sind 2.500 S an Umsatzsteuer enthalten.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z2 VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Fremdenpolizei, AufenthaltsverbotEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1992:B1048.1991Dokumentnummer
JFT_10078870_91B01048_00