Entscheidungsdatum
21.06.2024Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I405 2285086-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Tunesien, vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.12.2023, ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.04.2024, zu Recht erkannt:Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Sirma KAYA als Einzelrichterin über die Beschwerde der römisch XXXX , geb. römisch XXXX , StA. Tunesien, vertreten durch BBU, Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.12.2023, ZI. römisch XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.04.2024, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:römisch eins. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine Staatsangehörige von Tunesien, reiste unrechtmäßig ins Bundesgebiet ein und stellte erstmals am 10.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie begründete diesen damit, von ihrem Bruder und ihrer Mutter gezwungen worden zu sein, ihren Cousin zu heiraten. Sie habe das nicht gewollt und deshalb ihre Heimat verlassen.
2. In der Folge konnte eine Einvernahme der BF nicht durchgeführt werden, da sie sich dem Verfahren entzogen hatte und unbekannten Aufenthaltes war.
3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 11.11.2022, Zl. 1328539700-223203574, wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl Nr. 100/2005 (AsylG) idgF abgewiesen (Spruch I) und gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Tunesien abgewiesen (Spruch II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihr gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruch III.). Gem. § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 (BVA-VG) idgF wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Absatz 2 Ziffer 2 FPG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF erlassen (Spruch IV.). Gem. § 52 Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gem. § 46 FPG nach Tunesien zulässig sei (Spruch V.). Gem. § 55 Absatz 1 a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruch VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gem. § 18 Absatz 1 Ziffer 1 BFA-VG, BGBl: Nr. 87/2012 (BFA-VG), idgF die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruch VII.). Dieser Bescheid wuchs mit seiner Zustellung am 11.11.2022 in Rechtskraft. 3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 11.11.2022, Zl. 1328539700-223203574, wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz 1 in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, Bundesgesetzblatt Nr. 100 aus 2005, (AsylG) idgF abgewiesen (Spruch römisch eins) und gemäß Paragraph 8, Absatz 1 in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Tunesien abgewiesen (Spruch römisch II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihr gem. Paragraph 57, AsylG nicht erteilt (Spruch römisch III.). Gem. Paragraph 10, Absatz 1 Ziffer 3 AsylG in Verbindung mit Paragraph 9, BFA-VG, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 87 aus 2012, (BVA-VG) idgF wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gem. Paragraph 52, Absatz 2 Ziffer 2 FPG 2005, Bundesgesetzblatt Teil eins, Nr. 100 aus 2005, (FPG) idgF erlassen (Spruch römisch IV.). Gem. Paragraph 52, Absatz 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung gem. Paragraph 46, FPG nach Tunesien zulässig sei (Spruch römisch fünf.). Gem. Paragraph 55, Absatz 1 a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruch römisch VI.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung wurde gem. Paragraph 18, Absatz 1 Ziffer 1 BFA-VG, Bundesgesetzblatt Nr. 87 aus 2012, (BFA-VG), idgF die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruch römisch VII.). Dieser Bescheid wuchs mit seiner Zustellung am 11.11.2022 in Rechtskraft.
4. Nach ihrer Rücküberstellung gemäß der Dublin-III-VO aus Deutschland am 24.07.2023 stellte die BF am selben Tag den gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Sie wurde hierzu am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer niederschriftlichen Erstbefragung unterzogen, in welcher sie zu ihrem Fluchtgrund angab, dass ihre alten Fluchtgründe aufrecht seien und sie keine neuen habe. Sie erklärte zudem, dass sie nach Tunesien zurückkehren wolle, was sie dann im Zuge eines Rückkehrberatungsgesprächs am 07.08.2023 widerrufen hat.
5. Am 07.09.2023 wurde die BF durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) niederschriftlich einvernommen und führte sie dabei an, dass sich ihr Fluchtgrund verschärft hätte und sie große Angst vor ihrem Vater und Bruder habe. Ihre Mutter habe ihr 2021 gesagt, dass sie eine Schande für die Familie sei und nicht zurückkehren solle. Sie habe keinen Platz mehr in der Familie und wisse nicht, wo sie hingehen solle. Sie habe kein Leben und keine Zukunft in Tunesien.
6. Mit angefochtenem Bescheid vom 05.12.2023 wies die belangte Behörde den Antrag der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Tunesien (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie der BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen die BF eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt V.). Des Weiteren wurde bestimmt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). 6. Mit angefochtenem Bescheid vom 05.12.2023 wies die belangte Behörde den Antrag der BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt römisch eins.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Tunesien (Spruchpunkt römisch II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte sie der BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt römisch III.), erließ gegen die BF eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt römisch IV.) und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt römisch fünf.). Des Weiteren wurde bestimmt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt römisch VI.).
7. Mit Schriftsatz vom 12.01.2024 erhob die BF durch ihre Rechtsvertretung fristgerecht und vollumfänglich Beschwerde gegen den vorangeführten Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie wegen der Verletzung von Verfahrensvorschriften.
8. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden in weiterer Folge vom BFA vorgelegt und sind am 24.01.2024 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.
9. Am 04.04.2024 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung statt, an welcher die BF sowie deren Rechtsvertretung teilnahmen. Im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Arabisch wurde die BF u.a. zu ihrer Identität, den persönlichen Lebensumständen, zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat, zu den Fluchtgründen sowie zu ihrem Leben in Österreich ausführlich befragt. Zudem wurde der Ehemann der BF nach muslimischen Ritus als Zeuge befragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. 1. Feststellungen:
1.1. Zur Person der BF:
Die volljährige, ledige BF ist Staatsangehörige von Tunesien und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Sie gehört der Volksgruppe der Araber an. Ihre Identität steht nicht fest.
Die BF spricht Arabisch. Sie hat acht Jahre lang die Schule besucht und verfügt über Berufserfahrung als Schneiderin, Zimmermädchen, Verkäuferin und Schusterin. Angesichts dessen ist anzunehmen, dass sie hinkünftig die Chance hat, am tunesischen Arbeitsmarkt unterzukommen und sich eine Existenz zu sichern.
Bei der BF wurde ein Eisenmangel diagnostiziert. Ansonsten ist die BF jedoch gesund, insbesondere ist festzustellen, dass sie an keinen schweren chronischen oder gar lebensbedrohlichen Erkrankungen leidet. Sie ist arbeitsfähig. Die BF ist schwanger, der errechnete Geburtstermin ist am XXXX 2024. Bei der BF wurde ein Eisenmangel diagnostiziert. Ansonsten ist die BF jedoch gesund, insbesondere ist festzustellen, dass sie an keinen schweren chronischen oder gar lebensbedrohlichen Erkrankungen leidet. Sie ist arbeitsfähig. Die BF ist schwanger, der errechnete Geburtstermin ist am römisch XXXX 2024.
In Tunesien verfügt die BF über familiäre Anbindungen in Form ihrer Eltern und Geschwister. Aufgrund ihres allgemein als unglaubhaft zu qualifizierenden Fluchtvorbringens (siehe dazu auch Punkt 2.3. „Zum Vorbringen der BF“) und ihrer persönlichen Unglaubwürdigkeit ist davon auszugehen, dass die BF nach wie vor Kontakt zu ihren Familienangehörigen pflegt. Vor ihrer Ausreise lebte die BF gemeinsamen mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in einem Eigentumshaus in Tunis.
Die BF reiste erstmals im Oktober 2022 unrechtmäßig in Österreich ein und war lediglich ca. zwei Wochen im Bundesgebiet aufhältig. Sie wurde im Juli 2023 aus Deutschland nach Österreich rücküberstellt und ist seitdem durchgehend im Bundesgebiet aufhältig.
Die BF ist in Österreich nicht straffällig geworden. Sie bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung, sie ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Sie führt in Österreich mit einem somalischen Staatsangehörigen namens J.S., geb. am XXXX 1993 eine Beziehung, der im Besitz eines Aufenthaltstitels besonderer Schutz gem. § 57 AsylG, gültig bis 29.10.2024, ist. Sein Antrag auf internationalen Schutz vom 28.09.2018 wurde am 14.05.2020 rechtskräftig abgewiesen und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Die BF1 und der Genannte haben nach muslimischem Ritus die Ehe geschlossen und erwartet die BF von ihm ihr erstes gemeinsames Kind. Ein gemeinsamer Haushalt liegt nicht vor. Darüber hinaus verfügt die BF in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgebliche private Beziehungen. Sie weist in Österreich auch keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf. In ihrer Unterbringung verrichtet sie gemeinnützige Tätigkeiten (Reinigungsarbeiten und Küchenhilfe). Sie besucht seit März 2023 einen Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses, der bis 27.09.2024 dauert. Eine qualifizierte Sprachprüfung hat sie bislang jedoch nicht abgelegt und verfügt sie dementsprechend über keine zertifizierten Deutschkenntnisse. Zudem geht sie keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach und hat sie auch nicht an einer beruflichen Aus- und Weiterbildung teilgenommen. Sie ist auch nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation und kann folglich nicht von einer nachhaltigen Verfestigung der BF im Bundesgebiet gesprochen werden. Sie führt in Österreich mit einem somalischen Staatsangehörigen namens J.S., geb. am römisch XXXX 1993 eine Beziehung, der im Besitz eines Aufenthaltstitels besonderer Schutz gem. Paragraph 57, AsylG, gültig bis 29.10.2024, ist. Sein Antrag auf internationalen Schutz vom 28.09.2018 wurde am 14.05.2020 rechtskräftig abgewiesen und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen. Die BF1 und der Genannte haben nach muslimischem Ritus die Ehe geschlossen und erwartet die BF von ihm ihr erstes gemeinsames Kind. Ein gemeinsamer Haushalt liegt nicht vor. Darüber hinaus verfügt die BF in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte oder maßgebliche private Beziehungen. Sie weist in Österreich auch keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf. In ihrer Unterbringung verrichtet sie gemeinnützige Tätigkeiten (Reinigungsarbeiten und Küchenhilfe). Sie besucht seit März 2023 einen Lehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses, der bis 27.09.2024 dauert. Eine qualifizierte Sprachprüfung hat sie bislang jedoch nicht abgelegt und verfügt sie dementsprechend über keine zertifizierten Deutschkenntnisse. Zudem geht sie keiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach und hat sie auch nicht an einer beruflichen Aus- und Weiterbildung teilgenommen. Sie ist auch nicht Mitglied in einem Verein oder einer sonstigen Organisation und kann folglich nicht von einer nachhaltigen Verfestigung der BF im Bundesgebiet gesprochen werden.
1.2. Zu den Fluchtmotiven der BF:
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF von ihrer Familie gezwungen wurde, ihren Cousin zu heiraten und sie nun im Falle ihrer Rückkehr von ihrer Familie getötet werden würde. Es ist der BF nicht gelungen, eine asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung glaubhaft zu machen.
Im Falle ihrer Rückkehr nach Tunesien wird sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner wie immer gearteten asylrelevanten Verfolgung oder sonstigen existentiellen Bedrohung ausgesetzt sein.
1.3. Zur allgemeinen Situation in Tunesien:
Gemäß § 1 Z 11 HStV (Herkunftsstaaten-Verordnung) gilt Tunesien als sicherer Herkunftsstaat.Gemäß Paragraph eins, Ziffer 11, HStV (Herkunftsstaaten-Verordnung) gilt Tunesien als sicherer Herkunftsstaat.
Zur aktuellen Lage in Tunesien werden folgende Feststellungen getroffen:
2. Politische Lage
Tunesien befindet sich aktuell in einer schweren politischen und einer sich verschlimmernden wirtschaftlichen und finanziellen Krise (AA 22.6.2023).
Unter Berufung des Notstandsartikel 80 der Verfassung von 2014, hat Staatspräsident Kaïs Saïed am 25.7.2021 das tunesische Parlament suspendiert und später ganz aufgelöst (AA 22.6.2023).
Am 22.9.2021 hat Präsident Saïed per Präsidialdekret (Nr. 117) eine vorläufige öffentliche Ordnung erlassen, welche die bis dahin gültige Verfassung von 2014 weitestgehend ausgesetzt hat. In der Nacht vom 12./13.2.2022 hat er per Dekret den 2016 zur Garantie der Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Justiz gegründeten „Obersten Justizrat“ aufgelöst und durch ein vorläufiges Gremium ersetzt, das personell weitgehend seiner Kontrolle untersteht. Dadurch hat er sich weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Justiz gesichert (AA 22.6.2023). Am 22.4.2022 und auch am 10.5.2023 verfügte Präsident Saïed Änderungen an der Unabhängigen Hohen Wahlkommission (ISIE), dem Wahlaufsichtsgremium, das dem Präsidenten und nicht dem Parlament die Befugnis gab, ISIE-Mitglieder zu ernennen und ihren Haushalt zu genehmigen. Oppositionsparteien kritisierten den Schritt als Untergrabung der Unabhängigkeit der Kommission und der Integrität künftiger Wahlen. Die Zusammensetzung des ISIE-Vorstands hatte sich bis zum Jahresende 2022 nicht geändert (USDOS 20.3.2023).
Am 25.7.2022 wurde eine neue Verfassung per Referendum angenommen (95 % Zustimmung bei 30 % Wahlbeteiligung) (AA 22.6.2023). Diese Verfassung räumt dem Staatspräsidenten weitreichende Macht ein (BMEIA 5.6.2023). Mehrere etablierte politische Parteien forderten ihre Anhänger auf, das Referendum zu boykottieren, um ihre Ablehnung sowohl der Machtkonzentration des Präsidentenamtes in der vorgeschlagenen Verfassung als auch der Aufhebung der verfassungsmäßigen Ordnung und der Verhängung „außergewöhnlicher Maßnahmen“ durch Präsident Kaïs Saïed zum Ausdruck zu bringen (USDOS 20.3.2023). Gemäß der neuen Verfassung von 2022 ist Tunesien eine Präsidialrepublik mit einem Zweikammerparlament (USDOS 20.3.2023).
Im Herbst 2022 kündigte Saïed Parlamentswahlen an, die Ende Dezember auf der Grundlage einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes stattfinden sollten (FH 13.4.2023). Diese waren von weiteren zunehmenden Spannungen und Streiks geprägt. Organisationen und Aktivisten riefen zum Boykott der Wahlen auf, weil sie diese als Bedrohung für die Demokratie betrachteten (TI 31.1.2023). Das neue Parlament würde 161 Mitglieder haben, die in Einzelwahlkreisen gewählt werden, darunter 10 Vertreter der im Ausland lebenden Tunesier (FH 13.4.2023). Die Wahlbeteiligung bei den Legislativwahlen im Dezember 2022/Jänner 2023 erreichte mit ca. 11 % einen weltweiten historischen Negativrekord; viele politische Parteien boykottierten die Wahlen (AA 22.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Nur 1.058 Kandidaten traten an - ein starker Rückgang gegenüber früheren Parlamentswahlen. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang war wegen der zum großen Teil auf die strengen Beschränkungen für die Kandidatur und den von den großen Oppositionsparteien angeführten Boykott zurückzuführen. In zehn Wahlkreisen gab es nur einen zugelassenen Kandidaten, und für sieben der Sitze für im Ausland lebende Wähler gab es überhaupt keine Kandidaten. Nach dem ersten Wahlgang standen nur 21 Kandidaten als Sieger fest, und ein zweiter Wahlgang wurde für Jänner 2023 angesetzt. Bis zum 28.12.2022 wurden mindestens 57 Einsprüche gegen die ersten Ergebnisse bei der Unabhängigen Hohen Behörde für Wahlen (ISIE) eingereicht (FH 13.4.2023). Im März 2023 trat das mit geringer Beteiligung gewählte Parlament zusammen (BMEIA 5.6.2023). Am 13.3.2023 kam das neu gewählte Parlament zu seiner ersten Sitzung zusammen. Ausländische und unabhängige Journalistinnen und Journalisten durften auf Anweisung von Präsident Kaïs Saïed das Parlamentsgebäude nicht betreten, sodass nur staatliche Medien und Nachrichtenagenturen zugelassen waren. Als offizielle Begründung wurde angeführt, dass damit mögliche Unruhen verhindert werden sollten. Vor dem Parlamentsgebäude kam es zu Protesten. Zudem äußerte die Opposition erneute Kritik an der Legitimität der Wahl und an den Verhaftungen von Regierungskritikern in den vergangenen Wochen. Die hohe unabhängige Behörde für audiovisuelle Kommunikation (Haute Autorité Indépendante de la Communication Audiovisuelle, HAICA) und die tunesische Journalismusgewerkschaft (Syndicat National de Journalistes Tunisiens, SNJT) protestierten gegen die Medienzensur (BAMF 20.3.2023).Im Herbst 2022 kündigte Saïed Parlamentswahlen an, die Ende Dezember auf der Grundlage einer neuen Verfassung und eines neuen Wahlgesetzes stattfinden sollten (FH 13.4.2023). Diese waren von weiteren zunehmenden Spannungen und Streiks geprägt. Organisationen und Aktivisten riefen zum Boykott der Wahlen auf, weil sie diese als Bedrohung für die Demokratie betrachteten (TI 31.1.2023). Das neue Parlament würde 161 Mitglieder haben, die in Einzelwahlkreisen gewählt werden, darunter 10 Vertreter der im Ausland lebenden Tunesier (FH 13.4.2023). Die Wahlbeteiligung bei den Legislativwahlen im Dezember 2022/Jänner 2023 erreichte mit ca. 11 % einen weltweiten historischen Negativrekord; viele politische Parteien boykottierten die Wahlen (AA 22.6.2023; vergleiche USDOS 20.3.2023). Nur 1.058 Kandidaten traten an - ein starker Rückgang gegenüber früheren Parlamentswahlen. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang war wegen der zum großen Teil auf die strengen Beschränkungen für die Kandidatur und den von den großen Oppositionsparteien angeführten Boykott zurückzuführen. In zehn Wahlkreisen gab es nur einen zugelassenen Kandidaten, und für sieben der Sitze für im Ausland lebende Wähler gab es überhaupt keine Kandidaten. Nach dem ersten Wahlgang standen nur 21 Kandidaten als Sieger fest, und ein zweiter Wahlgang wurde für Jänner 2023 angesetzt. Bis zum 28.12.2022 wurden mindestens 57 Einsprüche gegen die ersten Ergebnisse bei der Unabhängigen Hohen Behörde für Wahlen (ISIE) eingereicht (FH 13.4.2023). Im März 2023 trat das mit geringer Beteiligung gewählte Parlament zusammen (BMEIA 5.6.2023). Am 13.3.2023 kam das neu gewählte Parlament zu seiner ersten Sitzung zusammen. Ausländische und unabhängige Journalistinnen und Journalisten durften auf Anweisung von Präsident Kaïs Saïed das Parlamentsgebäude nicht betreten, sodass nur staatliche Medien und Nachrichtenagenturen zugelassen waren. Als offizielle Begründung wurde angeführt, dass damit mögliche Unruhen verhindert werden sollten. Vor dem Parlamentsgebäude kam es zu Protesten. Zudem äußerte die Opposition erneute Kritik an der Legitimität der Wahl und an den Verhaftungen von Regierungskritikern in den vergangenen Wochen. Die hohe unabhängige Behörde für audiovisuelle Kommunikation (Haute Autorité Indépendante de la Communication Audiovisuelle, HAICA) und die tunesische Journalismusgewerkschaft (Syndicat National de Journalistes Tunisiens, SNJT) protestierten gegen die Medienzensur (BAMF 20.3.2023).
Obwohl Präsident Kaïs Saïed Anfang Feber 2023 noch ein hartes Durchgreifen gegen Migranten ankündigte, beschlossen die EU und Tunesien eine noch stärkere Zusammenarbeit beim Thema Migration. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Regierungschefs der Niederlande und Italiens sowie Tunesiens Präsident Kaïs Saïed verkündeten am Sonntag, den 16.7.2023 in Tunis die Unterzeichnung einer entsprechenden Absichtserklärung. Die EU-Kommission kann somit auch Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro dafür aufbringen. Im Gegenzug soll Tunesien zukünftig stärker gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorgehen (ZDF 16.7.2023; vgl. Standard 16.7.2023).Obwohl Präsident Kaïs Saïed Anfang Feber 2023 noch ein hartes Durchgreifen gegen Migranten ankündigte, beschlossen die EU und Tunesien eine noch stärkere Zusammenarbeit beim Thema Migration. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Regierungschefs der Niederlande und Italiens sowie Tunesiens Präsident Kaïs Saïed verkündeten am Sonntag, den 16.7.2023 in Tunis die Unterzeichnung einer entsprechenden Absichtserklärung. Die EU-Kommission kann somit auch Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro dafür aufbringen. Im Gegenzug soll Tunesien zukünftig stärker gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorgehen (ZDF 16.7.2023; vergleiche Standard 16.7.2023).
Allerdings schloss Saïed auch aus, Tunesien zu einer Grenzpolizei für Europa werden zu lassen. Tunesiens Regierung sieht eine langfristige Ansiedlung von Migranten im Land zudem kritisch. Viele Tunesier fürchten, dass genau dies das Ergebnis des EU-Deals sein könnte. Die Absichtserklärung ist in den Verhandlungen ein wichtiger Schritt nach vorne. Davor braucht es aber auch noch einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Höhe von 1,9 Milliarden Dollar. Dieser hängt jedoch noch in der Luft, weil Präsident Saïed keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will (ZDF 16.7.2023; vgl. der Standard 16.7.2023).Allerdings schloss Saïed auch aus, Tunesien zu einer Grenzpolizei für Europa werden zu lassen. Tunesiens Regierung sieht eine langfristige Ansiedlung von Migranten im Land zudem kritisch. Viele Tunesier fürchten, dass genau dies das Ergebnis des EU-Deals sein könnte. Die Absichtserklärung ist in den Verhandlungen ein wichtiger Schritt nach vorne. Davor braucht es aber auch noch einen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Höhe von 1,9 Milliarden Dollar. Dieser hängt jedoch noch in der Luft, weil Präsident Saïed keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will (ZDF 16.7.2023; vergleiche der Standard 16.7.2023).
Aktuell kann Tunesien somit nicht als Demokratie im klassischen Sinne gelten, sondern als Autokratie mit verbleibenden demokratisch-rechtstaatlichen Elementen. In der vorläufigen öffentlichen Ordnung wurden fast alle Grundrechtsartikel quasi wortgleich aus der Verfassung von 2014 übernommen. Allerdings ist unklar, inwieweit diese Rechte tatsächlich gewährleistet werden, da z. B. keine Unabhängigkeit der Justiz mehr gegeben ist und es kein einem Verfassungsgericht vergleichbares Organ gibt. Die Zustimmungswerte von Staatspräsident Saïed haben sich gegenüber ihrem Höchststand unmittelbar nach dem 25.7.2021 mehr als halbiert (AA 22.6.2023).
Quellen:
? AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.6.2023): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Tunesien (Stand: Mai 2023), https://www.ecoi.net/en/file/local/2093953/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Tunesien%2C_22.06.2023.pdf, Zugriff 28.6.2023
? BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (20.3.2023): Briefing Notes https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/EN/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2023/briefingnotes-kw12-2023.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff 27.6.2023
? BMEIA - Bundesministerium Europäische und internationale Angelegenheiten [Österreich] (5.6.2023): Tunesien (Tunesische Republik), https://www.bmeia.gv.at/reise-services/reiseinformation/