TE Vfgh Erkenntnis 1993/3/13 B509/92, B781/92, B789/92

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Veröffentlicht am 13.03.1993
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8
PaßG 1969 §25 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Versagung der Erteilung eines Sichtvermerks infolge denkunmöglicher Anwendung von aus Anlaß der vorliegenden Beschwerden geprüften und nicht als verfassungswidrig aufgehobenen Bestimmungen des PaßG 1969

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Bescheide im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Die Bescheide werden aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern, jeweils zu Handen ihrer Rechtsvertreter, die mit je S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) L C, ein ungarischer Staatsangehöriger, beantragte am 8. Mai 1991 bei der Bundespolizeidirektion (BPD) Wien die Erteilung eines befristeten Sichtvermerkes für die mehrmalige Wiedereinreise nach Österreich.

Mit Bescheid vom 9. März 1992 gab die BPD Wien diesem Antrag gemäß §25 Abs3 lite des Paßgesetzes 1969, BGBl. 422, keine Folge. Dies wird damit begründet, daß der Sichtvermerkswerber keine Ersparnisse nachweisen könne und kein regelmäßiges Einkommen beziehe; sein weiterer Aufenthalt in Österreich könnte daher zu einer finanziellen Belastung der Republik Österreich führen. Mit dem - der Behörde bekannten - Umstand, daß sich die Ehefrau des Beschwerdeführers legal in Österreich aufhielt, beschäftigt sich der Bescheid nicht.

b) G A und M D, beide türkische Staatsangehörige, deren Ehepartner in Österreich leben, beantragten am 12. bzw. am 25. März 1992 bei der BPD Wien die Erteilung von Sichtvermerken für die mehrmalige Wiedereinreise nach Österreich.

Mit Bescheiden vom 5. Juni 1992 und 22. April 1992 gab die BPD Wien diesen Anträgen gemäß §25 Abs3 litd PaßG 1969 keine Folge. Es sei die Annahme gerechtfertigt, daß der Aufenthalt der Sichtvermerkswerber im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde, seien diese doch illegal nach Österreich eingereist und hätten sie sich doch illegal in Österreich aufgehalten.

2. Gegen diese Bescheide wenden sich die vorliegenden, an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Beschwerden, und zwar jene des

L C zu B509/92, jene der G A zu B781/92 und jene des M D zu B789/92.

Alle Beschwerden werden auf Art144 Abs1 B-VG gestützt. In ihnen wird (insbesondere) die Verletzung des durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Bescheide, hilfsweise die Abtretung der Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof beantragt.

3. Die BPD Wien legte die Akten der Verwaltungsverfahren vor und erstattete Gegenschriften. Darin wird primär begehrt, die Behandlung der Beschwerden abzulehnen, in eventu diese abzuweisen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerden erwogen:

1. Der Verfassungsgerichtshof hat u.a. aus Anlaß dieser Beschwerden sowie aus Anlaß von Gesetzesaufhebungsanträgen des Verwaltungsgerichtshofes die Verfassungsmäßigkeit des §25 Abs3 litb, d und e PaßG 1969 geprüft. Mit Erkenntnis vom heutigen Tag, G212-215/92 u.a. Zlen., stellte er fest, daß diese Gesetzesbestimmungen nicht verfassungswidrig waren. Er legte jedoch dar, daß im Sinne einer gebotenen verfassungskonformen Auslegung die im §25 Abs3 litd und e PaßG 1969 enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe vor dem Hintergrund des Art8 Abs2 EMRK zu sehen und restriktiv zu interpretieren sind.

Die Behörde hatte sich also bei Vollziehung der litd und e des §25 Abs3 PaßG 1969 damit auseinanderzusetzen, ob ein Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit derart gefährden würde (litd) oder zu einer solchen finanziellen Belastung der Republik Österreich führen könnte (lite), daß die im Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen einen Eingriff in das Privat- und Familienleben des Antragstellers rechtfertigen.

2.a) Ein Eingriff in das durch Art8 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

b) Ein solcher Fehler ist der BPD Wien in den gegenständlichen Fällen anzulasten:

Wie in der Sachverhaltsdarstellung (s.o. I.) geschildert, waren die engen familiären Beziehungen der Beschwerdeführer zu in Österreich lebenden Familienangehörigen evident. Die Behörde ging jedoch in den bekämpften Erledigungen davon aus, daß sie sich bei Vollziehung des §25 Abs3 litd (B781/92 und B789/92) und des §25 Abs3 lite (B509/92) PaßG 1969 nicht damit auseinanderzusetzen habe, ob durch die Sichtvermerksversagung das Privat- und Familienleben (Art8 EMRK) der Sichtvermerkswerber tangiert wird. In dem zu B789/92 angefochtenen Bescheid bringt sie diese Auffassung explizit zum Ausdruck. In den zu B509/92 und B781/92 bekämpften Bescheiden wird die erwähnte Frage zwar nicht erörtert, jedoch mußten der Behörde die familiären und privaten Bindungen der Beschwerdeführer - wie sich aus den vorgelegten Verwaltungsakten ergibt - bekannt gewesen sein.

Die erwähnte Interpretation des §25 Abs3 litd und e PaßG 1969 durch die belangte Behörde unterstellt nun aber - wie im oben unter II.1. zitierten Erkenntnis nachgewiesen wird - dem Gesetz fälschlicherweise einen verfassungswidrigen Inhalt.

Die angefochtenen Bescheide waren sohin wegen Widerspruchs zu Art8 EMRK aufzuheben.

Bemerkt wird, daß die Ersatzbescheide auf die neue Rechtslage zu stützen sein werden. (Das PaßG 1969 wurde durch das Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992, und das Paßgesetz 1992, BGBl. 839/1992, abgelöst. Das PaßG 1969 trat mit 1. Jänner 1993 außer Kraft (§25 Abs2 PaßG 1992).)

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von je S 2.500,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Paßwesen, Auslegung verfassungskonforme, Privat- und Familienleben, Sichtvermerk, VfGH / Anlaßfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1993:B509.1992

Dokumentnummer

JFT_10069687_92B00509_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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