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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art10 Abs1 Z7Leitsatz
Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte betreffend das Verhüllungsverbot; weiter Ermessensspielraum des Gesetzgebers zur Förderung von Integration durch Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und Sicherung des friedlichen Zusammenlebens; keine kompetenzrechtlichen Bedenken gegen das Anti-GesichtsverhüllungsverbotsGRechtssatz
Die Gesichtsverhüllung verhindert das Erkennen des Gesichts einer anderen Person in der Öffentlichkeit, das aber eine notwendige Voraussetzung für die zwischenmenschliche Kommunikation darstelle, deren Ermöglichung eine wesentliche Funktionsbedingung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat sei. Der Gesetzgeber wertet damit die Gesichtsverhüllung (zumindest auch) als äußeres Zeichen der Nichtkommunikation, das sozialer Interaktion entgegensteht.
Die Ermöglichung sozialer Kommunikation bzw den Schutz zwischenmenschlicher Kommunikation hat der EGMR anerkannt, indem er die Frage, ob es erlaubt sein soll, an öffentlichen Orten einen Gesichtsschleier zu tragen, als eine Wahl der Gesellschaft ("choice of society") ansieht, in der dem nationalen Staat ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, innerhalb dessen er die Rahmenbedingungen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens festlegen bzw sicherstellen darf (EGMR 01.07.2014 (GK) 43.835/11, S.A.S.). Der Eingriff des französischen Verbotes in das Recht auf Privatleben und in das Recht auf Religionsausübungsfreiheit nach Art8 bzw Art9 EMRK verfolgt ein legitimes Ziel. Gemäß EGMR 11.07.2017, 37.798/13, Belcacemi und Oussar, ist in Bezug auf ein den französischen Vorschriften nahekommendes belgisches Gesetz zum Verbot des Tragens von das Gesicht vollständig oder hauptsächlich verdeckenden Kleidungsstücken Art8 und Art9 EMRK nicht verletzt.
Der EGMR erkennt dem nationalen Staat in der Frage, ob es erlaubt sein soll, seine Gesichtszüge in der Öffentlichkeit zu verhüllen, einen weiten Ermessensspielraum zu. Mit dem Verbot des §2 Abs1 AGesVG hat der Gesetzgeber diese Frage in dem Sinne geregelt, dass er die Verhüllung und das Verbergen der Gesichtszüge in der Öffentlichkeit verbietet. Der VfGH kann nicht erkennen, dass der Gesetzgeber mit dieser Regelung seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum überschritten hat.
Im Übrigen hat der VfGH auch keine kompetenzrechtlichen Bedenken gegen das AGesVG. Die Erläuterungen zur Regierungsvorlage des AGesVG stufen das Erkennen der Gesichtszüge einer Person in der Öffentlichkeit als wesentliche Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat ein. Regelungen, deren Befolgung als Voraussetzung für ein funktionierendes Zusammenleben in der Gesellschaft wesentlich ist, sind vom Kompetenztatbestand des Art10 Abs1 Z7 B-VG ("Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung") erfasst.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Privat- und Familienleben, Rechtspolitik, Meinungsäußerungsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Verwaltungsstrafrecht, GeldstrafeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2024:E4003.2023Zuletzt aktualisiert am
14.10.2024