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20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)Norm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot von Bestimmungen des ABGB betreffend abweichende Kündigungsfristen in kollektivvertraglichen Regelungen für Branchen, in denen Saisonbetriebe überwiegen; Heranziehung der Branche anstelle einzelner Betriebe liegt auf Grund einer Durchschnittsbetrachtung im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers; kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch die Anknüpfung an "Mehrheitsverhältnisse" bzw das "Überwiegen" von Saisonbetrieben innerhalb einer Branche zur Schaffung einheitlicher Kündigungs- und EntlassungsregelungenRechtssatz
Abweisung der Gerichtsanträge auf Aufhebung des §1159 Abs1 bis Abs4 ABGB idF BGBl I 153/2017.Abweisung der Gerichtsanträge auf Aufhebung des §1159 Abs1 bis Abs4 ABGB in der Fassung Bundesgesetzblatt Teil eins, 153 aus 2017,.
Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot:
Der Gesetzgeber hat mit der Bestimmung in §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB in einer dem Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG entsprechenden Weise festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die Kollektivvertragsparteien von §1159 Abs2 Satz 1 und 2 sowie Abs4 Satz 1 und Satz 2 ABGB abweichende Kündigungsregelungen festlegen dürfen. Dies kann für "Branchen" erfolgen, "in denen Saisonbetriebe iSd §53 Abs6 ArbVG, BGBl 22/1974 überwiegen".Der Gesetzgeber hat mit der Bestimmung in §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB in einer dem Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG entsprechenden Weise festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die Kollektivvertragsparteien von §1159 Abs2 Satz 1 und 2 sowie Abs4 Satz 1 und Satz 2 ABGB abweichende Kündigungsregelungen festlegen dürfen. Dies kann für "Branchen" erfolgen, "in denen Saisonbetriebe iSd §53 Abs6 ArbVG, Bundesgesetzblatt 22 aus 1974, überwiegen".
Der OGH hatte bereits in zwei Entscheidungen die hier angefochtenen Bestimmungen anzuwenden und dabei insbesondere die Regelungen im Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 des §1159 ABGB auszulegen. Die in diesen Bestimmungen verwendeten Begriffe sind allgemein verständlich und - unter Heranziehung der Interpretationsmethoden - einer Auslegung zugänglich.
Soweit der OGH und das OLG Linz meinen, dass bei der Ermittlung der Voraussetzung für die Anwendbarkeit des §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB eine lediglich punktuelle Betrachtungsweise (etwa bezogen auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Kollektivvertrages) nicht genüge, weil das "Überwiegen von Saisonbetrieben" eine längere zeitliche Dimension erfordere und sich diese Voraussetzungen jederzeit - und für die Rechtsunterworfenen in nicht vorhersehbarer Weise - ändern könnten, erweist dies nicht die mangelnde Bestimmtheit der angefochtenen Bestimmungen. Dass sich faktische Umstände rechtserheblicher Akte ändern können und es damit im Zeitverlauf zu einer Rechtswidrigkeit oder einer Rechtmäßigkeit derselben kommen kann, widerspricht für sich genommen nicht verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere auch nicht dem Art18 B-VG. Es ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte, anhand des §1159 ABGB die Kriterien zu entwickeln, unter welchen (zeitlichen) Voraussetzungen §1159 Abs2 Satz 3 und §1159 Abs4 Satz 3 ABGB anwendbar sind. Auch in dieser Hinsicht hat der OGH in seiner Entscheidung vom 24.03.2022, 9 Ob 116/21f, bereits wesentliche Ausführungen gemacht, nämlich dass es nicht auf ein punktuelles Überwiegen von Saisonbetrieben ankommen kann, "weil das Überwiegen von Saisonbetrieben auch eine gewisse längere zeitliche Dimension erfasst, um branchenkennzeichnend zu sein".
Zum Nachweis der Geltung der kollektivvertraglichen Abweichung vom gesetzlichen Regelungsmodell bedarf es der Erhebung und Auswertung des entsprechenden Datenmaterials. Dass in dieser Hinsicht faktische Schwierigkeiten bestehen mögen, die Erfüllung der Voraussetzungen der Anwendbarkeit des §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB nachzuweisen, begründet nicht die mangelnde Bestimmtheit der angefochtenen Regelungen.
Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz:
Dem Gesetzgeber steht bei der Regelung des Kündigungs- und Entlassungsschutzes von Verfassungs wegen ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, je nach Schutzgesichtspunkten unterschiedliche Regelungen im Zusammenhang mit der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses vorzusehen.
Der Gesetzgeber stellt in §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB auf eine Durchschnittsbetrachtung ("Überwiegen" von Saisonbetrieben) ab, indem er nicht den einzelnen Betrieb, sondern eine Branche in ihrer Gesamtheit heranzieht, der überwiegend Saisonbetriebe zugehören. Mit diesen Regelungen geht einerseits einher, dass die abweichenden Kündigungsregelungen auch für Betriebe gelten können, die keine Saisonbetriebe sind, aber zu einer Branche gehören, in der Saisonbetriebe überwiegen. Andererseits fallen Saisonbetriebe, die nicht zu einer Branche mit überwiegenden Saisonbetrieben gehören, nicht unter die (Ermächtigungs-)Regelungen gemäß §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB.
Diese gesetzlichen (Ermächtigungs-)Regelungen begegnen keinen gleichheitsrechtlichen Bedenken. Es ist dem kollektiven Arbeitsrecht immanent (und vielfach gerade die Zielsetzung von Kollektivverträgen), innerhalb einer Branche die Arbeitsbedingungen zu vereinheitlichen und dadurch gleiche Bedingungen für alle Betriebe dieser Branche zu schaffen, mögen diese auch in Bezug auf ihre Struktur und sonstige Gesichtspunkte unterschiedlich sein. Diese Zielsetzung wird im kollektiven Arbeitsrecht durch die Beschränkung der gesetzlichen Regelungsermächtigungen auf den fachlichen Geltungsbereich eines Kollektivvertrages verwirklicht.
Der Gesetzgeber knüpft gemäß §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB in einer gleichheitsrechtlich nicht zu beanstandenden Weise an "Mehrheitsverhältnisse" für die Anwendbarkeit der gesetzlichen Regelungsermächtigungen ("Überwiegen" von Saisonbetrieben innerhalb einer Branche), weil durch das gesetzlich grundgelegte und durch Kollektivvertrag zu konkretisierende Regelungskonstrukt auf Grund der Beschränkung der gesetzlichen Regelungsermächtigungen auf den fachlichen Geltungsbereich eines Kollektivvertrages einheitliche Kündigungsregelungen für im Wesentlichen gleichartige Arbeitsverhältnisse geschaffen werden. Das Anknüpfen an "Mehrheitsverhältnisse" im kollektiven Arbeitsrecht bringt mit sich, dass sämtliche vom Geltungsbereich eines Kollektivvertrages erfasste Betriebe die Vorteile oder Nachteile einer auf eine Durchschnittsbetrachtung abstellenden Regelung des kollektiven Arbeitsrechts für bzw gegen sich gelten lassen können bzw müssen. Da nach Auffassung des VfGH die Zielsetzungen des Gesetzgebers im kollektiven Arbeitsrecht, nämlich für die zu einer Branche gehörenden Betriebe (dh innerhalb des Geltungsbereiches eines Kollektivvertrages) einheitliche Mindestbedingungen zu erreichen, grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen, sind auch die damit regelmäßig verbundenen unterschiedlichen Betroffenheiten für die Betriebe dieser Branche gleichheitsrechtlich nicht zu beanstanden.
Der VfGH kann dementsprechend angesichts der allgemeinen Zielsetzungen des kollektiven Arbeitsrechts nicht finden, dass §1159 Abs2 Satz 3 und Abs4 Satz 3 ABGB dem Gleichheitsgrundsatz widerspräche. Ziel dieser (Ausnahme- bzw Zulassungs-)Bestimmungen ist, den besonderen wirtschaftlichen Gegebenheiten, die überwiegend branchenkennzeichnend sind, in den bezeichneten Branchen durch die Ermöglichung abweichender Kündigungsregelungen Rechnung zu tragen.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Arbeitsrecht, Kündigungs- und Entlassungsschutz, Determinierungsgebot, Rechtsbegriffe unbestimmte, Auslegung verfassungskonforme, Rechtsstaatsprinzip, Legalitätsprinzip, Arbeitnehmerschutz, Rechtspolitik, VfGH / GerichtsantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2024:G29.2024Zuletzt aktualisiert am
08.07.2024