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L40019 Anstandsverletzung Ehrenkränkung LärmerregungNorm
EGVG Art9 Abs1 Z1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kirschner und die Hofräte Dr. Mizner und Dr. Bumberger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Fichtner, über die Beschwerde des A in W, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 11. August 1994, Zl. UVS-03/14/03524/93, betreffend Übertretungen nach Art. VIII und IX EGVG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund und das Land Wien haben dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von insgesamt S 11.200,-- je zur Hälfte binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 11. August 1994 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe am 4. Februar 1993 um 8.55 Uhr in Wien XIV, Keißlergasse 5, Bahnhof Hütteldorf, Bahnsteig 3, durch lautstarkes Schimpfen, wie z.B. "das ist ja wie in Rußland" sowie durch Beschimpfung des Fahrdienstleiters und Beschimpfung der Polizeibeamten 1.) den öffentlichen Anstand empfindlich verletzt, 2.) ungebührlicherweise störenden Lärm erregt,
3.) ein Verhalten gesetzt, das geeignet gewesen sei, Aufsehen und Ärgernis zu erregen, auch tatsächlich bei anderen Fahrgästen erregt habe und sohin die Ordnung an einem öffentlichen Ort empfindlich gestört und 4.) sich trotz vorausgegangener Abmahnung einem in rechtmäßiger Ausübung seines Dienstes befindlichen Sicherheitswachebeamten gegenüber ungestüm benommen. Der Beschwerdeführer habe dadurch Verwaltungsübertretungen nach 1.) Art. VIII erster Fall EGVG,
2.) Art. VIII zweiter Fall EGVG, 3.) Art. IX Abs. 1 Z. 1 EGVG und 4.) Art. IX Abs. 1 Z. 2 EGVG begangen. Über den Beschwerdeführer wurden vier Geldstrafen verhängt.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit des Inhalts und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.
Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsstrafverfahrens vorgelegt und in der Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Beschwerdefall stellt sich die Frage nach dem anzuwendenden Recht.
Die belangte Behörde hat die Art. VIII und IX EGVG angewendet.
Art. VIII EGVG stand zum Zeitpunkt der Begehung der dem Beschwerdeführer angelasteten Tat (4. Februar 1993) als landesgesetzliche Vorschrift für Wien in Kraft. Art. VIII EGVG wurde durch Art. III des Wiener Landes-Sicherheitsgesetzes, LGBl. Nr. 51/1993 (WLSG), welches mit 23. September 1993 in Kraft trat, aufgehoben. An seine Stelle trat § 1 Abs. 1 WLSG.
Dieser lautet:
"(1) Wer
1.
den öffentlichen Anstand verletzt oder
2.
ungebührlicherweise störenden Lärm erregt,
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu S 10.000,--, im Fall der Uneinbringlichkeit mit einer Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche zu bestrafen."
Zum Zeitpunkt der Erlassung des erstinstanzlichen Straferkenntnisses vom 2. November 1993 stand demnach nicht mehr Art. VIII EGVG, sondern § 1 WLSG in Kraft.
Nach § 1 Abs. 2 VStG richtet sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht, es sei denn, daß das zur Zeit der Fällung des Bescheides in erster Instanz geltende Recht für den Täter günstiger wäre.
Bei der Prüfung im Sinne des § 1 Abs. 2 VStG betreffend das von der Behörde anzuwendende Recht kommt es nicht darauf an, welche Strafe tatsächlich über den Täter verhängt wird, sondern auf die Strafdrohung. Der Vergleich ist nicht bloß auf die Höhe der jeweils angedrohten Geldstrafe abzustellen. Bei Verschiedenheiten der Strafdrohungen kommt es auf die Bewertung der "Gesamtauswirkung" an. Beim Vergleich der Strafdrohungen ist in erster Linie die Strafart in Betracht zu ziehen und davon auszugehen, daß die Androhung einer Geldstrafe günstiger ist als die einer Freiheitsstrafe. Wird in einer Strafbestimmung als primäre Strafe nur Geldstrafe und in einer anderen Strafbestimmung neben einer Geldstrafe primär Arrest angedroht, so ist letztere Strafbestimmung die strengere und die erstere für den Täter günstiger (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. September 1982, Slg. N.F. 10.801/A u.a.).
Art. VIII EGVG sah als Strafe Geld bis S 1.000,-- oder Arrest bis 2 Wochen vor.
Demgegenüber bedroht § 1 Abs. 1 WLSG Anstandsverletzung und Lärmerregung mit Geldstrafe bis zu S 10.000. Eine Primärfreiheitsstrafe ist nicht vorgesehen.
§ 1 Abs. 1 WLSG stellt daher die für den Täter günstigere Strafbestimmung dar. Durch die Heranziehung des Art. VIII EGVG als Strafnorm hat die belangte Behörde ihren Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
Art. IX Abs. 1 Z. 1 und 2 EGVG stand zum Zeitpunkt der Begehung der den Beschwerdeführer angelasteten Tat als bundesgesetzliche Vorschrift in Kraft. Durch die EGVG-Novelle, BGBl. Nr. 143/1992 wurde Art. IX Abs. 1 Z. 1 und 2 EGVG mit Wirkung vom 1. Mai 1993 aufgehoben. An die Stelle der aufgehobenen Bestimmungen traten die §§ 81 Abs. 1 und 82 des Sicherheitspolizeigesetzes, BGBl. Nr. 566/1991 (SPG).
Nach § 81 Abs. 1 SPG begeht, wer durch besonders rücksichtsloses Verhalten die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt stört, eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu S 3.000,-- zu bestrafen. Anstelle einer Geldstrafe kann bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen verhängt werden.
Nach § 82 Abs. 1 SPG begeht, wer sich trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während diese ihre gesetzlichen Aufgaben wahrnehmen, aggressiv verhält und dadurch eine Amtshandlung behindert, eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu S 3.000,-- zu bestrafen. Anstelle einer Geldstrafe kann bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen verhängt werden.
Nach § 82 Abs. 2 leg. cit. schließt eine Bestrafung nach Abs. 1 eine Bestrafung wegen derselben Tat nach § 81 aus.
Nach § 1 Abs. 2 VStG richtet sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht, es sei denn, daß das zur Zeit der Fällung des Bescheides erster Instanz geltende Recht für den Täter günstiger wäre. Zeigt sohin die spätere Gesetzgebung, daß das Unwerturteil über das zur Zeit der Begehung strafbare Verhaltung nachträglich milder oder ganz weggefallen ist, dann ist das günstigere Recht anzuwenden. War das Verhalten, das zur Tatzeit strafbar war, im Zeitpunkt der Fällung des Bescheides erster Instanz überhaupt nicht mehr strafbar, so ist ungeachtet des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung für diesen Fall nicht mehr zu bestrafen. Hat jedoch der Gesetzgeber das strafrechtliche Unwerturteil über die Nichtbefolgung der in Betracht kommenden Verpflichtung unverändert aufrechterhalten, so besteht trotz der aus der Bestimmung des § 1 Abs. 2 VStG abzuleitenden Grundsätze keine Handhabe, das zum Zeitpunkt der Tat strafbar gewesene Verhalten anders zu beurteilen, als es zu beurteilen gewesen wäre, wenn das Straferkenntnis erster Instanz noch vor Inkrafttreten der Änderung erlassen worden wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom 16. März 1994, Zl. 92/03/106 u. a.).
Das SPG hat bei den Tatbeständen der Störung der öffentlichen Ordnung und des aggressiven Verhaltens gegenüber Organen der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber Militärwachen (§§ 81 und 82 SPG) gegenüber Art. IX Abs. 1 Z. 1 und 2 EGVG Änderungen vorgenommen.
Die EBRV (148 Blg. NR 18. GP, 52) führen zu § 81 aus:
"Die Tatbestandsumschreibung entspricht in ihrem Aufbau jener des Art. IX Abs. 1 Z. 1, die Strafbarkeit wurde jedoch in zwei Punkten inhaltlich zurückgenommen. Nach geltendem Recht ist für die Störung der Ordnung ein Verhalten gefordert, das Ärgernis zu erregen geeignet ist; dieser Formulierung stellt bereits auf die Einschätzung durch andere und nicht auf die Intention des Täters ab. Daß insbesondere dies maßgeblich ist, soll nunmehr durch die Wendung "besonders rücksichtsloses Verhalten" verstärkt zum Ausdruck gebracht werden. Außerdem soll auch entscheidend sein, ob es eine Rechtfertigung für die Störung der Ordnung gibt. Hier wären insbesondere Verhaltensweisen zu berücksichtigen, die der Täter in Ausübung seiner Grund- und Freiheitsrechte gesetzt hat.
Auch hinsichtlich des Strafsatzes wurde eine Einschränkung vorgenommen: So wie bisher droht eine Geldstrafe bis zu S 3.000,--. Allerdings wurde hinsichtlich der Freiheitsstrafe, auf die als solche wegen ihrer spezialpräventiven Wirkung (§ 11 VStG) nicht verzichtet werden konnte, ein gespaltener Strafsatz eingeführt. Demnach wird ein Täter, der unter erschwerenden Umständen handelt, beim ersten Mal mit einer Freiheitsstrafe bis zu einer Woche bedroht, wogegen sich dann, wenn er neuerlich unter erschwerenden Umständen handelt - also im Wiederholungsfall - ein Strafsatz bis zu zwei Wochen ergibt."
Zu § 82 heißt es in den EBRV:
"Der Tatbestand des Art. IX Abs. 1 Z. 2 ist ebenfalls einer Einschränkung unterworfen worden. Zunächst wurden - ohne inhaltliche Änderung - die Worte "ungestüm benimmt" durch die Worte "aggressiv verhält" ersetzt, und dann wurde als zusätzliches Tatbestandsmerkmal, das kumulativ vorliegen muß, die Behinderung der Amtshandlung eingefügt. Damit ergibt sich, daß ein strafrechtliches Verhalten nur dann vorliegt, wenn zum aggressiven Verhalten die Behinderung der Amtshandlung hinzutritt."
Hinsichtlich des Strafsatzes gilt dasselbe, was bereits zur Störung der öffentlichen Ordnung gesagt wurde.
Da nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (z.B. Erkenntnis vom 11. November 1985, 84/10/0227) "ein Verhalten, das im unbefangenen Beobachter nicht nur den Eindruck des Unerlaubten, sondern auch des Schändlichen hervorruft", gegenüber einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes als Ordnungsstörung zu bestrafen ist, kann es in diesem Bereich zu einer nicht erwünschten Kumulation kommen. Dementsprechend wurde vorgesehen, daß Bestrafungen gemäß §§ 82 und 81 einander ausschließen."
Nicht jedes Verhalten, das den Tatbestand des Art. IX Abs. 1 Z. 1 bzw. Z. 2 EGVG erfüllte, verwirklicht auch das Tatbild der §§ 81 Abs. 1 bzw. 82 SPG. In dem von der Einfügung zusätzlicher Tatbestandselemente ("durch besonders rücksichtsloses Verhalten"; "ungerechtfertigt"; "eine Amtshandlung behindert") erfaßten Bereich hat der Gesetzgeber des SPG das Unwerturteil über nach Art. IX Abs. 1 Z. 1 und 2 EGVG strafbares Verhalten nicht aufrechterhalten. Somit sind schon aus diesem Grund die §§ 81 Abs. 1 und 82 SPG gegenüber Art. IX Abs. 1 Z. 1 und 2 EGVG die günstigere Strafnorm im Sinne des § 1 Abs. 2 VStG.
Hiezu kommt, daß § 81 Abs. 1 SPG gegenüber § 82 Abs. 1 leg. cit. nur subsidiär zur Anwendung kommt (§ 82 Abs. 2 SPG), ein Umstand, der ebenfalls Auswirkungen auf den Günstigkeitsvergleich im Sinne des § 1 Abs. 2 VStG hat (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. Oktober 1992, Zl. 92/10/0111).
Schließlich unterscheiden sich die Strafdrohungen des § 81 Abs. 1 und des § 82 Abs. 1 SPG auch insofern von jener des Art. IX Abs. 1 EGVG, als nach der letztgenannten Bestimmung für Übertretungen nach Z. 1 oder Z. 2 eine Geldstrafe bis zu S 3.000,--, bei Vorliegen erschwerender Umstände anstelle der Geldstrafe aber eine Arreststrafe bis zu zwei Wochen verhängt werden konnte, während § 81 Abs. 1 und § 82 Abs. 1 SPG bei Vorliegen erschwerender Umstände eine Freiheitsstrafe bis zu einer Woche, erst im Wiederholungsfall bis zu zwei Wochen, vorsehen. Auch insofern ist die Strafdrohung der §§ 81 Abs. 1 und 82 Abs. 1 SPG günstiger als jene des Art. IX EGVG. Daß es hiebei nicht darauf ankommt, welche Strafe tatsächlich über den Täter verhängt wurde, sondern auch die Strafdrohung, wurde bereits dargetan.
Die belangte Behörde hat daher dadurch, daß sie mit Art. IX Abs. 1 Z. 1 und 2 EGVG die unrichtigen Strafbestimmungen angewendet hat, ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhalts belastet.
Aus den dargestellten Erwägungen erweist sich der angefochtene Bescheid als inhaltlich rechtswidrig, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Der Ausspruch über den Kostenersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1995:1994100154.X00Im RIS seit
03.12.2001Zuletzt aktualisiert am
25.07.2014