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44 ZivildienstNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Inanspruchnahme der Zuständigkeit des Landeshauptmannes als Berufungsbehörde im Verwaltungsstrafverfahren nach dem ZivildienstG; Zuständigkeit des UVS (anstelle der ZDOK) als Berufungsbehörde im Verwaltungsstrafverfahren nach dem ZivildienstG seit Inkrafttreten der VStG-Novelle 1990 auch hinsichtlich bereits anhängiger VerfahrenSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer, zu Handen seines Rechtsvertreters, die mit 15.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.a) Der Magistrat der Stadt Wien erkannte mit Straferkenntnis vom 8. Juli 1991 den Beschwerdeführer schuldig, dadurch eine Verwaltungsübertretung nach §60 des Zivildienstgesetzes 1986 - ZDG, BGBl. 679, in der damals geltenden Fassung, begangen zu haben, daß er vorsätzlich der mit 1. Feber 1990 verfügten Zuweisung zur Leistung des Zivildienstes länger als 30 Tage nicht Folge geleistet habe. Über den Beschwerdeführer wurden deshalb eine Geldstrafe und eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt. Die erste Verfolgungshandlung (§32 Abs2 VStG) gegen den Beschwerdeführer war durch Ausfertigung eines Ladungsbescheides seitens des Magistrates am 21. März 1990 gesetzt worden.
Gegen das genannte Straferkenntnis erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Berufung, die vom Magistrat der Zivildienstoberkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDOK) zur Entscheidung vorgelegt wurde. Die ZDOK sprach sodann mit - unbekämpft gebliebenem - Bescheid vom 27. August 1991 aus, daß sie gemäß ArtIII Abs3 der ZDG-Novelle 1988, BGBl. 598, iVm §6 Abs1 und §68 Abs4 lita AVG zur Entscheidung über die Berufung unzuständig sei; ferner, daß gemäß §6 (Abs1) AVG die Akten dem Unabhängigen Verwaltungssenat (UVS) Wien zur Entscheidung über die Berufung abgetreten werden.
Auch der UVS Wien erachtete sich zur Entscheidung über die Berufung als nicht kompetent und übermittelte am 5. März 1992 den Verwaltungsstrafakt dem Landeshauptmann (LH) von Wien.
b) Mit Bescheid vom 25. Mai 1992 entschied schließlich der LH von Wien über die Berufung. Er bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid hinsichtlich der Schuldfrage, veränderte den Wortlaut des Spruches und setzte die Geldstrafe herab. Die Frage, weshalb sich der LH als zuständige Berufungsbehörde ansieht, wird im Bescheid nicht erörtert.
2. Gegen diesen Berufungsbescheid des LH wendet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochteten Bescheides beantragt wird.
3. Der LH von Wien als jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1.a) Primär ist zu klären, ob der LH von Wien zuständig war, über die Berufung zu entscheiden. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird nämlich durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde u.a. dann verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (vgl. z. B. VfSlg. 9696/1983, 12192/1989).
b) aa) Die Zuständigkeit der in erster Instanz einschreitenden Bezirksverwaltungsbehörde (hier des Magistrates der Stadt Wien: Art108 f. und Art116 Abs3 B-VG, §6 BehÜG, §107 der Wr. Stadtverfassung) ergibt sich aus §60 ZDG und §26 Abs1 VStG.
bb) Zur Entscheidung über Berufungen gegen Straferkenntnisse, die in Vollziehung des ZDG erlassen wurden, war dem ZDG i.d. Stammfassung (wiederverlautbart als ZDG 1986, BGBl. 679) iVm §51 VStG 1950 aF zufolge der Landeshauptmann zuständig. Der Verfassungsgerichtshof hob mit Erkenntnis vom 1. Oktober 1988, VfSlg. 11834/1988, §60 ZDG 1986 als verfassungswidrig auf und bestimmte als Zeitpunkt des Inkrafttretens der Aufhebung den 30. Juni 1989. Er begründete seine Entscheidung damit, daß die aufgehobene Vorschrift den Art5 und 6 EMRK widerspreche; der österreichische Vorbehalt zu Art5 EMRK komme hinsichtlich der in Rede stehenden Verwaltungsübertretung nicht zum Tragen; daher dürfte die im §60 ZDG vorgesehene Freiheitsstrafe nur von einem "Tribunal" verhängt werden.
Vor dem Hintergrund dieses Erkenntnisses wurde das ZDG mit der ZDG-Novelle 1988, BGBl. 598, dahin abgeändert, daß der §60 neuerlich erlassen wurde (ArtII Z59 der ZDG-Novelle 1988), aber dem §43 Abs3 ZDG eine neue Z6 angefügt sowie ein neuer
§53a in das ZDG eingefügt wurden (ArtII Z52a und 55a der ZDG-Novelle 1988).
§43 Abs3 Z6 ZDG hat folgenden Wortlaut:
"6. Weiters hat sie (nämlich die ZDOK) über Berufungen gegen Straferkenntnisse der Bezirksverwaltungsbehörden in den Fällen der §§60 bis 69 zu entscheiden."
§53a ZDG lautet auszugsweise:
"§53a. (1) ...
(2) Gegen Straferkenntnisse der Bezirksverwaltungsbehörden in den Fällen der §§60 bis 69 ist die Berufung an die Zivildienstoberkommission zulässig. Die Zivildienstoberkommission entscheidet in oberster Instanz. ...
(3) ... ".
Bei der ZDOK handelte es sich um eine nach Art133 Z4 B-VG eingerichtete "Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag", gegen deren Qualität als "Tribunal" iS des Art6 EMRK keine Bedenken bestehen.
Gemäß ArtIII Abs3 der ZDG-Novelle 1988 (idF der Druckfehlerberichtigung BGBl. 251/1989 (Z7)) traten "ArtII Z52a (§43 Abs3 Z6) und Z55a (§53a) ... mit Ablauf des 31. Dezember 1990 außer Kraft".
cc) Mit Bundesgesetz vom 6. Juni 1990, BGBl. 358, (im folgenden: VStG-Novelle 1990), wurde das Verwaltungsstrafgesetz novelliert. Der neu gefaßte §51 Abs1 VStG lautet auszugsweise:
"§51. (1) Dem Beschuldigten steht das Recht der Berufung an den unabhängigen Verwaltungssenat zu, ... ".
(Daß diese Bestimmung durch Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 1992, G103-107/92 u.a. Zlen., mit Ablauf des 30. September 1993 - wegen Nichteinholung der in Art129a Abs2 B-VG vorgeschriebenen Zustimmung der Länder - aufgehoben wurde, ist im gegebenen Zusammenhang nicht von Belang.)
Der UVS ist ein als "Tribunal" iS des Art6 EMRK gedachtes Organ.
Die VStG-Novelle 1990 trat ihrem ArtII Abs1 zufolge mit 1. Jänner 1991 in Kraft. ArtII Abs2 der Novelle bestimmt:
"Am 1. Jänner 1991 anhängige Verfahren sind nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen."
(Inhaltlich gleich: Abs2 der Anlage 2 zur Kundmachung des Bundeskanzlers, BGBl. 52/1991, mit der das VStG wiederverlautbart wird.)
c) Der Begründung des angefochteten Bescheides des LH von Wien vom 25. Mai 1992 ist nicht zu entnehmen, woraus diese Behörde ihre Zuständigkeit zur Entscheidung über die Berufung des Beschwerdeführers abgeleitet hat.
Aus dem vorgelegten Verwaltungsakt ergibt sich lediglich, daß die ZDOK in dem zu I.1.a zitierten Bescheid vom 27. August 1991 ihre Zuständigkeit mit der Begründung verneint hat, unter "anhängige Verfahren" iS des ArtII Abs2 der VStG-Novelle 1990 seien nur jene Verfahren zu verstehen, die am 1. Jänner 1991 bereits bei der ZDOK anhängig gewesen waren. Im gegenständlichen Fall sei daher der UVS zur Entscheidung über die Berufung kompetent.
Der UVS vertrat in einem internen Schriftwechsel mit der ZDOK die Meinung, es komme hinsichtlich der Frage der Anhängigkeit nur darauf an, ob zum erwähnten Stichtag ein Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet gewesen sei. Dies sei hier aufgrund der bereits am 21. März 1990 gegen den Beschwerdeführer gesetzten ersten Verfolgungshandlung (Ausfertigung eines an ihn gerichteten Ladungsbescheides) der Fall gewesen; daher sei die ZDOK zur Entscheidung über die Berufung zuständig.
Dennoch trat der UVS Wien letztendlich die Berufung am 5. März 1992 dem LH von Wien "zuständigkeitshalber im Hinblick auf die geänderte Rechtslage zur weiteren Bearbeitung" ab. Damit bezog sich der UVS offenbar auf die ZDG-Novelle 1991, BGBl. 675, derzufolge mit 1. Jänner 1992 die ZDOK zu bestehen aufgehört hat.
Offenbar nahm der LH an, daß nunmehr weder die ZDOK noch der UVS über die Berufung zu entscheiden habe, sondern die allgemeine Zuständigkeitsregel anzuwenden sei (wonach mangels anderslautender Regelung der LH in Angelegenheiten, die in mittelbarer Bundesverwaltung zu vollziehen sind, Berufungsbehörde ist - vgl. Ringhofer, Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze, I. Band, Wien 1987, Anm. 2 zu §2 AVG).
d) Im Hinblick darauf, daß seit dem 1. Jänner 1992 die ZDOK nicht mehr besteht und die ZDG-Novelle 1991 keine Übergangsregelung enthält, wonach eine bestimmte andere Behörde die in Rede stehende Funktion der ZDOK zu übernehmen hat, ist es ausgeschlossen, daß sie oder eine Nachfolgebehörde zum Zeitpunkt der Ausfertigung oder Zustellung des angefochtenen Bescheides (25. Mai bzw. 6. Juli 1992) zur Entscheidung über die Berufung zuständig gewesen wäre. Daher ist auch eine Auseinandersetzung mit der Frage der Rechtmäßigkeit ihres - auf einer anderen Rechtsgrundlage beruhenden - Bescheides vom 27. August 1991 und der Frage einer allfälligen Bindungswirkung dieses Bescheides entbehrlich.
Die - unausgesprochene - Annahme des LH, er sei die nunmehr zuständige Behörde, führt zu einem verfassungswidrigen Ergebnis. Dies war im Hinblick auf das oben zu litb. bb zitierte Erkenntnis VfSlg. 11834/1988 offenbar auch dem Gesetzgeber bekannt. Bereits im - noch vor Veröffentlichung des eben genannten Erkenntnisses abgefaßten - Ausschußbericht zur Regierungsvorlage der ZDG-Novelle 1988 wird hinsichtlich der Neuregelungen in §43 Abs3 Z6 und §53a (s. oben, litb. bb) ausgeführt (732 BlgNR 17. GP, S 2):
"Die Einfügung dieser Bestimmung trägt dem vermutlichen Ausgang des beim Verfassungsgerichtshof ... anhängigen Gesetzesprüfungsverfahrens hinsichtlich des §60 ZDG Rechnung; nunmehr scheint gewährleistet, daß die Verwaltungsstrafbestimmungen des Zivildienstgesetzes der Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) voll entsprechen. Die Zivildienstoberkommission ist auf Grund ihrer Stellung als Tribunal im Sinne der MRK anzusehen.
Die vorerwähnten, neu eingefügten Bestimmungen verlieren ihre Gültigkeit mit dem Inkrafttreten der Novelle zum B-VG, mit der unabhängige Strafbehörden geschaffen werden. ... ".
Daher führt nicht bloß das allgemeine Gebot der verfassungskonformen Auslegung, sondern auch der aufgrund der Entstehungsgeschichte der einschlägigen Bestimmungen klar erkennbare Wille des Gesetzgebers zum Schluß, daß nach dem 31. Dezember 1991 zur Entscheidung über Berufungen gegen Straferkenntnisse nach dem ZDG keinesfalls wieder der Landeshauptmann zuständig gemacht werden sollte, würde doch ein solches Ergebnis ein Unterlaufen der verfassungsgerichtlichen Judikatur bedeuten.
Vielmehr wurde die - speziell für den Bereich des Zivildienstes geltende - Regelung des ArtIII Abs3 der ZDG-Novelle 1988, wonach die Bestimmungen über die Zuständigkeit der ZDOK als Berufungsbehörde in Verwaltungsstrafverfahren nach dem ZDG mit Ablauf des 31. Dezember 1990 - ohne jede Einschränkung - außer Kraft treten, weil statt dessen mit diesem Zeitpunkt die Zuständigkeit des UVS begründet werden sollte (siehe den soeben wiedergegebenen Ausschußbericht zur RV betreffend die ZDG-Novelle 1988), durch die allgemeine Vorschrift des ArtII Abs2 der VStG-Novelle 1990 nicht aufgehoben oder abgeändert. (Dabei kann unerörtert bleiben, welchen Inhalt die zuletzt zitierte Bestimmung für andere Rechtsbereiche hat.)
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte ab 1. Jänner 1991 in Verwaltungsstrafverfahren nach dem ZDG als Berufungsbehörde der UVS zuständig sein, und zwar auch für sämtliche Verfahren, die am 31. Dezember 1990 bereits eingeleitet und - in welchem Stadium und bei welcher Behörde immer - anhängig waren.
Dies erklärt auch, weshalb der Gesetzgeber in der ZDG-Novelle 1991 keine Übergangsregelung dafür zu treffen brauchte, daß die ZDOK mit 1. Jänner 1992 zu bestehen aufgehört hat (ein Umstand, der mit dem Entfall der "Gewissensprüfung" für Zivildienstwerber im Zusammenhang steht).
Dadurch, daß der LH im vorliegenden Fall eine ihm nach dem eben Gesagten nicht zukommende Zuständigkeit als Rechtsmittelbehörde in Anspruch genommen hat, wurde der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt. Der angefochtete Bescheid war daher aufzuheben, ohne daß auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.
2. Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf §88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 2.500 S enthalten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.
Schlagworte
Zivildienst, Behördenzuständigkeit, Verwaltungsstrafrecht, Zuständigkeit Verwaltungsstrafrecht, Verwaltungsverfahren, Zuständigkeit Verwaltungsverfahren, Übergangsbestimmung, Derogation materielle, Unabhängiger Verwaltungssenat, BerufungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1993:B1083.1992Dokumentnummer
JFT_10069678_92B01083_00