Entscheidungsdatum
24.09.2024Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I422 2295935-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas BURGSCHWAIGER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die "BBU GmbH", Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.06.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.09.2024 zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Thomas BURGSCHWAIGER als Einzelrichter über die Beschwerde des römisch 40 , geb. römisch 40 , StA. Türkei, vertreten durch die "BBU GmbH", Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.06.2024, Zl. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.09.2024 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:römisch eins. Verfahrensgang:
Ein türkischer Staatsangehöriger (im Folgenden: Beschwerdeführer) stellte am 20.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Rahmen seiner am selben Tag stattfindenden Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes damit begründete, dass er als Kurde in der Türkei ständig Diskriminierungen ausgesetzt gewesen sei. Er habe nicht auf Kurdisch sprechen dürfen. Wenn er Kurdisch gesprochen habe, sei man auf ihn losgegangen. Ebenso sei er durch die Jugendorganisation der AKP bedroht worden. Es waren meisten Personen aus dieser Organisation gewesen, die ihn unter Druck gesetzt haben. Er habe dort kein normales, ruhiges Leben führen können. Im Falle einer Rückkehr befürchte in entweder getötet oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Auf die Frage, ob es konkrete Hinweise für das Vorliegen einer unmenschlichen Behandlung im Falle seiner Rückkehr gebe bzw. ob er im Falle seiner Rückkehr mit allfälligen staatlichen Sanktionen zu rechnen habe, vermeinte er, dass er keine Belege dafür habe. Sein Haus sei allerdings in Brand gesetzt worden. Seine Familie habe sich bei dem Brand im Haus aufgehalten.
Am 21.03.2024 wurde der Beschwerdeführer durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA / belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Hierbei gab er hinsichtlich seiner Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass das Leben in der Türkei schwer gewesen sei, da sie aufgrund ihrer kurdischen Herkunft ausgeschlossen gewesen seien. Sie haben sich in der Gesellschaft nicht frei bewegen können und auch nicht ihre kurdische Muttersprache sprechen dürfen. Sie seien aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit ständig mit Rassismus und Diskriminierung konfrontiert gewesen. Auch sei sein Haus deswegen angezündet worden und sei dafür die Jugendbewegung der AKP verantwortlich. Diese haben sie bedroht und gezwungen, dass sie die AKP wählen sollen. Wenn sie sich draußen aufgehalten haben, seien sie nie vor den Sondereinsatzkräften sicher gewesen. Sie seien provoziert worden und haben sich seine Freunde und er nicht unbekümmert in seinem Heimatort aufhalten können. Wenn sie im Westen arbeiten haben wollen, sei dies auch nicht so einfach gegangen und seien sie auch dort bei der Arbeit ständig diskriminiert worden. Auch die Personen, die das kurdische Volk vertreten, werden verfolgt und kommen ins Gefängnis. Der Anstoß für seine Ausreise sei gewesen, als sein Haus angezündet worden sei. Dies seien alle seine Fluchtgründe. Im Falle einer Rückkehr befürchte er eine Verfolgung seiner Person, da er in Österreich ein aktives Mitglied eines kurdischen Vereins sei.
Mit Bescheid der belangten Behörde vom 18.06.2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für eine freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung glaubhaft gemacht habe. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 18.06.2024 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt römisch II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 57, AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG 2005 in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV.) und es wurde gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG in die Türkei zulässig ist (Spruchpunkt römisch fünf.). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde die Frist für eine freiwillige Ausreise mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt römisch VI.). Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keine Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung glaubhaft gemacht habe.
Gegen den verfahrensgegenständlichen Bescheid wurde fristgerecht mit Schriftsatz vom 15.07.2024 vollumfänglich Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht erhoben und hierbei dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert. Im Falle einer Rückkehr drohe dem Beschwerdeführer eine Verfolgung aufgrund seiner Volksgruppe und aufgrund seiner politischen Einstellung. Ergänzend wurde vorgebracht, dass die Polizei die Ehefrau des Beschwerdeführers aufgesucht und nach dem Beschwerdeführer gesucht habe. Es gäbe mittlerweile auch einen Haftbefehl gegen den Beschwerdeführer.
Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 19.07.2024 vorgelegt und langten am 22.07.2024 in der Gerichtsabteilung des erkennenden Richters ein.
Mit Schriftsatz seiner Rechtsvertretung vom 06.08.2024 wurde ein türkischer Haftbefehl nachgereicht.
Am 18.09.2024 wurde durch das Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers und seiner Rechtsvertretung abgehalten und hierbei die gegenständliche Beschwerdesache erörtert.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:Die unter Punkt römisch eins. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende weitere Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatangehöriger der Türkei, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und bekennt sich zum islamischen Glauben. Er ist gesund und erwerbsfähig. Der Beschwerdeführer ist verheiratet und für drei minderjährige Kinder sorgepflichtig. Seine Identität steht fest.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Ortschaft XXXX , im Bezirk XXXX in der Provinz Mus. Er hat in seinem Herkunftsstaat fünf Jahre die Schule besucht. Seinen Lebensunterhalt sicherte sich der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat zuletzt als Fabrikarbeiter in einer Fabrik für Autoteile. Zudem arbeitete er nebenbei noch in der Landwirtschaft seiner Familie mit.Der Beschwerdeführer stammt aus der Ortschaft römisch 40 , im Bezirk römisch 40 in der Provinz Mus. Er hat in seinem Herkunftsstaat fünf Jahre die Schule besucht. Seinen Lebensunterhalt sicherte sich der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat zuletzt als Fabrikarbeiter in einer Fabrik für Autoteile. Zudem arbeitete er nebenbei noch in der Landwirtschaft seiner Familie mit.
Die Familie des Beschwerdeführers besteht aus seiner Ehegattin und drei gemeinsamen Kindern. Darüber hinaus umfasst seine Familie noch seine Eltern, eine Schwester und zwei Brüder sowie mehrere Onkel und Tanten. Die Ehegattin und die gemeinsamen drei Kinder, die wie der Beschwerdeführer ebenfalls türkische Staatsangehörige sind, sind seit 12.09.2024 in Österreich aufhältig und haben im österreichischen Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die Eltern, zwei Brüder und eine Schwester sowie mehrere Onkel und Tanten leben nach wie vor in der Türkei. Ein Bruder des Beschwerdeführers ist in Österreich aufhältig. Zudem wohnen noch weitere Verwandte des Beschwerdeführers sowohl väter- als auch mütterlicherseits in Österreich, Frankreich und Deutschland. Zu seinen in Österreich und in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union lebenden Verwanden steht der Beschwerdeführer in keinem Abhängigkeitsverhältnis.
Mitte des Jahres 2022 fasste der Beschwerdeführer den Entschluss zur Ausreise nach Europa und trat er am 15.10.2022 die Ausreise nach Mitteleuropa an, indem er zunächst nach Istanbul fuhr und danach schleppergestützt per Lkw unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich weiterreiste, wo er letztlich am 20.10.2022 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Der Beschwerdeführer weist seit 07.11.2022 eine durchgehende meldebehördliche Erfassung auf. Er war vom 23.05.2023 bis zum 23.05.2023 in einer Erwerbstätigkeit bei einem Gebäudereinigungsunternehmen gemeldet. Seit 01.07.2023 befindet sich Beschwerdeführer durchgehend in einem Beschäftigungsverhältnis zur T [...] GmbH und ist aus dieser Erwerbstätigkeit in der Sozialversicherung gemeldeten. Der Beschwerdeführer hat einen Deutschkurs besucht, eine Sprachprüfung bislang jedoch nicht bestanden. Er spricht nicht Deutsch. Der Beschwerdeführer ist Mitglied in einem kurdischen Verein in Graz. Ansonsten weist der Beschwerdeführer keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in gesellschaftlicher Hinsicht auf und verfügt er in Österreich auch über keinen nachhaltigen Freundeskreis.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Fluchtvorbringen und einer Rückkehrgefährdung des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist in der Türkei nicht der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Ebensowenig droht ihm eine asylrelevante Verfolgung aufgrund seiner kurdischen Volksgruppenzugehörigkeit und seiner politischen Einstellung.
Es besteht auch keine reale Gefahr, dass er im Falle seiner Rückkehr in die Türkei einer wie auch immer gearteten existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein wird. Weder wird ihm seine Lebensgrundlage gänzlich entzogen, noch besteht für ihn die reale Gefahr einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Türkei aus dem COI-CMS (Version 8, 07.03.2024) auszugsweise soweit entscheidungsrelevant wiedergegeben:
Politische Lage
Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdo?an und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdo?an verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 4f.).Die politische Lage in der Türkei war in den letzten Jahren geprägt von den Folgen des Putschversuchs vom 15.7.2016 und den daraufhin ausgerufenen Ausnahmezustand, von einem "Dauerwahlkampf" sowie vom Kampf gegen den Terrorismus. Aktuell steht die Regierung wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der hohen Anzahl von Flüchtlingen und Migranten unter Druck. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung ist mit Präsident Erdo?an und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung - Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP) unzufrieden und nach deren erneutem Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 desillusioniert. Ursache sind v. a. der durch die hohe Inflation verursachte Kaufkraftverlust, welcher durch Lohnzuwächse und von der Regierung im Vorfeld der Wahlen 2023 beschlossene Wahlgeschenke nicht nachhaltig kompensiert werden konnte, die zunehmende Verarmung von Teilen der Bevölkerung, Rückschritte in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die fortschreitende Untergrabung des Laizismus. Insbesondere junge Menschen sind frustriert. Laut einer aktuellen Studie möchten fast 82 % das Land verlassen und im Ausland leben. Während die vorhergehende Regierung keinerlei Schritte unternahm, die Unabhängigkeit der Justizbehörden und eine objektive Ausgabenkontrolle wiederherzustellen, versucht die neue Regierung zumindest im wirtschaftlichen Bereich Reformen durchzuführen, um den Schwierigkeiten zu begegnen. Die Gesellschaft ist – maßgeblich aufgrund der von Präsident Erdo?an verfolgten spaltenden Identitätspolitik – stark polarisiert. Insbesondere die Endphase des Wahlkampfes zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2023 war von gegenseitigen Anschuldigungen und Verbalangriffen und nicht von der Diskussion drängender Probleme geprägt. Selbst die wichtigste gegenwärtige Herausforderung der Türkei, die Bewältigung der Folgen der Erdbebenkatastrophe, trat in den Hintergrund (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 4f.).
Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, S. 5; vgl. EC 8.11.2023, S. 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, S. 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).Die Opposition versucht, die Regierung durch Kritik am teilweise verspäteten Erdbeben-Krisenmanagement und in der Migrationsfrage mit scharfen Tönen in Bedrängnis zu bringen und förderte die in breiten Bevölkerungsschichten zunehmend migrantenfeindliche Stimmung. Die Gesellschaft bleibt auch, was die irreguläre Migration betrifft, stark polarisiert (ÖB Ankara 28.12.2023, Sitzung 5; vergleiche EC 8.11.2023, Sitzung 12, 54, WZ 7.5.2023), zwischen den Anhängern der AKP und denjenigen, die für ein demokratischeres und sozial gerechteres Regierungssystem eintreten (BS 23.2.2022a, Sitzung 43). Das hat u. a. mit der Politik zu tun, die sich auf sogenannte Identitäten festlegt. Nationalistische Politiker, beispielsweise, propagieren ein "stolzes Türkentum". Islamischen Wertvorstellungen wird zusehends mehr Gewicht verliehen. Kurden, deren Kultur und Sprache Jahrzehnte lang unterdrückt wurden, kämpfen um ihr Dasein (WZ 7.5.2023). Angesichts des Ausganges der Wahlen im Frühjahr 2023 stellte das Europäische Parlament (EP) überdies hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Verfasstheit des Landes fest, dass nicht nur "rechtsextreme islamistische Parteien als Teil der Regierungskoalition ins Parlament eingezogen sind", sondern das EP war "besorgt über das zunehmende Gewicht der islamistischen Agenda bei der Gesetzgebung und in vielen Bereichen der öffentlichen Verwaltung, unter anderem durch den wachsenden Einfluss des Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet) im Bildungssystem" und "über den zunehmenden Druck der Regierungsstellen sowie islamistischer und ultranationalistischer Gruppen auf den türkischen Kultursektor und die Künstler in der Türkei, der sich in letzter Zeit darin zeigt, dass immer mehr Konzerte, Festivals und andere kulturelle Veranstaltungen abgesagt werden, weil sie als kritisch oder "unmoralisch" eingestuft wurden, um eine ultrakonservative Agenda durchzusetzen, die mit den Werten der EU unvereinbar ist" (EP 13.9.2023, Pt. 17).
Präsident Recep Tayyip Erdo?an und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, S. 4, 12; vgl. EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).Präsident Recep Tayyip Erdo?an und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die die Türkei seit 2002 regieren, sind in den letzten Jahren zunehmend autoritär geworden und haben ihre Macht durch Verfassungsänderungen und die Inhaftierung von Gegnern und Kritikern gefestigt. Eine sich verschärfende Wirtschaftskrise und die Wahlen im Jahr 2023 haben der Regierung neue Anreize gegeben, abweichende Meinungen zu unterdrücken und den öffentlichen Diskurs einzuschränken. Freedom House fügt die Türkei mittlerweile in die Kategorie "nicht frei" ein (FH 10.3.2023). Das Funktionieren der demokratischen Institutionen ist weiterhin stark beeinträchtigt. Der Demokratieabbau hat sich fortgesetzt (EC 8.11.2023, Sitzung 4, 12; vergleiche EP 13.9.2023, Pt.9, WZ 7.5.2023).
Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl. DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, S. 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).Die Türkei wird heute als "kompetitives autoritäres" Regime eingestuft (MEI 1.10.2022, Sitzung 6; vergleiche DE/Aydas 31.12.2022, Güney 1.10.2016, Esen/Gumuscu 19.2.2016), in dem zwar regelmäßig Wahlen abgehalten werden, der Wettbewerb zwischen den politischen Parteien aber nicht frei und fair ist. Solche Regime, zu denen die Türkei gezählt wird, weisen vordergründig demokratische Elemente auf: Oppositionsparteien gewinnen gelegentlich Wahlen oder stehen kurz davor; es herrscht ein harter politischer Wettbewerb; die Presse kann verschiedene Meinungen und Erklärungen von Oppositionsparteien veröffentlichen; und die Bürger können Proteste organisieren. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch ehedem Risse in der demokratischen Fassade: Regierungsgegner werden mit legalen oder illegalen Mitteln unterdrückt, unabhängige Justizorgane werden von regierungsnahen Beamten kontrolliert und die Presse- und Meinungsfreiheit gerät unter Druck. Wenn diese Maßnahmen nicht zu einem für die Regierungspartei zufriedenstellenden Ergebnis führen, müssen Oppositionsmitglieder mit gezielter Gewalt oder Inhaftierung rechnen - eine Realität, die für die türkische Opposition immer häufiger anzutreffen ist (MEI 1.10.2022, Sitzung 6; vgl.Esen/Gumuscu 19.2.2016).
Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, S. 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbesondere die Bestimmungen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung, verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und gegen andere internationale Standards bzw. gegen die Rechtsprechung des EGMR. Der türkische Rechtsrahmen enthält beispielsweise allgemeine Garantien für die Achtung der Menschen- und Grundrechte, aber die Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung müssen laut Europäischer Kommission mit der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Einklang gebracht werden (EC 8.11.2023, S. 6).Trotz der Aufhebung des zweijährigen Ausnahmezustands im Juli 2018 wirkt sich dieser implizit negativ auf Demokratie und Grundrechte aus, denn einige gesetzliche Bestimmungen, die den Regierungsbehörden außerordentliche Befugnisse einräumten, und mehrere restriktive Elemente des Notstandsrechtes wurden beibehalten und ins Gesetz integriert. Einige dieser Bestimmungen wurden um weitere zwei Jahre verlängert, aber die meisten jener sind im Juli 2022 ausgelaufen (EC 8.11.2023, Sitzung 12). Das Parlament verlängerte im Juli 2021 die Gültigkeit dieser restriktiven Elemente des Notstandsrechtes um weitere drei Jahre (DW 18.7.2021). Das diesbezügliche Gesetz ermöglicht es u. a., Staatsbedienstete, einschließlich Richter und Staatsanwälte, wegen mutmaßlicher Verbindungen zu "terroristischen" Organisationen ohne die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung zu entlassen (AI 29.3.2022a). Die Gesetzgebung und ihre Umsetzung, insbes