Entscheidungsdatum
16.09.2024Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W227 2273891-1/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde des syrischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22. April 2023, Zl. 1287850701/211599318, nach einer mündlichen Verhandlung am 23. Juli 2024, zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde des syrischen Staatsangehörigen römisch 40 , geboren am römisch 40 , gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 22. April 2023, Zl. 1287850701/211599318, nach einer mündlichen Verhandlung am 23. Juli 2024, zu Recht:
A)
Der Beschwerde von XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG stattgegeben und XXXX wird der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Der Beschwerde von römisch 40 wird gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG stattgegeben und römisch 40 wird der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG wird festgestellt, dass römisch 40 kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgangrömisch eins. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer, ein syrischer Staatsangehöriger sunnitisch-muslimischen Glaubens und Angehöriger der arabischen Volksgruppe, stellte am 25. Oktober 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei seiner Erstbefragung am 26. Oktober 2021 brachte er als Fluchtgrund vor, dass in Syrien Krieg herrsche. Das Regime, die Kurden und die FSA würden die jungen Männer schlecht behandeln. In Syrien gebe es keine Sicherheit. Aufgrund des Krieges habe er kein Geld gehabt und habe deshalb sein Studium nicht fortsetzen können. Weiters habe er Angst vor dem Tod.
2. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 17. April 2023 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an:
Er stamme aus der Stadt XXXX . Er habe die Schule neun Jahre lang besucht und von 2017 bis 2021 als Hilfsarbeiter gearbeitet. Seinen Militärdienst in der syrischen Armee habe der Beschwerdeführer bisher nicht abgeleistet. Seine Familie besitze ein Haus im Herkunftsort. Die Eltern und zwei Brüder des Beschwerdeführers würden nach wie vor in diesem Haus wohnen. Ein weiterer Bruder lebe als subsidiär Schutzberechtigter in Linz. Der Vater des Beschwerdeführers verfüge noch über Ersparnisse von früher. Er stamme aus der Stadt römisch 40 . Er habe die Schule neun Jahre lang besucht und von 2017 bis 2021 als Hilfsarbeiter gearbeitet. Seinen Militärdienst in der syrischen Armee habe der Beschwerdeführer bisher nicht abgeleistet. Seine Familie besitze ein Haus im Herkunftsort. Die Eltern und zwei Brüder des Beschwerdeführers würden nach wie vor in diesem Haus wohnen. Ein weiterer Bruder lebe als subsidiär Schutzberechtigter in Linz. Der Vater des Beschwerdeführers verfüge noch über Ersparnisse von früher.
Der Beschwerdeführer habe in Syrien nur in seinem Herkunftsort gelebt. Ende 2020 habe er seinen Heimatort in Richtung der Türkei verlassen. Als die „Freie Syrische Armee“ (FSA) 2019 in seinen Heimatort einmarschiert sei, sei er ca. eine Woche lang festgehalten worden. Auch seien die Araber von den Kurden diskriminiert, aber nicht verfolgt worden. Bei einer Bombardierung seines Heimatortes vor seiner Ausreise, seien drei seiner Freunde getötet worden.
Der Beschwerdeführer befürchte einen Einzug zum Militär. Er wolle jedoch nicht töten oder getötet werden. Auch wolle er das syrische Regime weder mit Geld noch mit der Waffe unterstützen oder eine Waffe gegen unschuldige Menschen richten. In seinem Heimatort komme es jeden Monat zu Bombardierungen. Als die Kurden die Kontrolle über seinen Herkunftsort gehabt hätten, hätten sie den Beschwerdeführer mehrmals einziehen wollen. Er habe sich diesen Versuchen immer entzogen und werde daher von den Kurden gesucht. Von der syrischen Armee habe er bisher keinen Einberufungsbefehl erhalten, da zuerst die Kurden und dann die FSA die Kontrolle über seinen Heimatort gehabt hätten. Jedoch würde der Beschwerdeführer seine Einziehung in die Armee jedenfalls ablehnen und dafür getötet werden.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.), und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.). 3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl ab (Spruchpunkt römisch eins.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt römisch II.), und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt römisch III.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus:
Dem Beschwerdeführer drohe keine asylrelevante Verfolgung in Syrien. Er habe seinen Wehrdienst in der syrischen Armee bisher nicht abgeleistet. In XXXX herrsche jedoch kein verpflichtender Wehrdienst. So hätten weder die „Syrian National Army“ (SNA) noch die „Hay‘at Tahrir al-Sham“ (HTS) einen Wehrdienst für Zivilisten. Dem Beschwerdeführer drohe somit kein Einzug zum Wehrdienst. Dem Beschwerdeführer drohe keine asylrelevante Verfolgung in Syrien. Er habe seinen Wehrdienst in der syrischen Armee bisher nicht abgeleistet. In römisch 40 herrsche jedoch kein verpflichtender Wehrdienst. So hätten weder die „Syrian National Army“ (SNA) noch die „Hay‘at Tahrir al-Sham“ (HTS) einen Wehrdienst für Zivilisten. Dem Beschwerdeführer drohe somit kein Einzug zum Wehrdienst.
Auch sei der Beschwerdeführer nicht politisch aktiv gewesen. Er habe keine Verfolgung durch die Kurden geltend gemacht.
Eine Einreise über Qamishli sei dem Beschwerdeführer möglich.
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht die gegenständliche Beschwerde, in welcher er zusammengefasst vorbringt:4. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht die gegenständliche Beschwerde, in welcher er zusammengefasst vorbringt:
Er befürchte im Falle einer Rückkehr von der syrischen Armee oder den Kurden zwangsrekrutiert und getötet zu werden. Auch drohe ihm die Unterstellung einer oppositionellen Gesinnung, da er den Dienst an der Waffe verweigere. Zudem drohe ihm Verfolgung aufgrund seiner illegalen Ausreise und der Asylantragstellung. Der Beschwerdeführer habe sich meist versteckt gehalten, da er Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die kurdischen Milizen oder das syrische Regime gehabt hätte.
Er sei mit XXXX Jahren von den Kurden aufgegriffen und zum Wehrdienst eingezogen worden. Lediglich aufgrund der Bezahlung von Schmiergeld durch seinen Vater habe er der Zwangs-rekrutierung entgehen können. Auch die Zahlung einer Befreiungsgebühr sei keine Garantie dafür, dass der Beschwerdeführer tatsächlich vom Wehrdienst befreit sei.Er sei mit römisch 40 Jahren von den Kurden aufgegriffen und zum Wehrdienst eingezogen worden. Lediglich aufgrund der Bezahlung von Schmiergeld durch seinen Vater habe er der Zwangs-rekrutierung entgehen können. Auch die Zahlung einer Befreiungsgebühr sei keine Garantie dafür, dass der Beschwerdeführer tatsächlich vom Wehrdienst befreit sei.
5. Am 23. Juli 2024 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher der Beschwerdeführer befragt wurde.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
1.1. Zum Beschwerdeführer
Der am XXXX geborene Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben, spricht Arabisch und gehört der arabischen Volksgruppe an. Er wurde in XXXX , Gouvernement al-Hasaka, geboren. Dieser Ort befindet sich derzeit unter türkischer Kontrolle (siehe https://syria.liveuamap.com, abgerufen am 16. September 2024). Er besuchte in Syrien neun Jahre lang die Schule und arbeitete von 2017 bis 2021 als Hilfsarbeiter. Der am römisch 40 geborene Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben, spricht Arabisch und gehört der arabischen Volksgruppe an. Er wurde in römisch 40 , Gouvernement al-Hasaka, geboren. Dieser Ort befindet sich derzeit unter türkischer Kontrolle (siehe https://syria.liveuamap.com, abgerufen am 16. September 2024). Er besuchte in Syrien neun Jahre lang die Schule und arbeitete von 2017 bis 2021 als Hilfsarbeiter.
Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Seine Eltern und zwei Brüder leben nach wie vor in XXXX . Ein Bruder des Beschwerdeführers ( XXXX , geboren am XXXX ) lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich.Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos. Seine Eltern und zwei Brüder leben nach wie vor in römisch 40 . Ein Bruder des Beschwerdeführers ( römisch 40 , geboren am römisch 40 ) lebt als subsidiär Schutzberechtigter in Österreich.
Der Beschwerdeführer verließ Syrien Ende 2020 und lebte anschließend in der Türkei. Am 25. Oktober 2022 reiste er nach Österreich ein, wo er am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der derzeit arbeitslose Beschwerdeführer ist gesund und strafgerichtlich unbescholten (siehe Strafregisterauskunft, abgerufen am 16. September 2024).
1.2. Zum Fluchtvorbringen
Der Beschwerdeführer befindet sich mit seinen XXXX Jahren im wehrfähigen Alter und hat seinen Wehrdienst in der syrischen Armee bisher nicht abgeleistet. Zwar ist die Herkunftsregion des Beschwerdeführers nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung, allerdings ist eine Einreise über die Türkei in die Gebiete unter der Kontrolle der „Syrischen Heilsregierung“ und der „Syrischen Interimsregierung“ – und damit in die Herkunftsregion des Beschwerdeführers – nicht möglich. Ein Kontakt mit den syrischen Behörden ist für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien somit unvermeidbar.Der Beschwerdeführer befindet sich mit seinen römisch 40 Jahren im wehrfähigen Alter und hat seinen Wehrdienst in der syrischen Armee bisher nicht abgeleistet. Zwar ist die Herkunftsregion des Beschwerdeführers nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung, allerdings ist eine Einreise über die Türkei in die Gebiete unter der Kontrolle der „Syrischen Heilsregierung“ und der „Syrischen Interimsregierung“ – und damit in die Herkunftsregion des Beschwerdeführers – nicht möglich. Ein Kontakt mit den syrischen Behörden ist für den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien somit unvermeidbar.
Im Falle einer Rückkehr nach Syrien droht dem Beschwerdeführer daher die Einziehung zum Wehrdienst in der syrischen Armee.
Da sich der Beschwerdeführer seit Ende 2020 außerhalb Syriens aufhält, beträgt die Befreiungsgebühr in seinem Fall 7.000,00 USD, umgerechnet etwa EUR 6.300,00. Eine Entrichtung dieser Gebühr kann sich der Beschwerdeführer derzeit nicht leisten, da er arbeitslos ist.
Bereits in Syrien veröffentlichte der Beschwerdeführer auf seinem Facebook-Profil regimekritische Beiträge („Stories“), welche nach wie vor ersichtlich sind. Nach seiner Flucht aus Syrien nahm er in Österreich an (zumindest) drei Demonstrationen gegen die syrische Regierung teil und veröffentlichte einen Beitrag zu seiner Teilnahme auf seinem Instagram-Account, welcher 36.900 Follower hat.
Aufgrund seiner (bereits in Syrien veröffentlichten) regimekritischen Beiträge sowie wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit in Österreich droht dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Syrien Verhaftung und Folter, da er von der syrischen Regierung als politischer Gegner angesehen wird.
1.3. Zur hier relevanten Situation in Syrien:
1.3.1. Politische Lage
Syrische Interimsregierung und Syrische Heilsregierung
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG ist nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckt sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia werden inzwischen von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste ist (MEI 26.4.2022). Mit der im November 2017 gegründeten (NPA 4.5.2023) syrischen Heilsregierung hat die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. Doch wie jüngste Studien gezeigt haben, sind diese Institutionen Mechanismen, die hochrangige Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Koalitionen ermächtigen und bereichern (Brookings 27.1.2023). In dem Gebiet werden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versucht in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, ist HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen sind nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfällt. Zu den anderen Aspekten gehören der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022).
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral-Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 27. März 2024, S. 10 ff)(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien vom 27. März 2024, Sitzung 10 ff)
1.3.2. Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung
Im März 2022 wurde ein neues Gesetz gegen Folter verabschiedet (HRW 11.1.2024). Das Gesetz Nr. 16 von 2022 sieht Strafen von drei Jahren Haft bis hin zur Todesstrafe vor (OSS 18.1.2023b). Die Todesstrafe gilt für Folter mit Todesfolge oder in Verbindung mit einer Vergewaltigung (HRW 12.1.2023). Eine lebenslange Strafe ist für Fälle vorgesehen, in welchen Kinder oder Menschen mit Beeinträchtigungen gefoltert wurden oder das Opfer einen permanenten Schaden davonträgt (OSS 18.1.2023b). Das Gesetz verbietet auch das Anordnen von Folter durch Behörden (HRW 12.1.2023). Es weist jedoch wichtige Lücken auf, und die Anwendung bleibt unklar. So werden keine Organisationen genannt, auf welche das Gesetz angewendet werden soll. Verschiedene Teile des Sicherheitsapparats einschließlich der Zollbehörden sowie die Streitkräfte sind de facto weiterhin von Strafverfolgung ausgenommen (OSS 18.1.2023), was durch Dekrete gedeckt ist (OSS 1.10.2017b, STJ 12.7.2022) - ebenso wie Gefängnisse (OSS 18.1.2023b). Dort wurden und werden Zehntausende gefoltert (OSS 18.1.2023b, FH 9.3.2023), und zahlreiche Menschen starben in der Haft oder man ließ sie „verschwinden“ (FH 9.3.2023). SNHR kritisiert unter anderem, dass das Gesetz keine Folterstraftaten, die vor seinem Erlass begangen wurden, umfasst, keinen Bezug auf grausame Haftbedingungen nimmt und andere Gesetze, welche Angehörigen der vier Geheimdienste Straffreiheit gewähren, weiterhin in Kraft bleiben (SNHR 26.6.2022). Weitere NGOs kritisieren außerdem, dass das Gesetz keine konkreten Schutzmaßnahmen für Zeugen oder Überlebende von Folter sowie keine Wiedergutmachungen vorsieht, und zwar weder für frühere Folteropfer noch für die Angehörigen im Falle des Todes. Auch beinhaltet das Gesetz keine Präventionsmaßnahmen, die ergriffen werden könnten, um Folter in Haftanstalten und Gefängnissen zukünftig zu verhindern (AI 31.3.2022).
Der Einsatz von Folter, des Verschwindenlassens und schlechter Bedingungen in den Gefängnissen ist keine Neuheit seit Ausbruch des Konflikts, sondern war bereits seit der Ära von Hafez al-Assad Routinepraxis verschiedener Geheimdienst- und Sicherheitsapparate in Syrien (SHRC 24.1.2019). Folter bleibt eine der meisten schweren Menschenrechtsverletzungen durch die syrische Regierung und ist breit dokumentiert (STJ 12.7.2022). Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser, Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung u. a., sodass die Zustände insgesamt lebensbedrohlich sind. Die Regierung hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) fest (USDOS 20.3.2023).
Medien und Menschenrechtsgruppen gehen von der systematischen Anwendung von Folter in insgesamt 27 Einrichtungen aus, die sich alle in der Nähe der bevölkerungsreichen Städte im westlichen Syrien befinden: Zehn nahe Damaskus, jeweils vier nahe Homs, Latakia und Idlib, drei nahe Dara‘a und zwei nahe Aleppo. Es muss davon ausgegangen werden, dass Folter auch in weiteren Einrichtungen in bevölkerungsärmeren Landesteilen verübt wird (AA 2.2.2024). In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht, wo sie verschiedenen Formen von Folter unterworfen werden (SHRC 24.1.2019). Auch in den Krankenhäusern Harasta Military Hospital, Mezzeh Military Hospital 601 und Tishreen Military Hospital werden Gefangene gefoltert. Laut Berichten von NGOs gibt es zudem zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte Demonstranten in leer stehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre Einrichtungen festgehalten werden (USDOS 20.3.2023).
Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 2.2.2024). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die „Versöhnungsabkommen“ unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024; vgl. bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022). Laut Einschätzung des Auswärtigen Amtes unterliegen Personen, die unter dem Verdacht stehen, sich oppositionell zu engagieren oder als regimekritisch wahrgenommen werden, einem besonders hohen Folterrisiko (AA 2.2.2024). Menschenrechtsaktivisten, die Commission of Inquiry für Syrien der UN (COI) und lokale NGOs berichten von Tausenden glaubwürdigen Fällen, in denen die Behörden des Regimes Folter, Missbrauch und Misshandlungen zur Bestrafung wahrgenommener Oppositioneller einsetzen, auch bei Verhören - eine systematische Praxis des Regimes, die während des gesamten Konflikts und bereits vor 2011 dokumentiert wurde (USDOS 12.4.2022). Die willkürlichen Festnahmen, Misshandlungen, Folter und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche Milizen betreffen auch Kinder, Menschen mit Beeinträchtigungen, RückkehrerInnen und Personen aus wiedereroberten Gebieten, die „Versöhnungsabkommen“ unterzeichnet haben (HRW 12.1.2023). Auch sexueller Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen von Frauen, Männern und Kindern wird verübt (USDOS 20.3.2023). Daneben sind zahllose Fälle dokumentiert, in denen Familienmitglieder, nicht selten Frauen oder Kinder, oder auch Nachbarn für vom Regime als vermeintliche Mitwisser oder für vermeintliche Verbrechen anderer inhaftiert und gefoltert werden. Solche Kollektivhaft wird Berichten zufolge in einigen Fällen auch angewendet, wenn vom Regime als feindlich angesehene Personen Zuflucht im Ausland gesucht haben (AA 2.2.2024; vergleiche bzgl. eines konkreten Falls Üngör 15.12.2021). Das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte kam zu dem Schluss, dass Einzelpersonen zwar häufig gefoltert wurden, um Informationen zu erhalten, der Hauptzweck der Anwendung von Folter durch das Regime während der Verhöre jedoch darin bestand, die Gefangenen zu terrorisieren und zu demütigen (USDOS 12.4.2022).
Nach glaubhaften Berichten Entlassener verschwinden immer wieder Häftlinge, die zur medizinischen Versorgung in die Krankenhaus-Abteilungen der Vollzugsanstalten überstellt werden. Immer wieder kommt es zu Todesfällen bei Inhaftierten. Untersuchungen zu Todesursachen sind angesichts des beschränkten Zugangs kaum möglich, da das Regime selbst in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung macht, sondern zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und Ähnliches anführt (AA 2.2.2024). Dem Syrian Network for Human Rights (SNHR) zufolge beträgt die Gesamtzahl der durch Folter seitens der syrischen Regierung seit März 2011 verstorbenen Personen mit Stand Juni 2022 14.464 Menschen, darunter 174 Kinder und 75 Frauen (SNHR 26.6.2022). Neben gewaltsamen Todesursachen ist jedoch eine hohe Anzahl der Todesfälle nach Berichten der CoI auf die desolaten Haftbedingungen zurückzuführen (AA 2.2.2024).
Die meisten der im Jahr 2020 bekannt gegebenen Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert, und diese nur nach und nach bekanntmacht. In den meisten Fällen werden die Familien der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, weil der Sicherheitsapparat nur den Status der Inhaftierten im Zivilregister ändert