TE Vfgh Erkenntnis 1993/3/13 B819/92

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Veröffentlicht am 13.03.1993
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8
PaßG 1969 §25 Abs3

Leitsatz

Im E v 13.03.93, G212-215/92 ua., legte der Verfassungsgerichtshof zu §25 Abs3 litb PaßG 1969 ua. dar, daß diese Bestimmung nur dann angewendet werden konnte, wenn sich der Sichtvermerkswerber im Ausland aufhielt und die Einreise nach Österreich anstrebte, wo er nur kurzfristig (nicht für dauernd) zu bleiben wünschte. Der Beschwerdeführer hielt sich zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen, den Antrag auf Erteilung eines auf ein Jahr befristeten Sichtvermerkes abweisenden Bescheides in Österreich auf, sodaß es denkunmöglich war, die Versagung des Sichtvermerkes auf §25 Abs3 litb PaßG 1969 zu gründen. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Widerspruches zu Art8 EMRK aufzuheben.

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Ber Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit S 16.500,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, der Anfang März 1992 von Deutschland nach Österreich eingereist war, beantragte am 24. April 1992 bei der Bezirkshauptmannschaft (BH) Reutte die Erteilung eines auf ein Jahr befristeten Sichtvermerkes.

Mit Bescheid vom 13. Mai 1992 wies die BH Reutte diesen Antrag gemäß §25 Abs3 litb PaßG 1969, BGBl. 422, ab. Dies wird im wesentlichen damit begründet, daß sich der Sichtvermerkswerber lediglich auf Grund eines deutschen Besuchervisums (das nur erlaube, das österreichische Bundesgebiet zu betreten und hier bis zu drei Monate zu verweilen) in Österreich aufhalte und auf diese Weise die Regeln über eine geordnete "Familiennachführung" (seine Gattin - gleichfalls eine türkische Staatsangehörige - lebt und arbeitet legal in Österreich) zu umgehen versuche; außerdem habe er keine Arbeitsbewilligung.

2. Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende, an den Verfassungsgerichtshof gerichtete, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde. Darin wird insbesondere die Verletzung des durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt.

3. Die BH Reutte legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der der Antrag auf Abweisung der Beschwerde gestellt wird.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Der Verfassungsgerichtshof hat aus Anlaß dieser und anderer Beschwerden sowie aus Anlaß von Gesetzesaufhebungsanträgen des Verwaltungsgerichtshofes die Verfassungsmäßigkeit des §25 Abs3 litb, d und e PaßG 1969 geprüft. Mit dem beiliegenden Erkenntnis vom heutigen Tag, G212-215/92 u.a. Zlen., stellte er fest, daß diese Gesetzesbestimmungen nicht verfassungswidrig waren. Zu §25 Abs3 litb legte er u.a. dar, daß diese Bestimmung nur dann angewendet werden konnte, wenn sich der Sichtvermerkswerber im Ausland aufhielt und die Einreise nach Österreich anstrebte, wo er nur kurzfristig (nicht für dauernd) zu bleiben wünschte. Lagen die in §25 Abs3 litb PaßG 1969 normierten Voraussetzungen für eine Versagung der Sichtvermerkserteilung tatsächlich vor, so blieb - wie im erwähnten Erkenntnis dargelegt wird - der Behörde kein Beurteilungsspielraum, der ihr erlauben würde, auf die persönlichen Verhältnisse des Fremden Rücksicht zu nehmen.

2.a) Im zitierten Erkenntnis wird ausgeführt, daß die Versagung einer Sichtvermerkserteilung in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen kann.

b) Ein Eingriff in dieses - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

c) Ein solcher Fehler ist der Behörde im vorliegenden Fall anzulasten. Der Beschwerdeführer hielt sich nämlich zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen, den Antrag auf Erteilung eines auf ein Jahr befristeten Sichtvermerkes abweisenden Bescheides in Österreich auf, sodaß es nach den obigen Ausführungen (II.1) denkunmöglich war, die Versagung des Sichtvermerkes auf §25 Abs3 litb PaßG 1969 zu gründen.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Widerspruches zu Art8 EMRK aufzuheben.

d) Der Ersatzbescheid wird auf die neue Rechtslage (Fremdengesetz - FrG, BGBl. 838/1992) zu stützen sein. Hiebei wird die belangte Behörde zu erwägen haben, ob andere Gründe als jener des §10 Abs2 FrG (dieser entspricht im wesentlichen dem §25 Abs3 litb PaßG 1969) für eine Versagung des Sichtvermerkes vorliegen; dabei werden aber die Ausführungen im oben zitierten Erkenntnis G212-215/92 sinngemäß zu beachten sein.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. Von den zugesprochenen Kosten entfallen S 12.500,-- (+ 20 % USt) auf die Beschwerde und S 1.250,-- (+ 20 % USt) auf den abverlangten, den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung betreffenden Schriftsatz. Die begehrten Kosten für die im Gesetzesprüfungsverfahren erstattete "Stellungnahme" waren nicht zuzuerkennen, weil diese Äußerung nicht abverlangt war.

In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.750,-- enthalten.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

VfGH / Anlaßfall, Paßwesen, Sichtvermerk, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1993:B819.1992

Dokumentnummer

JFT_10069687_92B00819_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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