Entscheidungsdatum
21.06.2024Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
L502 2271580-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 08.03.2023, FZ. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.05.2024 zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von römisch 40 , geb. römisch 40 , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch die römisch 40 , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 08.03.2023, FZ. römisch 40 , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.05.2024 zu Recht:
A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 11.07.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am Tag darauf erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Dabei legte er seinen türkischen Personalausweis vor, der behördlich sichergestellt wurde.
3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) stellte am 19.07.2022 ein Informationsersuchen nach Art. 34 der Dublin-III-Verordnung an Griechenland.3. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) stellte am 19.07.2022 ein Informationsersuchen nach Artikel 34, der Dublin-III-Verordnung an Griechenland.
4. Mit Schreiben vom 29.07.2022 teilte die griechische Dublin-Behörde mit, dass das Asylverfahren des BF mit 19.09.2021 eingestellt worden sei.
5. Am 28.02.2023 wurde er beim BFA zu seinem Antrag auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Im Zuge dessen brachte er mehrere Artikel und Lichtbilder in Vorlage.
6. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 08.03.2023 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt VI).6. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 08.03.2023 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins). Gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt römisch II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt römisch III). Gemäß Paragraph 10, Absatz eins, Ziffer 3, AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß Paragraph 52, Absatz 2, Ziffer 2, FPG erlassen (Spruchpunkt römisch IV) und gemäß Paragraph 52, Absatz 9, FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß Paragraph 46, FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf). Gemäß Paragraph 55, Absatz eins bis 3 FPG wurde ihm eine 14-tägige Frist zur freiwilligen Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung eingeräumt (Spruchpunkt römisch VI).
7. Mit Information des BFA vom 10.03.2023 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.7. Mit Information des BFA vom 10.03.2023 wurde ihm von Amts wegen gemäß Paragraph 52, BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.
8. Gegen den ihm am 14.03.2023 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner zugleich bevollmächtigten Vertretung vom 11.04.2023 innerhalb offener Frist Beschwerde in vollem Umfang erhoben.
9. Mit 10.05.2023 langte die Beschwerdevorlage des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren der nunmehr zuständigen Abteilung des Gerichts zur Entscheidung zugewiesen.
10. Mit elektronischer Eingabe vom 05.09.2023 übermittelte die Vertretung des BF dem BVwG eine Stellungnahme. Es wurden dabei ärztliche Befunde des BF vorgelegt.
11. Das BVwG führte am 15.05.2024 eine mündliche Verhandlung in der Sache des BF in dessen Anwesenheit und der seiner rechtlichen Vertretung durch. Er legte im Zuge dessen eine Beschäftigungsbewilligung des AMS und einen Lohnzettel vor, die in Kopie zum Akt genommen wurden. Dem BF wurden Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und wurde ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen einer Woche eine Stellungnahme abzugeben.
12. Mit Eingabe vom 21.05.2024 übermittelte die rechtliche Vertretung des BF eine Stellungnahme zu den Länderinformationen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1.Feststellungen:
1.1. Der oben wiedergegebene Verfahrensgang steht fest.
1.2. Die Identität des BF steht fest. Er ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und ohne Bekenntnis. Er ist ledig und hat keine Kinder.
Er stammt aus XXXX aus der Provinz XXXX und lebte zeitweise auch in Izmir, Mersin und Gaziantep. Er besuchte in der Türkei sieben Jahre die Schule, war im Anschluss als Frisör und zuletzt als Gartengestalter erwerbstätig. Seine Eltern und ein Bruder von ihm bewohnen ein Haus in XXXX , das in ihrem Eigentum steht. Darüber hinaus verfügt er noch über weitere familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Sein Bruder ist in der Türkei selbständig erwerbstätig. Er hat mit seinen Verwandten im Herkunftsstaat nach wie vor Kontakt. Zwei seiner Brüder leben in Deutschland, ein Bruder ist in Montenegro aufhältig.Er stammt aus römisch 40 aus der Provinz römisch 40 und lebte zeitweise auch in Izmir, Mersin und Gaziantep. Er besuchte in der Türkei sieben Jahre die Schule, war im Anschluss als Frisör und zuletzt als Gartengestalter erwerbstätig. Seine Eltern und ein Bruder von ihm bewohnen ein Haus in römisch 40 , das in ihrem Eigentum steht. Darüber hinaus verfügt er noch über weitere familiäre Anknüpfungspunkte in der Türkei. Sein Bruder ist in der Türkei selbständig erwerbstätig. Er hat mit seinen Verwandten im Herkunftsstaat nach wie vor Kontakt. Zwei seiner Brüder leben in Deutschland, ein Bruder ist in Montenegro aufhältig.
Er hat seinen Herkunftsstaat im November 2019 verlassen und reiste nach Griechenland, wo er am 08.11.2019 einen Asylantrag stellte. Ohne den Ausgang des Verfahrens abzuwarten reiste er über Albanien und Montenegro nach Serbien weiter, wo er sich mehr als zwei Jahre aufhielt und illegal bei einem Frisör beschäftigt war. Über Ungarn reiste er nach Österreich weiter, wo er am 11.07.2022 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.
1.3. Der BF hat keine Verwandte oder maßgebliche private Anknüpfungspunkte in Österreich. Aktuell bewohnt er eine Einzimmerwohnung in XXXX . 1.3. Der BF hat keine Verwandte oder maßgebliche private Anknüpfungspunkte in Österreich. Aktuell bewohnt er eine Einzimmerwohnung in römisch 40 .
Er bezog von 12.07.2022 bis 23.03.2023 Leistungen der staatlichen Grundversorgung.
Mit Bescheid vom 14.03.2023 wurde einem damaligen Arbeitgeber des BF vom Arbeitsmarktservice (AMS) eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Friseur bis 13.03.2024 erteilt. Von 24.03.2023 bis 15.05.2023 war er als Frisör erwerbstätig. Mit Bescheid des AMS vom 26.05.2023 wurde zu seinen Gunsten eine bis 25.05.2024 gültige Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Autoaufbereiter im Ausmaß von 40 Wochenstunden erteilt. Seit 06.06.2023 arbeitet er als Autoaufbereiter und bringt damit monatlich ca. EUR XXXX netto ins Verdienen. Er ist gesund und arbeitsfähig.Mit Bescheid vom 14.03.2023 wurde einem damaligen Arbeitgeber des BF vom Arbeitsmarktservice (AMS) eine Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Friseur bis 13.03.2024 erteilt. Von 24.03.2023 bis 15.05.2023 war er als Frisör erwerbstätig. Mit Bescheid des AMS vom 26.05.2023 wurde zu seinen Gunsten eine bis 25.05.2024 gültige Beschäftigungsbewilligung für die berufliche Tätigkeit als Autoaufbereiter im Ausmaß von 40 Wochenstunden erteilt. Seit 06.06.2023 arbeitet er als Autoaufbereiter und bringt damit monatlich ca. EUR römisch 40 netto ins Verdienen. Er ist gesund und arbeitsfähig.
Er spricht Kurdisch und Türkisch. Er verfügt über keine maßgeblichen Deutschkenntnisse und hat bisher noch keinen Deutschkurs besucht.
Er ist im Bundesgebiet strafgerichtlich unbescholten.
1.4. Er hat die Türkei nicht aufgrund individueller Verfolgung durch staatliche Organe oder Dritte verlassen und ist auch bei einer Rückkehr dorthin nicht der Gefahr einer solchen ausgesetzt.
Er ist bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor. Er leidet unter keinen gravierenden Erkrankungen.
1.5. Zur Lage in der Türkei:
Kurden
Demografie und Selbstdefinition
Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S.35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 47, UKHO 10.2023b, S. 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, S. 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji („Kurdisch“) verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, S. 47). Die kurdische Volksgruppe hat laut Schätzungen ca. 20 % Anteil an der Gesamtbevölkerung und lebt zum Großteil im Südosten des Landes sowie in den südlichen und westlich gelegenen Großstädten Adana, Antalya, Gaziantep, Mersin, Istanbul und Izmir (ÖB Ankara 28.12.2023, S.35; vergleiche MBZ 31.8.2023, Sitzung 47, UKHO 10.2023b, Sitzung 6). Die kurdische Bevölkerung konzentriert sich auf Südost-Anatolien, wo sie die Mehrheit bildet, und auf Nordost-Anatolien, wo sie eine bedeutende Minderheit darstellt. In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung der Türkei in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Ost- und Südost-Türkei sind historisch gesehen weniger entwickelt als andere Teile des Landes, mit niedrigeren Einkommen, höheren Armutsraten, weniger Industrie und weniger staatlichen Investitionen. Die kurdische Bevölkerung ist sozio-ökonomisch vielfältig. Während viele sehr arm sind, vor allem in ländlichen Gebieten und im Südosten, wächst in städtischen Zentren eine kurdische Mittelschicht, vor allem im Westen der Türkei (DFAT 10.9.2020, Sitzung 20). Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit in der Türkei, jedoch liegen keine Angaben über deren genaue Größe vor. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. - Erstens wird bei den türkischen Volkszählungen die ethnische Zugehörigkeit der Menschen nicht erfasst. Zweitens verheimlichen einige Kurden ihre ethnische Zugehörigkeit, da sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer kurdischen Herkunft befürchten. Und Drittens ist es nicht immer einfach zu bestimmen, wer zum kurdischen Teil der Bevölkerung gehört. So identifizieren sich Sprecher des Zazaki - einer Sprachvariante, die mit Kurmandji („Kurdisch“) verwandt ist - teils als Kurden und teils eben als eine völlig separate Bevölkerungsgruppe (MBZ 31.8.2023, Sitzung 47).
Allgemeine Situation, politische Orientierung und Vertretung
Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, S. 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, S. 21; vgl. UKHO 10.2023b, S. 8f.). Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S.35; vgl. MBZ 31.8.2023, S. 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari’a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdo?an, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdo?an. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vgl. Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. ?ehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass „das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt“ hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023). Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019). Es gibt Belege für eine anhaltende gesellschaftliche Diskriminierung von Kurden und zahlreiche Berichte über rassistische Angriffe gegen Kurden (auch) im Jahr 2023. In einigen Fällen wurden diese Angriffe möglicherweise nicht ordnungsgemäß untersucht oder nicht als rassistisch erkannt (UKHO 10.2023b, Sitzung 8f.). Umfang und Form dieser Diskriminierung hängen von der geografischen Lage und den persönlichen Umständen ab. Kurden in der West-Türkei sind nicht mit dem gleichen Risiko konfliktbezogener Gewalt konfrontiert wie im Südosten. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, und diejenigen, die die Regierungspartei AKP unterstützen, sind in die türkische Gesellschaft integriert und identifizieren sich mit der türkischen Nation. Menschenrechtsbeobachter berichten jedoch, dass einige Kurden in der West-Türkei zögern, ihre kurdische Identität preiszugeben, etwa durch die Verwendung der kurdischen Sprache in der Öffentlichkeit, aus Angst, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren. Im Südosten sind diejenigen, die in kurdischen politischen oder zivil-gesellschaftlichen Organisationen tätig sind (oder als solche aktiv wahrgenommen werden), einem höheren Risiko ausgesetzt als nicht politisch tätige Personen. Obwohl Kurden an allen Aspekten des öffentlichen Lebens, einschließlich der Regierung, des öffentlichen Dienstes und des Militärs, teilnehmen, sind sie in leitenden Positionen traditionell unterrepräsentiert. Einige Kurden, die im öffentlichen Sektor beschäftigt sind, berichten von einer Zurückhaltung bei der Offenlegung ihrer kurdischen Identität aus Angst vor einer Beeinträchtigung ihrer Aufstiegschancen (DFAT 10.9.2020, Sitzung 21; vergleiche UKHO 10.2023b, Sitzung 8f.). Die kurdische Volksgruppe ist in sich politisch nicht homogen. Unter den nicht im Südosten der Türkei lebenden Kurden, insbesondere den religiösen Sunniten, gibt es viele Wähler der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Umgekehrt wählen vor allem in den Großstädten Ankara, Istanbul und Izmir auch viele liberal bis links orientierte ethnische Türken die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) [inzwischen in Partei für Gleichberechtigung und Demokratie der Völker - DEM-Partei umbenannt] (ÖB Ankara 28.12.2023, S.35; vergleiche MBZ 31.8.2023, Sitzung 48). Im kurdisch geprägten Südosten besteht nach wie vor eine erhebliche Spaltung der Gesellschaft zwischen den religiösen konservativen und den säkularen linken Elementen der Bevölkerung. Als, wenn auch beschränkte, inner-kurdische Konkurrenz zur linken HDP besteht die islamistisch-konservative Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi - kurz: Hüda-Par), die für die Einführung der Schari’a eintritt. Zwar tritt sie wie die HDP für die kurdische Autonomie und die Stärkung des Kurdischen im Bildungssystem ein, unterstützt jedoch politisch Staatspräsident Erdo?an, wie beispielsweise bei den Präsidentschaftswahlen 2018 (MBZ 31.10.2019). Die Unterstützung wiederholte sich auch angesichts der Präsidenten- und Parlamentswahlen im Frühjahr 2023. - Bei den Parlamentswahlen 2023 zogen vier Abgeordnete der Hüda-Par über die Liste der AKP ins türkische Parlament ein. Möglich war das durch einen umfangreichen Deal mit Präsident Erdo?an. Für die vier sicheren Listenplätze erhielt dieser die Unterstützung der Hüda-Par bei den gleichzeitig stattfindenden Präsidentschaftswahlen (FR 19.5.2023; vergleiche Duvar 9.6.2023). Die Hüda-Par gilt beispielsweise nicht nur als Gegnerin der Istanbuler Konvention, sondern generell der Frauenemanzipation. Die Frau ist für Hüda-Par in erster Linie Mutter. Die Partei möchte zudem außereheliche Beziehungen verbieten (FR 19.5.2023). Mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober 2023 stellte sich die Hüda-Par als Unterstützerin der HAMAS heraus, die in der EU, den USA und darüber hinaus, nicht jedoch in der Türkei, als Terrororganisation gilt. So empfing die Parlamentsfraktion der Hüda-Par bereits am 11.10.2023 eine Delegation der HAMAS unter Führung von Basam Naim im türkischen Parlament. ?ehzade Demir, Abgeordneter der Hüda-Par, warf bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Israel nicht nur Kriegsverbrechen vor, sondern erklärte, dass „das zionistische Regime der gesamten islamischen Gemeinschaft und unseren heiligen Werten den Krieg erklärt“ hätte (Duvar 12.10.2023). Zudem begrüßte Demir den HAMAS-Angriff vom 7.10.2023 und nannte Israel eine Terrororganisation, zu der alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen beendet werden sollten (FR 12.10.2023). Das Verhältnis zwischen der HDP bzw. der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Hüda-Par ist feindselig. Im Oktober 2014 kam es während der Kobanê-Proteste letztmalig zu Gewalttätigkeiten zwischen PKK-Sympathisanten und Anhängern der Hüda-Par, wobei Dutzende von Menschen getötet wurden (MBZ 31.10.2019).
Religiöse Orientierung
In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, S. 48; vgl. MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi’i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi’i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, S. 20, 24). In religiöser Hinsicht sind die Kurden in der Türkei nicht einheitlich. Nach einer Schätzung sind siebzig Prozent der Kurden Sunniten, die restlichen dreißig Prozent sind Aleviten und Jesiden [eine verschwindend geringe Zahl] (MBZ 31.8.2023, Sitzung 48; vergleiche MRG 6.2018c). Die sunnitische Mehrheit unter den Kurden gehören allerdings in der Regel der Shafi’i-Schule und nicht der Hanafi-Schule wie die meisten ethnischen Türken an. Die türkischen Religionsbehörden betrachten beide Schulen als gleichwertig, und Anhänger der Schafi’i-Schule werden aus religiösen Gründen nicht unterschiedlich behandelt. Kurdische Aleviten verstehen sich eher als Aleviten denn als Kurden (DFAT 10.9.2020, Sitzung 20, 24).
Allgemeine Einschätzungen zur Lage der Kurden
Das Europäische Parlament (EP) zeigte sich auch 2023 „besonders besorgt über das anhaltende harte Vorgehen gegen kurdische Politiker, Journalisten, Rechtsanwälte und Künstler, einschließlich Massenverhaftungen vor den Wahlen [2023] sowie über das laufende Verbotsverfahren gegen die Demokratische Partei der Völker“. Überdies zeigte sich das EP „beunruhigt über die schwere und zunehmende Unterdrückung der kurdischen Gemeinschaft, insbesondere im Südosten des Landes, unter anderem durch die weitere Einschränkung der kulturellen Rechte und rechtliche Einschränkungen im Hinblick auf den Gebrauch der kurdischen Sprache als Unterrichtssprache im Bildungswesen“ (EP 13.9.2023, Pt. 13, 16). 2022 zeigte sich das EP zudem „über die Lage der Kurden im Land und die Lage im Südosten der Türkei mit Blick auf den Schutz der Mens