Entscheidungsdatum
03.06.2024Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W108 2273715-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. BRAUCHART als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit: Syrien, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2023, Zl. 1322235305/222731755, wegen Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten nach mündlicher Verhandlung zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. BRAUCHART als Einzelrichterin über die Beschwerde des römisch XXXX , geb. römisch XXXX , Staatsangehörigkeit: Syrien, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2023, Zl. 1322235305/222731755, wegen Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten nach mündlicher Verhandlung zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und XXXX gemäß § 3 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Der Beschwerde wird gemäß Paragraph 28, Absatz 2, VwGVG stattgegeben und römisch XXXX gemäß Paragraph 3, AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommtGemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG wird festgestellt, dass römisch XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang, Sachverhalt und Vorbringen:römisch eins. Verfahrensgang, Sachverhalt und Vorbringen:
1. Der nunmehrige Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Arabischen Republik Syrien, ersuchte am 31.08.2022 um Gewährung internationalen Schutzes (im Folgenden auch: Antrag bzw. Asylantrag).
2. Bei der von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung nach § 19 Abs. 1 Asylgesetz (im Folgenden: AsylG) gab der Beschwerdeführer zu diesem Antrag an, er habe in der syrischen Provinz Aleppo gelebt und sei im Juni 2022 zu Fuß illegal in die Türkei gelangt. Syrien habe er verlassen, weil er dort den Militärdienst ableisten müsse, was er aber ablehne, da er niemanden töten wolle. 2. Bei der von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes durchgeführten Erstbefragung nach Paragraph 19, Absatz eins, Asylgesetz (im Folgenden: AsylG) gab der Beschwerdeführer zu diesem Antrag an, er habe in der syrischen Provinz Aleppo gelebt und sei im Juni 2022 zu Fuß illegal in die Türkei gelangt. Syrien habe er verlassen, weil er dort den Militärdienst ableisten müsse, was er aber ablehne, da er niemanden töten wolle.
3. Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht) am 11.05.2023 legte der Beschwerdeführer mehrere syrische Dokumente (auch betreffend seine Frau und seine Kinder) vor und sagte zum Fluchtgrund insbesondere aus, er müsse zum Militärdienst der syrischen Regierung und der Kurden. Er habe aber nicht im Krieg sterben wollen, in Syrien gebe es keine Gesetze und Regeln mehr. Sogar Zivilisten bildeten kleine Milizen und beraubten die Menschen. Es fielen jeden Tag Bomben, die meisten Teile seiner Heimatregion würden derzeit wieder vom Regime kontrolliert und die Kurden rekrutierten auch.
3. Mit dem nunmehr vor dem Bundesverwaltungsgericht bekämpften Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.). Mit den weiteren (nicht bekämpften) Spruchpunkten II. und III. dieses Bescheides wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG erteilt.3. Mit dem nunmehr vor dem Bundesverwaltungsgericht bekämpften Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG ab (Spruchpunkt römisch eins.). Mit den weiteren (nicht bekämpften) Spruchpunkten römisch II. und römisch III. dieses Bescheides wurde dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG erteilt.
Die belangte Behörde stellte fest, dass der Beschwerdeführer syrischer Staatsangehöriger sei, der arabischen Volksgruppe angehöre sowie sich zum muslimisch-sunnitischen Glauben bekenne. Er habe Syrien im Juni 2022 verlassen und sei spätestens am 31.08.2022 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Seine Identität stehe nicht fest. Er sei verheiratet und habe drei Kinder. Er könne in seiner Muttersprache Arabisch sprechen, schreiben und lesen. Er habe eine mehrjährige Schulausbildung in Syrien genossen. Laut seinen Angaben habe er seinen Lebensunterhalt in Syrien als Bauarbeiter bestritten. Seine Familie (Eltern, Frau, Kinder, Geschwister) lebten in Syrien sowie eine Schwester in Österreich. Er sei strafrechtlich unbescholten.
Bezüglich der vom Beschwerdeführer behaupteten Verfolgung führte die belangte Behörde aus: Der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft machen können, dass er in Syrien einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen sei bzw. dass er eine solche Verfolgung zukünftig zu befürchten hätte. Er habe angegeben, er müsste zum Militärdienst des Regimes und der Kurden. Jedoch habe er ebenso angeführt, dass er zu keinem Zeitpunkt persönlichen Kontakt mit dem Militär oder Milizen gehabt hätte. Auch eine persönliche Verfolgung oder Bedrohung habe er ausdrücklich verneint. Zudem hätte er weder unzweifelhafte Personendokumente noch sonstige Beweismittel wie ein Wehrdienstbuch vorgelegt, welche sein Vorbringen stützen würden. Er habe nur allgemeine Rückkehrbefürchtungen angeführt, da er angegeben habe, dass in Syrien jederzeit ein Auto explodieren könnte, während er am Markt einkaufen würde. Eine staatliche Verfolgung oder Bedrohung iSd GFK im Falle einer Rückkehr habe er nicht angegeben. Zudem erscheine es unglaubwürdig, dass seine Brüder in Syrien nach wie vor einem geregelten Alltag nachgehen und arbeiten würden, während er hätte ausreisen müssen. Seine Angabe, er habe bis zu seiner Ausreise gearbeitet, verstärke die Unglaubwürdigkeit seines Vorbringens. Zudem habe er sich vor seiner widerrechtlichen Einreise in das Bundesgebiet in der Türkei und in Griechenland aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen, und angegeben, dass sein Zielland von Anfang Österreich gewesen wäre. Dies bestärke nur weiter die Unglaubwürdigkeit seines Vorbringens, da jemand der aus Furcht vor Verfolgung sein Heimatland verlassen müsse, sich nicht das Land aussuchen würde, in dem er einen Asylantrag stelle, sondern sofort und ohne Aufschub die sich nächstbietende Gelegenheit zur Asylantragsstellung nutzen würde, um in Sicherheit zu sein. Seinen geäußerten Rückkehrbefürchtungen sei mit der Gewährung des subsidiären Schutzes Rechnung getragen.
4. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides (Versagung des Asylstatus) richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG, in der nach Hinweis auf das Vorbringen des Beschwerdeführers im Wesentlichen vorgebracht wurde: Die belangte Behörde habe es verabsäumt, nähere Feststellungen zum genauen Herkunftsort bzw. zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers zu treffen. Alle beteiligten Konfliktparteien (SDF, syrische Assad Regime, FSA) führten in der Herkunftsregion des Beschwerdeführers rund um sein Heimatdorf vermehrt Rekrutierungen durch. Die belangte Behörde habe mangelhafte Ermittlungen zur Gefahr des Einzugs zum Militärdienst durchgeführt. Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr durch das syrische Regime asylrelevant zwangsrekrutiert werden. Auch wenn er von den Kurden oder der FSA rekrutiert werden würde, drohten ihm im Fall der Weigerung asylrelevante massive Menschenrechtsverletzungen. Darüber hinaus sei die Herkunft des Beschwerdeführers aus einem ehemaligen vom IS kontrollierten Gebiet asylrelevant, da solchen Personen regelmäßig unterstellt werde, dass sie mit dem IS sympathisierten oder dazu Verbindungen hätten. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft und unschlüssig. Dem bloßen Umstand, dass sich Familienmitglieder noch in Syrien befänden, komme ohne Kenntnis ihrer Motivation und Gründe für das Verbleiben in Syrien kein Beweiswert zu. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer keine Beweismittel wie ein Wehrdienstbuch vorlegen habe können, werde von der belangten Behörde unzulässig als Argument verwendet, warum sein Vorbringen unglaubwürdig sei, obwohl im Asylverfahren keine Pflicht bestehe, die asylrelevante Verfolgung zu beweisen. Dass ein Asylwerber sein Heimatland in der Absicht verlassen habe, sich in einem europäischen Staat eine neue Existenz aufzubauen, schließe das Vorliegen wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung in seinem Heimatland nicht aus, sondern könne durchaus eine Folge davon sein. Dass der Beschwerdeführer in der Türkei keinen Asylantrag gestellt habe, sei keine ausreichende, schlüssige Begründung für die Verneinung einer objektiven Gefahr für den Beschwerdeführer im Herkunftsstaat. 4. Gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides (Versagung des Asylstatus) richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde gemäß Artikel 130, Absatz eins, Ziffer eins, B-VG, in der nach Hinweis auf das Vorbringen des Beschwerdeführers im Wesentlichen vorgebracht wurde: Die belangte Behörde habe es verabsäumt, nähere Feststellungen zum genauen Herkunftsort bzw. zur Herkunftsregion des Beschwerdeführers zu treffen. Alle beteiligten Konfliktparteien (SDF, syrische Assad Regime, FSA) führten in der Herkunftsregion des Beschwerdeführers rund um sein Heimatdorf vermehrt Rekrutierungen durch. Die belangte Behörde habe mangelhafte Ermittlungen zur Gefahr des Einzugs zum Militärdienst durchgeführt. Der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr durch das syrische Regime asylrelevant zwangsrekrutiert werden. Auch wenn er von den Kurden oder der FSA rekrutiert werden würde, drohten ihm im Fall der Weigerung asylrelevante massive Menschenrechtsverletzungen. Darüber hinaus sei die Herkunft des Beschwerdeführers aus einem ehemaligen vom IS kontrollierten Gebiet asylrelevant, da solchen Personen regelmäßig unterstellt werde, dass sie mit dem IS sympathisierten oder dazu Verbindungen hätten. Die Beweiswürdigung sei mangelhaft und unschlüssig. Dem bloßen Umstand, dass sich Familienmitglieder noch in Syrien befänden, komme ohne Kenntnis ihrer Motivation und Gründe für das Verbleiben in Syrien kein Beweiswert zu. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer keine Beweismittel wie ein Wehrdienstbuch vorlegen habe können, werde von der belangten Behörde unzulässig als Argument verwendet, warum sein Vorbringen unglaubwürdig sei, obwohl im Asylverfahren keine Pflicht bestehe, die asylrelevante Verfolgung zu beweisen. Dass ein Asylwerber sein Heimatland in der Absicht verlassen habe, sich in einem europäischen Staat eine neue Existenz aufzubauen, schließe das Vorliegen wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung in seinem Heimatland nicht aus, sondern könne durchaus eine Folge davon sein. Dass der Beschwerdeführer in der Türkei keinen Asylantrag gestellt habe, sei keine ausreichende, schlüssige Begründung für die Verneinung einer objektiven Gefahr für den Beschwerdeführer im Herkunftsstaat.
5. Die belangte Behörde machte von der Möglichkeit der Beschwerdevorentscheidung nicht Gebrauch und legte die Beschwerde samt den bezughabenden Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.
6. Das Bundesverwaltungsgericht räumte den Verfahrensparteien die Möglichkeit ein, im Rahmen einer schriftlichen Stellungnahme einen allfälligen neuen Sachverhalt vorzubringen und zu konkretisieren.
7. Der Beschwerdeführer brachte daraufhin über seine Rechtsvertretung mit Schriftsatz vom 28.02.2024 eine Stellungnahme ein, in welcher ausführt wurde, dem Beschwerdeführer drohe als Verweigerer des Militärdienstes sowohl von Seiten der syrischen Regierung als auch von Seiten der SDF wahrscheinlich die Unterstellung einer oppositionellen politischen Gesinnung. Zur Glaubhaftmachung, dass der Beschwerdeführer eine oppositionelle politische Einstellung gegenüber der syrischen Regierung aufweise, wurde ein Foto vorgelegt, das den Beschwerdeführer auf einer regierungskritischen Demonstration in Wien im Jahr 2023 zeige.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache des Beschwerdeführers eine mündliche Verhandlung gemäß § 24 VwGVG, § 21 BFA-VG durch, an welcher sich der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung persönlich beteiligten.8. Das Bundesverwaltungsgericht führte in der Sache des Beschwerdeführers eine mündliche Verhandlung gemäß Paragraph 24, VwGVG, Paragraph 21, BFA-VG durch, an welcher sich der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertretung persönlich beteiligten.
In der Verhandlung wurde die Sach- und Rechtslage, insbesondere durch Vernehmung des Beschwerdeführers unter Vorhalt der Angaben seiner Schwester und ihres Ehemannes im Asylverfahren der Schwester, Einräumung von Parteiengehör und Aktualisierung der Länderberichte, erörtert und geklärt.
Der Beschwerdeführer brachte im Besonderen vor: Er werde von der syrischen Regierung, der PKK und der FSA verfolgt. Seine Schwester habe in ihrem Verfahren auf einen Bruder Bezug genommen, dieser sei, weil er gegen die FSA demonstriert habe, von der FSA entführt worden und seither verschollen. Auch er habe in Syrien an Demonstrationen gegen das syrische Regime und gegen die FSA teilgenommen. Er habe mit seinem Bruder und einem Freund eine Demonstration gegen die FSA organisiert. Nach Auflösung der Demonstration, die sie organisiert hätten, sei die FSA zu ihnen nach Hause gekommen und hätte seinen Bruder mitgenommen. Er sei bei Mitnahme seines Bruders nicht zu Hause gewesen, als er davon erfahren habe, habe er sich versteckt und sei in der Folge aus Syrien in die Türkei geflüchtet. Seine in Syrien verbliebene Familie werde von der FSA gehasst und bedroht, seine Eltern und Geschwister seien zu einem Onkel umgezogen, würden aber auch dort bedroht. Er habe vor ca. sechs Monaten eine Drohung von der FSA online auf einem sozialen Netzwerk erhalten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Hinsichtlich der Lage in Syrien:
1.1.1. Länderinformation der Staatendokumentation zu Syrien, Version 11, Datum der Veröffentlichung: 2024-03-27:
Syrische Interimsregierung und syrische Heilsregierung
Letzte Änderung 2023-07-11 09:24
Im März 2013 gab die Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte als höchste offizielle Oppositionsbehörde die Bildung der syrischen Interimsregierung (Syrian Interim Government, SIG) bekannt, welche die Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes im ganzen Land verwalten soll. Im Laufe der Zeit schrumpften die der Opposition angehörenden Gebiete jedoch, insbesondere nach den Vereinbarungen von 2018, die dazu führten, dass Damaskus die Kontrolle über den Süden Syriens und die Oppositionsgebiete im Süden von Damaskus und im Umland übernahm. Der Einfluss der SIG ist nun auf die von der Türkei unterstützten Gebiete im Norden Aleppos beschränkt (SD 18.3.2023). Formell erstreckt sich ihr Zuständigkeitsbereich auch auf die von Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrollierte Zone. Dort wurde sie von der HTS jedoch an den Rand gedrängt (Brookings 27.1.2023). Die von der HTS kontrollierten Gebiete in Idlib und Teile der Provinzen Aleppo und Latakia werden inzwischen von der syrischen Heilsregierung (Syrian Salvation Government, SSG), dem zivilen Flügel der HTS, regiert (SD 18.3.2023).
Nicht-staatliche Akteure in Nordsyrien haben systematisch daran gearbeitet, sich selbst mit Attributen der Staatlichkeit auszustatten. Sie haben sich von aufständischen bewaffneten Gruppen in Regierungsbehörden verwandelt. In Gebieten, die von der HTS, einer sunnitischen islamistischen politischen und militärischen Organisation, kontrolliert werden, und in Gebieten, die nominell unter der Kontrolle der SIG stehen, haben bewaffnete Gruppen und die ihnen angeschlossenen politischen Flügel den institutionellen Rahmen eines vollwertigen Staates mit ausgefeilten Regierungsstrukturen wie Präsidenten, Kabinetten, Ministerien, Regulierungsbehörden, Exekutivorganen usw. übernommen (Brookings 27.1.2023).
Die nordwestliche Ecke der Provinz Idlib, an der Grenze zur Türkei, ist die letzte Enklave der traditionellen Opposition gegen Assads Herrschaft. Sie beherbergt Dutzende von hauptsächlich islamischen bewaffneten Gruppen, von denen die HTS die dominanteste ist (MEI 26.4.2022). Mit der im November 2017 gegründeten (NPA 4.5.2023) syrischen Heilsregierung hat die HTS ihre Möglichkeiten zur Regulierung, Besteuerung und Bereitstellung begrenzter Dienstleistungen für die Zivilbevölkerung erweitert. Doch wie jüngste Studien gezeigt haben, sind diese Institutionen Mechanismen, die hochrangige Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Koalitionen ermächtigen und bereichern (Brookings 27.1.2023). In dem Gebiet werden keine organisierten Wahlen abgehalten und die dortigen Lokalräte werden von bewaffneten Gruppen beherrscht oder von diesen umgangen. Die HTS versucht in Idlib, eine autoritäre Ordnung mit einer islamistischen Agenda durchzusetzen. Obwohl die Mehrheit der Menschen in Idlib sunnitische Muslime sind, ist HTS nicht beliebt. Die von der HTS propagierten religiösen Dogmen sind nur ein Aspekt, der den Bürgerinnen und Bürgern missfällt. Zu den anderen Aspekten gehören der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen, willkürliche Verhaftungen, Gewalt und Missbrauch (BS 23.2.2022).
In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral- Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vgl. SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).In den von der Türkei besetzten und kontrollierten Gebieten in Nordwest- und Nordzentral- Syrien ist die SIG die nominelle Regierungsbehörde. Innerhalb der von der Türkei kontrollierten Zone ist eine von der Türkei unterstützte Koalition bewaffneter Gruppen, die Syrische Nationale Armee (SNA) - nicht zu verwechseln mit Assads Syrischen Streitkräften -, mächtiger als die SIG, die sie routinemäßig ignoriert oder außer Kraft setzt (Brookings 27.1.2023). Beide wiederum operieren de facto unter der Autorität der Türkei (Brookings 27.1.2023; vergleiche SD 18.3.2023). Die von der Türkei unterstützten Oppositionskräfte bildeten nach ihrer Machtübernahme 2016 bzw. 2018 in diesem Gebiet Lokalräte, die administrativ mit den angrenzenden Provinzen der Türkei verbunden sind. Laut einem Forscher des Omran Center for Strategic Studies können die Lokalräte keine strategischen Entscheidungen treffen, ohne nicht die entsprechenden türkischen Gouverneure einzubinden. Gemäß anderen Quellen variiert der Abhängigkeitsgrad der Lokalräte von den türkischen Behörden von einem Rat zum nächsten (SD 18.3.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden bewaffneter Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Toleranz gegenüber deren Missbrauch und Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).
Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-03-08 11:17
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräften der Opposition und türkische Militäroperationen gegen syrische Kurden (CFR 24.1.2024). Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt (ÖB Damaskus 1.10.2021). In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (AA 2.2.2024). United Nations Geospatial veröffentlichte eine Karte mit Stand Juni 2023, in welcher die wichtigsten militärischen Akteure und ihre Einflussgebiete verzeichnet sind (UNGeo 1.7.2023):
Quelle: UNGeo 1.7.2023 (Stand: 6.2023)
Die folgende Karte zeigt Kontroll- und Einflussgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien, wobei auch Konvoi- und Patrouille-Routen eingezeichnet sind, die von syrischen, russischen und amerikanischen Kräften befahren werden. Im Nordosten kommt es dabei zu gemeinsam genutzten Straßen [Anm.: zu den Gebieten mit IS-Präsenz siehe Unterkapitel zu den Regionen]:
Quelle: CC 13.12.2023 (Stand: 30.9.2023)
Nordwest-Syrien
Letzte Änderung 2024-03-08 11:28
Während das Assad-Regime etwa 60 Prozent des Landes kontrolliert, was einer Bevölkerung von rund neun Millionen Menschen entspricht, gibt es derzeit [im Nordwesten Syriens] zwei Gebiete, die sich noch außerhalb der Kontrolle des Regimes befinden: Nord-Aleppo und andere Gebiete an der Grenze zur Türkei, die von der von Ankara unterstützten Syrischen Nationalarmee (Syrian National Army, SNA) kontrolliert werden, und das Gebiet von Idlib, das von der militanten islamistischen Gruppe Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert wird. Zusammen kontrollieren sie 10 Prozent des Landes mit einer Bevölkerung von etwa 4,4 Millionen Menschen, wobei die Daten zur Bevölkerungsanzahl je nach zitierter Institution etwas variieren (ISPI 27.6.2023).
Auf diesem Kartenausschnitt sind die Machtverhältnisse in Nordwest-Syrien eingezeichnet:
Quelle: Zenith 11.2022
Die Gebiete unter Kontrolle der Türkei und Türkei-naher Milizen
Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die von der Türkei unterstützten Kräfte das Gebiet 2018 von kurdischen Kräften erobert haben (MEE 15.10.2022) und es wird von internen Kämpfen der SNA-Fraktionen berichtet (MEE 25.10.2022). Trotz der internen Streitigkeiten operieren die SIG-Verwaltungen und die bewaffneten Gruppen innerhalb der SNA innerhalb der von Ankara vorgegebenen Grenzen (Forbes 22.10.2022; vgl. Brookings 27.1.2023). Die Anwesenheit der Türkei bringt ein gewisses Maß an Stabilität, aber ihre Abhängigkeit von undisziplinierten lokalen Vertretern, ihre Unfähigkeit, die Fraktionsbildung unter den Dutzenden von bewaffneten Gruppen, die mit der SNA verbunden sind, zu überwinden, und ihre Duldung des Missbrauchs und der Ausbeutung der Zivilbevölkerung haben dazu geführt, dass ihre Kontrollzone die am wenigsten sichere und am brutalsten regierte im Norden Syriens ist (Brookings 27.1.2023).Die Opposition im Nordwesten Syriens ist in zwei große Gruppen/Bündnisse gespalten: HTS im Gouvernement Idlib und die von der Türkei unterstützte SNA im Gouvernement Aleppo. Die SNA setzt sich in erster Linie aus ehemaligen Gruppen der FSA zusammen, hat sich jedoch zu einer gespaltenen Organisation mit zahlreichen Fraktionen entwickelt, die zu internen Kämpfen neigen (CC 1.5.2023). Die SNA ist auf dem Papier die Streitkraft der syrischen Übergangsregierung (SIG), die rund 2,3 Millionen Syrer regiert. In Wirklichkeit ist die SNA allerdings keine einheitliche Truppe, sondern setzt sich aus verschiedenen Fraktionen zusammen, die unterschiedliche Legionen bilden und nicht unbedingt der Führung des Verteidigungsministers der SIG folgen (Forbes 22.10.2022). Eine hochrangige syrische Oppositionsquelle in Afrîn sagte, dass innerhalb der SNA strukturelle Probleme bestehen, seit die