Entscheidungsdatum
08.03.2024Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W294 2267937-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Konstantin Köck, LL.M, MBA, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Syrien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.01.2023, Zl. 1290647407/211870330, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.2.2024, zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Dr. Konstantin Köck, LL.M, MBA, LL.M. als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. am römisch 40 , StA. Syrien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.01.2023, Zl. 1290647407/211870330, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.2.2024, zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgangrömisch eins. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF), ein Staatsangehöriger Syriens, reiste über mehrere Länder nach Österreich ein, wo er am 03.12.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am selben Tag erfolgte die Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes.
Zum Fluchtgrund befragt, führte der BF an, dass es wegen dem Krieg schwer sei, in Syrien zu leben und er im Falle einer Rückkehr Angst um sein Leben habe.
Zu seinen persönlichen Umständen befragt, erklärte der BF, dass er der Religionszugehörigkeit des Islam und der Volksgruppe der Araber angehöre. Er sei in Deir ez-Zor geboren und habe in keine Berufsausbildung absolviert. Seine Eltern, seine beiden Schwestern und sechs Brüder seien in Syrien, ein Bruder und seine Ehefrau seien in der Türkei wohnhaft.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme am 23.11.2022 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) führte der BF auf die Frage, ob er sich vor seiner Ausreise in Syrien frei bewegen habe können aus, dass er nicht in Regierungsgebiete einreisen habe können, sich jedoch in Deir ez-Zor frei bewegen habe können. Zur Frage, ob er einen Einberufungsbefehl erhalten habe bzw. den Wehrdienst abgeleistet habe, entgegnete der BF, dass er im Jahr 2011 sein Militärbuch erhalten habe, die syrische Regierung aus seiner Region jedoch vertrieben worden sei und er keinen Einberufungsbefehl erhalten habe. Er habe in der Landwirtschaft sowie in der Türkei in zwei Fabriken gearbeitet und seine Ausreise durch den Verkauf eines Grundstückes finanziert. Von 2015 bis 2019 habe er sich in der Türkei aufgehalten, nach dem Jahr 2019 seien er und seine Ehefrau diskriminiert worden und es hätte kaum Erwerbsmöglichkeiten gegeben. Der BF gehöre der Religionszugehörigkeit der islamischen Sunniten und der Volksgruppe der Araber an. Er sei verheiratet und habe keine Kinder. Auf Nachfrage, wie es seiner Familie in Syrien gehe und auf die Frage, wer von seiner Familie in Syrien lebe, replizierte der BF, dass seine Eltern, seine fünf Brüder sowie zwei Schwestern im Herkunftsstaat leben würden. Ein Bruder lebe in der Türkei und ein Bruder lebe in Deutschland. Insgesamt gehe es seiner Familie gut. Die Fragen, ob er je an Kampfhandlungen teilgenommen habe oder Kontakt zum IS oder anderen bewaffneten oder extremistischen Gruppierungen gehabt habe, wurden vom BF verneint. Der BF habe auch nie persönlichen Kontakt zu kurdischen Gruppierungen gehabt und habe sich in Syrien nicht politisch betätigt bzw. habe auch seine politische Meinung nicht kundgetan. Die weitere Frage, ob er in seiner Heimat oder in einem anderen Land vorbestraft sei oder Strafrechtsdelikte begangen habe, wurde vom BF ebenfalls verneint. Zur Frage, ob er in der Heimat von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht werde, brachte der BF vor, dass er den Militärdienst nicht abgeleistet habe und deshalb die Möglichkeit bestehe, dass er gesucht werden könnte. Er stelle jedoch nur Mutmaßungen an, da ihm niemand zu Hause aufgesucht und niemand nach ihm gefragt habe. Vor seiner Ausreise sei seine Heimatregion nicht unter der Kontrolle syrischer Streitkräfte gestanden und es habe sich auch niemand nach seiner Person erkundigt. Die weiteren Fragen, ob er in seiner Heimat jemals von Behörden festgenommen oder verhaftet worden sei oder in seiner Heimat wegen seiner politischen Gesinnung, seiner Religion, seiner Volksgruppe oder seiner Nationalität oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden sei, wurden allesamt verneint.
Zum Fluchtgrund befragt, führte der BF an, dass er Syrien im Jahr 2017 verlassen habe und damals Angst gehabt habe, bei einem Checkpoint der syrischen Armee zum Militärdienst eingezogen zu werden, weswegen er Syrien verlassen habe. In weiterer Folge hätten die Daesh sein Haus aufgesucht und nach ihm gefragt, da er im Jahr 2015 einen Zettel unterschrieben habe, dass er das Land nicht verlassen werde. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien würde er zum Militärdienst eingezogen werden. Auf den Vorhalt, dass er zuvor angeführt habe, dass nach der Ausreise niemand bei ihm zu Hause gewesen sei und nach ihm gefragt habe, währenddessen er nunmehr jedoch anführe, dass sein Elternhaus 10 Tage nach seiner Ausreise von den Daesh aufgesucht worden sei, erwiderte der BF, dass die Daesh nur einmal bei ihm zu Hause gewesen seien, er jedoch nicht wisse, vom wem sie diese Informationen erhalten hätten bzw. wie er überhaupt auf die Daesh gekommen sei. Auf Nachfrage, wieso es seiner Familie im Gegensatz zu seiner Person möglich sei, in Syrien zu leben und ihm selbst nicht, replizierte der BF, dass er damals Probleme mit dem IS gehabt habe und wegen der allgemeinen Sicherheitslage nicht mehr nach Syrien zurückkehren habe können. Nachgefragt, wieso es seiner restlichen Familie im Gegensatz zu ihm selbst möglich sei, in Syrien zu leben, ihm selbst jedoch nicht, entgegnete der BF, dass er im Gegensatz zu seinen Brüdern, die keine Angst hätten, sich vor den IS Anhängern fürchte.
Im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme wurden vom BF ein Auszug aus dem Familienregister, ein Auszug des Reisepasses seines Vaters, ein Auszug des Reisepasses seiner Ehefrau und Auszüge des Familienbuches seines Vaters, seiner Ehefrau sowie ein eigener Auszug seines Familienbuches in Vorlage gebracht.
Mit Bescheid des BFA vom 11.01.2023, Zl. 1290647407/211870330, wurde der Antrag des BF vom 3.12.2021 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.). Die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte wurde dem BF für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.). Mit Bescheid des BFA vom 11.01.2023, Zl. 1290647407/211870330, wurde der Antrag des BF vom 3.12.2021 auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.). Die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte wurde dem BF für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
Begründend wurde ausgeführt, dass bei der Gegenüberstellung seiner beiden Einvernahmen klar erkennbar sei, dass die beiden Fluchtgeschichten stark voneinander abweichen würden. Einerseits habe er in der jüngsten Einvernahme angeführt, dass er Angst habe, dass er bei einer Kontrolle an einem Checkpoint zum Militär eingezogen werden würde, andererseits habe er in derselben Einvernahme angeführt, dass er keine Probleme bei den Straßenkontrollen gehabt habe. Anzumerken sei, dass der BF bis zur Ausreise gearbeitet habe und keine Einschränkungen bzw. Verfolgung erfahren habe. Des Weiteren sei nicht außer Acht zu lassen, dass seine Kernfamilie nach wie vor in Syrien lebe und den Lebensunterhalt bestreite, insbesondere seine Brüder, welche alle im wehrfähigen Alter seien und deshalb keine Probleme in Syrien hätten. Der BF habe weder politische noch religiöse Überzeugungen vorgebracht, welche vermuten lassen würden, dass dem BF seitens der syrischen Regierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde.
Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und führte aus, dass das BFA seiner Ermittlungspflicht nicht nachgekommen sei. Die belangte Behörde habe es verabsäumt, bei Unklarheiten naheliegende Fragen zu stellen bzw. Unklarheiten mit dem Übersetzer abzuklären sowie die genannten Parameter zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Das von der Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren sei grob mangelhaft gewesen, da diese ihrer Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts nicht nachgekommen sei. Sie stütze ihre Länderfeststellungen zur Situation in Syrien teilweise auf unvollständige Länderberichte und werte ihre eigenen Berichte nur unvollständig aus. Die belangte Behörde habe es zur Gänze unterlassen, sich zur Situation von Rückkehrer, der Sicherheitslage im Nordosten des Landes und der Situation von Personen aus einem regimekritischen Ort auseinanderzusetzen. Die Beweiswürdigung der Behörde entspreche nicht den Anforderungen des § 60 AVG, da sie in weiten Teilen aus Textbausteinen bestehe und sich mit dem individuellen Vorbringen des BF nicht auseinandersetze. Solche pauschalen oder abstrakten Begründungen, wie hier dargeboten worden seien, würden der Begründungspflicht der Behörde jedenfalls nicht. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. und führte aus, dass das BFA seiner Ermittlungspflicht nicht nachgekommen sei. Die belangte Behörde habe es verabsäumt, bei Unklarheiten naheliegende Fragen zu stellen bzw. Unklarheiten mit dem Übersetzer abzuklären sowie die genannten Parameter zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Das von der Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren sei grob mangelhaft gewesen, da diese ihrer Verpflichtung zur amtswegigen Erforschung des maßgebenden Sachverhalts nicht nachgekommen sei. Sie stütze ihre Länderfeststellungen zur Situation in Syrien teilweise auf unvollständige Länderberichte und werte ihre eigenen Berichte nur unvollständig aus. Die belangte Behörde habe es zur Gänze unterlassen, sich zur Situation von Rückkehrer, der Sicherheitslage im Nordosten des Landes und der Situation von Personen aus einem regimekritischen Ort auseinanderzusetzen. Die Beweiswürdigung der Behörde entspreche nicht den Anforderungen des Paragraph 60, AVG, da sie in weiten Teilen aus Textbausteinen bestehe und sich mit dem individuellen Vorbringen des BF nicht auseinandersetze. Solche pauschalen oder abstrakten Begründungen, wie hier dargeboten worden seien, würden der Begründungspflicht der Behörde jedenfalls nicht. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 14.02.2024 unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch im Beisein seines Rechtsvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der BF wurde zu seinen Fluchtgründen befragt und es wurde ihm Gelegenheit gegeben, alle Gründe darzulegen.
In einer Stellungnahme vom 28.2.2024 führte die bevollmächtigte Vertretung des BF nach eingeräumten Parteiengehör aus, dass ein Grenzübertritt aus der Türkei in das Gebiet der „Syrischen Heilsregierung“ (Syrian Salvation Army, SSG, kontrolliert von HTS) und in das Gebiet der Syrischen Interimsregierung (SIG, SNA grundsätzlich nur stark eingeschränkt und nur für bestimmte, privilegierte Personengruppen möglich sei. Da der BF nicht in den oa. privilegierten Personenkreis falle und über keinen syrischen Reisepass verfüge, sei ihm eine (legale) Einreise nach Al Tayyani über die Türkei ohne Kontakt mit dem Regime nicht möglich. Das syrische Regime betrachte Übertritte über Grenzübergänge außerhalb seiner Kontrolle (wie Semalka- Faysh Khabour) als illegal und diese könnten, so sie entdeckt werden würden, bei einer Weiterreise in Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung mit einer Haft- wie auch Geldstrafe geahndet werden. Aus der Berichtslage ergebe sich insbesondere auch, dass Personen, die (vermeintlich) den Selbstverteidigungsdienst der Kurden verweigert hätten, die Einreise regelmäßig verwehrt werde. Einige Quellen würden zudem berichten, dass das syrische Regime Kenntnis von jenen Personen erlange, die über den Grenzübergang Semalka einreisen würden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogenrömisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des BF und zu dessen Fluchtvorbringen
Der BF wurde im Dorf XXXX , Distrikt Al Tayyani, in der Provinz Deir ez-Zor geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er ist Angehöriger der arabischen Volksgruppe und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Arabisch.Der BF wurde im Dorf römisch 40 , Distrikt Al Tayyani, in der Provinz Deir ez-Zor geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Er ist Angehöriger der arabischen Volksgruppe und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Arabisch.
Der BF besuchte in Syrien die Grundschule besucht, keine Berufsausbildung absolviert und war vor seiner Einreise in Österreich in der Landwirtschaft sowie als Hilfsarbeiter in zwei Fabriken in der Türkei tätig. Er war von 2015 bis 2019 in der Türkei wohnhaft.
Die Herkunftsregion des BF, Al Tayyani, steht derzeit unter der Kontrolle der kurdisch geführten SDF [Anm.: Syrian Democratic Forces - Syrische Demokratischen Kräfte der selbsternannten Selbstverwaltungsregion, auch Autonomous Administration of North and East Syria – AANES). Die Stadt und der Großteil der Provinz Deir ez-Zor befindet sich jedoch unter Kontrolle syrischer Streitkräfte.
Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden psychischen oder physischen Erkrankungen und nimmt keine Medikamente ein.
Der BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2 Zu den Fluchtgründen des BF
Der BF ist bei einer Rückkehr nach Syrien in seine Herkunftsregion nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit der Einziehung oder Zwangsrekrutierung durch die syrische Armee ausgesetzt. Der BF hat den gesetzlich verpflichtenden Grundwehrdienst in der syrischen Armee zwar bislang noch nicht abgeleistet, doch steht die Herkunftsregion des BF nicht im Einfluss- oder Kontrollgebiet der syrischen Zentralregierung, sondern unter der Kontrolle der Kurden. Das Herkunftsgebiet des BF ist zudem ohne Kontakt zum syrischen Regime erreichbar.
In der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ sind Männer im Alter zwischen 18 und 24 Jahren (geboren 1998 oder später) zum „Wehrdienst“ verpflichtet. Der BF befindet sich mit 30 Jahren nicht mehr im wehrfähigen Alter für den Wehrdienst der kurdischen Milizen.
Im Falle einer Einziehung zum „Wehrdienst“ in der „Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien“ wäre der BF zudem auch nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zur Beteiligung an Kampfhandlungen verpflichtet. Er wäre nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verlegung an die Front ausgesetzt und müsste sich nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit an der Begehung von Menschenrechtsverletzungen beteiligen.
Es gab keine Versuche, bzw. hat der BF es nicht ausreichend konkret darlegen und glaubhaft machen können, dass dieser durch die syrischen Regime – Behörden oder durch kurdische Einheiten wie der SDF, QSD einer ausreichend glaubhaften, ihn unmittelbar konkret betreffenden Bedrohung oder einer ihn unmittelbar konkret betreffenden unmittelbaren Zwangsrekrutierung an seinem Herkunftsort im Gebiet der AANES vor seiner Ausreise ausgesetzt gewesen ist. Der BF erhielt vor seiner Ausreise aus Syrien keinen Einberufungsbefehl und hatte keine Probleme wegen seiner Teilnahme an Demonstrationen.
Der BF hat insgesamt nicht glaubhaft machen können, dass dieser an seinem Herkunftsort, der unter der Kontrolle von kurdischen Milizen steht und sich im Gebiet der AANES befindet, im Falle einer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer ihn unmittelbar konkreten Zwangsrekrutierung ausgesetzt wäre.
Dem BF droht an seinem Herkunftsort, der unter der Kontrolle von kurdischen Milizen der AANES steht, nicht die Einberufung/(zwangsweise) Einziehung in den Militärdienst des syrischen Regimes und keine Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung durch die syrische Regierung, den IS oder kurdischer Milizen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF von der syrischen Regierung, dem IS oder kurdischen Milizen wegen der Militärdienstleistung bzw. wegen Wehrdienstverweigerung unmittelbar konkret gesucht wurde bzw. wird.
Dem BF droht auch nicht die zwangsweise Rekrutierung durch eine andere Partei/durch einen anderen Akteur (etwa durch die Freie Syrische Armee oder kurdische Milizen) und läuft er auch nicht Gefahr, von diesen unmittelbar konkret asylrelevant verfolgt zu werden.
Der BF ist überdies auch nicht bedroht, von der syrischen Regierung, dem IS oder der SNA, bzw. von kurdischen Milizen als Oppositioneller/(politischer) Gegner angesehen zu werden.
Der BF ist in Syrien nie Mitglied einer bewaffneten Gruppierung gewesen und hat keine Strafrechtsdelikte begangen. Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.
Der BF hat insgesamt nicht glaubhaft machen können, dass dieser in Syrien einer ihn unmittelbar konkret persönlich betreffenden individuellen asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt war.
1.3 Zur Lage im Herkunftsstaat
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung 2023-07-10 12:55
Hinweis: Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports. Für historische Daten bis zum 10.3.2023 s. die Datenbank der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6. Weitere Informationen zu COVID-19 in Syrien und seine Auswirkungen sind, wo relevant, in den einzelnen Kapiteln zu finden, besonders im Kapitel Medizinische Versorgung.
Ein- und Ausreisemöglichkeiten können kurzfristigen Beschränkungen sowohl vonseiten Syriens als auch der Nachbarländer herrühren und werden daher nicht erschöpfend behandelt.
Angesichts der großen Zahl von Minderheiten und vor dem Hintergrund der Lage in Syrien wird die Praxis beibehalten, ausführliche Informationen zu einzelnen Gruppen bei Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen zur Verfügung zu stellen.
Zum Thema Wehr- und Reservedienst liegt eine Vielzahl an Informationen im COI-CMS und darüber hinaus in Anfragebeantwortungen auf. Wo relevant, werden diese Informationen kondensiert eingearbeitet, um den Rahmen des COI-CMS Syrien nicht zu sprengen.
Bei den Oppositionsorganisationen und den Rebellengruppen kommt es immer wieder zu Änderungen in Bezug auf Bündnisse, Zusammenschlüsse, Abspaltungen, Führungspositionen etc.. Die Vielfalt an Organisationen ist groß, viele Details bleiben unbekannt, bzw. sind nicht verifizierbar. Dementsprechend unterbleibt in der Länderinformation eine ausführliche Darstellung dieser Gruppen.
Am 6. Februar 2023 ereigneten sich zwei Erdbeben in der Region, welche besonders in der südlichen Türkei und im nordwestlichen Syrien mindestens 50.000 Menschenleben kosteten und großräumig schwere Schäden verursachten - siehe dazu vor allem das Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Generell besteht ein Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen unbeantwortet. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Auch die Österreichische Botschaft (ÖB) Damaskus ist nicht über alle, in allen Teilen Syriens vorherrschenden Zustände informiert. Gründe dabei sind neben dem mangelnden Zugang zu vielen Gebieten auch die Grenzen der zur Verfügung stehenden Quellen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten. In dem Zusammenhang sowie aufgrund von unterschiedlichen Erfassungsmethoden und Berichtszeitpunkten kann es vorkommen, dass bei manchen statistischen Angaben die Zahlen je nach Quelle variieren.
Vonseiten der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wird hier oder im Folgenden keinerlei Aussage über den Status oder die Anerkennung der außerhalb der Regimekontrolle befindlichen Gebiete im Norden Syriens getroffen.
Begriffserklärung: Die meisten Quellen sprechen von der syrischen Staatsführung als "Regime" und seltener von "Regierung". Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die in der Fachliteratur genannten Personen des "Regimes" nur teilweise deckungsgleich mit den Mitgliedern der offiziellen Regierung sind. Ein Teil der den Berichten zufolge mächtigsten Personen des syrischen Staates hatte nie ein Regierungsamt inne. So wird z. B. der Ministerpräsident üblicherweise nicht in der Aufzählung des innersten Machtzirkels genannt, die Innen- und Verteidigungsminister wie bestimmte hochrangige Militärs (auch Leiter von den Geheimdiensten) hingegen scheinen eher auf. In dieser Version des COI-CMS werden beide Begriffe abwechselnd verwendet.
Ausschlussgründe
Auch im Fall Syrien kann es Ausschlussgründe geben. Bei einem tatsächlich angetretenen Wehrdienst; bei Berufsmilitär (auch vor 2011); bei Mitarbeitern von Nachrichtendiensten oder der Polizei; bei Zugehörigkeit zu einer regierungstreuen Miliz; bei einer sonstigen problematischen Funktion für das Regime (z. B. in der Justiz); bei einem persönlichen oder geschäftlichen Naheverhältnis zur Regierung oder zu einzelnen Mitglieder des offiziellen wie inoffiziellen Machtzirkels um das Regime; bei Betätigung für bewaffnete Rebellengruppen (auch z. B. in zivilen Funktionen wie etwas Scharia-Gerichte) muss eine gesonderte Aufmerksamkeit darauf gelegt werden, ob Ausschlussgründe vorliegen könnten.
Es wird darauf hingewiesen, sich bei begründeten Verdachtsfällen so früh wie möglich an die zuständigen Stellen, sowie an das OSIF-Projekt der Staatendokumentation zu wenden (bfa-staatendokumentation-osif@bmi.gv.at) – wenn möglich, bereits vor der Einvernahme.
Anmerkung zu den Übersetzungen
Vgl. Disclaimer. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass Transliterationen der Eigennamen je nach Quelle variieren können.
Politische Lage
Letzte Änderung 2023-07-10 12:22
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 % des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023).
Interne Akteure haben das Kernmerkmal eines Staates - sein Gewaltmonopol - infrage gestellt und ausgehöhlt. Externe Akteure, die Gebiete besetzen, wie die Türkei in den kurdischen Gebieten, oder sich in innere Angelegenheiten einmischen, wie Russland und Iran, sorgen für Unzufriedenheit bei den Bürgern vor Ort (BS 23.2.2022). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In anderen Gebieten ist die zivile Politik im Allgemeinen den lokal dominierenden bewaffneten Gruppen untergeordnet, darunter die militante islamistische Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), die Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) und mit dem türkischen Militär verbündete Kräfte (FH 9.3.2023). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg, der nun in sein zwölftes Jahr geht, hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vgl. AA 29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum November 2022-März 2023] nicht wesentlich verändert (AA 29.3.2023). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Der Machtanspruch des syrischen Regimes wurde in den Gebieten unter seiner Kontrolle nicht grundlegend angefochten, nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden substanziellen militärischen Unterstützung Russlands bzw. Irans und Iran-naher Kräfte. Allerdings gelang es dem Regime nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol in diesen Gebieten durchzusetzen. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht (AA 29.3.2023). Der von den Vereinten Nationen geleitete Friedensprozess, einschließlich des Verfassungsausschusses, hat 2022 keine Fortschritte gemacht (HRW 12.1.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert (AA 29.3.2023). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell und sorgen dafür, dass diese nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden (HRW 12.1.2023).
Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vgl. Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).Im Äußeren gewannen die Bemühungen des Regimes und seiner Verbündeten, insbesondere Russlands, zur Beendigung der internationalen Isolation [mit Stand März 2023] unabhängig von der im Raum stehenden Annäherung der Türkei trotz fehlender politischer und humanitärer Fortschritte weiter an Momentum. Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon - (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen, wenngleich sich die Bewahrung der EU-Einheit in dieser Sache zunehmend herausfordernd gestaltet (AA 29.3.2023).
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2023-07-11 09:42
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach eine politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 70 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 29.3.2023). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) veröffentlichte eine Karte mit Stand Dezember 2022, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind. Es gibt Gebiete, in denen mehr als Akteur präsent ist (UNCOI 1.2023) [Anm.: die ausländischen Verbündeten des Regimes wie Iran, Russland und libanesische Hizbollah fehlen - siehe Karten weiter unten]:
Quelle: UNCOI 1.2023 (Stand: 12.2022)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
CC 12.6.2023 (Stand: 31.3.2023)
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu (UNHRC 14.9.2021). Der Sondergesandte des UN-Generalsekretärs für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden (UNSC 29.11.2022). Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen (AA 29.3.2023).
Die CoI stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den Vereinten Nationen benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind (EUAA 9.2022). Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018). Mitte des Jahres 2016 hatte die syrische Regierung nur ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der 'wichtigsten' Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt, kontrolliert (Reuters 13.4.2016). Aktuell sind die syrischen Streitkräfte mit Ausnahme von wenigen Eliteeinheiten technisch sowie personell schlecht ausgerüstet und können gerade abseits der großen Konfliktschauplätze nur begrenzt militärische Kontrolle ausüben (AA 29.3.2023).
Das Regime, Pro-Regime-Milizen wie die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces - NDF), bewaffnete Oppositionsgruppen, die von der Türkei unterstützt werden, die Syrian Democratic Forces (SDF), extremistische Gruppen wie Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und IS (Islamischer Staat), ausländische Terrorgruppen wie Hizbollah sowie Russland, Türkei und Iran sind während des Jahres im Land in den bewaffneten Konflikt involviert (USDOS 20.3.2023) [Anm.: zu israelischen und amerikanischen Militäraktionen siehe u.a. Unterkapitel Gouvernement Deir ez-Zor / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet und Unterkapitel Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien]. Es kann laut Einschätzung des deutschen Auswärtigen Amts im gesamten Land jederzeit zu militärischer Gewalt kommen. Gefahr kann dabei einerseits von Kräften des Regimes gemeinsam mit seinen Verbündeten Russland und Iran ausgehen, welches unverändert das gesamte Staatsgebiet militärisch zurückerobern will und als Feinde betrachtete „terroristische“ Kräfte bekämpft. Das Regime ist trotz begrenzter Kapazitäten grundsätzlich zu Luftangriffen im gesamten Land fähig, mit Ausnahme von Gebieten unter türkischer oder kurdischer Kontrolle sowie in der von den USA kontrollierten Zone rund um das Vertriebenenlager Rukban an der syrisch-jordanischen Grenze. Nichtsdestotrotz basiert seine militärische Durchsetzungsfähigkeit fast ausschließlich auf der massiven militärischen Unterstützung durch die russische Luftwaffe und Einheiten Irans, bzw. durch seitens Irans unterstützte Milizen, einschließlich Hizbollah. Wenngleich offene Quellen seit August 2022 den Abzug militärischer Infrastruktur (insb. Luftabwehrsystem S-300) vermelden, lassen sich Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf die russische Einsatzfähigkeit in Syrien bislang nicht substantiieren. Die Menschenrechtsorganisation Syrians for Truth and Justice (STJ) behauptet, dass Russland syrische Söldner u.a. aus den Streitkräften für den Kampfeinsatz in der Ukraine abwirbt. Unter Bezug auf syrische Militärangehörige sowie Familien der Söldner spricht STJ von 300 syrischen Kämpfern, die im Zeitraum Juni bis September 2022 nach Russland oder Ukraine verlegt worden seien. Mehrere von ihnen seien laut einer unbestätigten Mitteilung der rekrutierenden al-Sayyad Company for Guarding and Protection Services, welche der russischen Wagner-Gruppe zugeschrieben wird, gefallen (AA 29.3.2023). Russland hatte noch z.B. im Oktober 2022 seine Luftangriffe in der Provinz Idlib verstärkt (ICG 10.2022).
Die folgende Karte zeigt die verschiedenen internationalen Akteure und deren militärische Interessenschwerpunkte in Syrien:
Zenith 11.2.2022
Auch wenn die militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes erklärtes Ziel des Regimes bleibt, zeichnet sich eine Rückeroberung weiterer Landesteile durch das Regime derzeit nicht ab. Im Nordwesten des Landes werden Teile der Gouvernements Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation eingestufte Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkei-nahe bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Die Gebiete im Norden und Nordosten entlang der Grenze zur Türkei stehen in Teilen unter Kontrolle der Türkei und der ihr nahestehenden bewaffneten Gruppierungen und in Teilen unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) und in einigen Fällen auch des syrischen Regimes (AA 29.11.2021).
Im Jahr 2022 hielten die Kämpfe im nördlichen Syrien mit Beteiligten wie den Regimetruppen, den SDF, HTS sowie türkischen Streitkräften und ihren Verbündeten an (FH 9.3.2023). Türkische Militäroperationen gegen die Arbeiterpartei Kurdistan (Partiya Karkerên Kurdistan - PKK) umfassen gelegentliche Gefechte an der syrisch-türkischen Grenze (ICG 2.2022). Am Vorabend des 20.11.2022 begann die türkische Luftwaffe eine Offensive in Nordsyrien unter dem Namen 'Operation Claw-Sword', die nach türkischen Angaben auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte und der syrischen Streitkräfte abzielte, aber auch ein Behandlungszentrum für Covid-19, eine Schule, Getreidesilos, Kraftwerke, Tankstellen, Ölfelder und eine häufig von Zivilisten und Hilfsorganisationen genutzte Straße traf (HRW 7.12.2022). Die Türkei führte seit 2016 bereits eine Reihe von Offensiven im benachbarten Syrien durch (France 24 20.11.2022). Bei früheren Einmärschen kam es zu Menschenrechtsverletzungen (HRW 7.12.2022). Die türkischen Militäroperationen trieben Tausende Menschen in die Flucht und stellten 'eine ernste Bedrohung für ZivilistInnen' in den betroffenen Gebieten dar. Kämpfe zwischen den pro-türkischen Gruppen ermöglichten Vorstöße der HTS (FH 9.3.2023). Im Nordwesten Syriens führte im Oktober 2022 das Vordringen der HTS in Gebiete, die unter Kontrolle der von der Türkei unterstützten Gruppen standen, zu tödlichen Zusammenstößen (ICG 10.2022).
Im Gouvernement Dara'a kam es 2022 weiterhin zu Gewalt zwischen Regimekräften und lokalen Aufständischen trotz eines nominellen Siegs der Regierung im Jahr 2018 und eines von Russland vermittelten 'Versöhnungsabkommens'. Eine allgemeine Verschlechterung von Recht und Ordnung trägt in der Provinz auch zu gewalttätiger Kriminalität bei (FH 9.3.2023).
Das syrische Regime, und damit die militärische Führung, unterscheiden nicht zwischen Zivilbevölkerung und „rein militärischen Zielen“ (BMLV 12.10.2022). Human Rights Watch kategorisiert einige Angriffe des syrisch-russischen Bündnisses als Kriegsverbrechen, die auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnten. In Idlib mit seinen über drei Millionen Zivilbevölkerung kommt es trotz eines wackeligen Waffenstillstandes demnach weiterhin zu verbotenen Angriffen durch das Bündnis. Auch die von den USA angeführte Koalition gegen den Islamischen Staat (IS) verletzte internationales Recht durch unterschiedslose Luftschläge in Nordostsyrien, welche zivile Todesopfer und Zerstörung verursachten (HRW 13.1.2022).
Seit Beginn 2023 wurden mit Stand 1.5.2023 auch 258 ZivilistInnen durch andere Akteure (als dem Regime) getötet, somit 75 Prozent aller zivilen Toten in diesem Jahr. Viele von ihnen wurden beim Trüffelsuchen getötet, und dazu kommen auch Todesfälle durch Landminen. Außerdem bietet die Unsicherheit in vielen Gebieten ein passendes Umfeld für Schießereien durch nicht-identifzierte Akteure (SNHR 1.5.2023).
Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS)
Der IS kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS von den oppositionellen SDF erobert (DZ 24.3.2019). Im Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem US-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi beging im Februar 2022 beim Eintreffen einer US-Spezialeinheit im Gouvernement Idlib Selbstmord. Als sein Nachfolger wurde Abu Hassan al-Hashemi al-Quraishi ernannt (EUA