Entscheidungsdatum
03.04.2024Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
L532 2277173-1/22E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Georg WILD-NAHODIL als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch MARSCHALL & HEINZ, Rechtsanwalts-KG in 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.07.2023, Zl. XXXX , in einer Angelegenheit nach § 3 AsylG nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt: Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Georg WILD-NAHODIL als Einzelrichter über die Beschwerde des römisch XXXX , geb. römisch XXXX , Staatsangehörigkeit Syrien, vertreten durch MARSCHALL & HEINZ, Rechtsanwalts-KG in 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.07.2023, Zl. römisch XXXX , in einer Angelegenheit nach Paragraph 3, AsylG nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch XXXX gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (i.d.F. „BF“), ein syrischer Staatsangehöriger, stellte am 29.10.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte der BF im Zuge seiner polizeilichen Erstbefragung am nächsten Tag im Wesentlichen vor, Syrien wegen des Krieges verlassen zu haben. Er habe weder der Regierung noch der Opposition angehören, sondern ein friedliches Leben führen wollen.
2. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der BF am 03.07.2023 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (i.d.F. „bB“ oder „Bundesamt“) einvernommen. Zusammengefasst legte der BF Folgendes dar: Er sei syrischer Staatsbürger arabischen Hintergrundes und sunntischer Moslem. Er sei im Jahr 2018 erstmals aus seinem Herkunftsstaat wegen einer Pilgerreise nach Saudi-Arabien ausgereist und im Anschluss in seinen Herkunftsstaat zurückgekehrt. Im Sommer 2019 habe er Syrien schließlich endgültig verlassen, wobei die Ausreise legal erfolgt sei. Zuvor sei er im Jahr 2013 vom Regime festgenommen, 25 Tage angehalten und gefoltert worden. Am 04.04.2017 sei der Wohnsitz des BF vom syrischen Regime mit Giftgas bombardiert worden, der BF hätte beinahe das Bewusstsein verloren. Der Heimatort des BF stünde unter der Kontrolle des Regimes. In seinen Herkunftsstaat wolle der BF aufgrund des Krieges nicht zurückkehren. Nach der Rückübersetzung führte der BF ergänzend an, dass er zum Reservedienst einberufen worden sei, die Einberufung jedoch nicht schriftlich erhalten habe.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 05.07.2023, Zl. XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm jedoch gem. § 8 Abs 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat zuerkannt (Spruchpunkt II.) und gleichzeitig gem. § 8 Abs 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.). Mit Informationsblatt vom selben Tag wurde dem BF ein Rechtsberater gem. § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 05.07.2023, Zl. römisch XXXX , wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), ihm jedoch gem. Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und gleichzeitig gem. Paragraph 8, Absatz 4, AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.). Mit Informationsblatt vom selben Tag wurde dem BF ein Rechtsberater gem. Paragraph 52, BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.
Argumentiert wurde seitens der bB im Wesentlichen damit, es sei glaubhaft, dass der BF seinen Herkunftsstaat aufgrund der Kriegs- und Sicherheitslage verlassen habe. Erst nach Rückübersetzung der Einvernahmeniederschrift habe der BF nachgeschoben, er sei zum Reservedienst einberufen worden, ohne jedoch eine diesbezügliche schriftliche Verständigung erhalten zu haben. Dem widerspreche, dass er 2018 im Zuge einer Pilgerreise legal ausgereist und wieder nach Syrien zurückgekehrt sei und auch im Jahr 2019 seinen Herkunftsstaat auf legalem Wege verlassen habe. Dem BF sei keine Wehrdienstverweigerung oder –entziehung vorzuwerfen und habe er auch sonst kein Verhalten gezeigt, welches die syrische Regierung für oppositionell erachten könne.
4. Gegen den dem BF am 27.07.2023 zugestellten Bescheid des Bundesamtes richtet sich die am 23.08.2023 eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (i.d.F. „BVwG“). Zusammengefasst wird im Beschwerdeschriftsatz moniert, der BF habe seinen Herkunftsstaat Syrien aufgrund der Einberufung zum Reservedienst verlassen, da er nicht am Krieg teilnehmen und weder der Opposition noch der Regierung angehören wolle. Der BF fürchte in Syrien um sein Leben. Für das syrische Militär sei der BF deshalb von Bedeutung, weil er den Wehrdienst bei der Syrisch-Republikanischen Garde absolviert habe, welche der am weitesten entwickelte Teil der syrischen Armee sei. Weiters sei der BF Opfer eines Giftgasanschlags des syrischen Regimes am 04.04.2017 gewesen und hätten zahlreiche nationale und internationale Medien Interviews mit den Zeugen des Angriffs geführt. Das syrische Regime versuche, solche Zeugen zu verfolgen, um sich ihrer zu entledigen. Dem BF sei daher der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
5. Am 11.01.2024 wurde vor dem BVwG die beantragte mündliche Verhandlung im Beisein des BF, seiner rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch durchgeführt. Der BF äußerte sich wie folgt:
[…]
RI: Wollen Sie ergänzende Beweismittel vorlegen?
RV: Ja.
RV legt vor:
- Urkundenkonvolut welche die Hörbeeinträchtigung des BF unter Beweis stellt (Rechnungen der bezahlten und abgeholten Hörgeräte.).
- Lichtbild, das den BF bei einer regimekritischen Demonstration am 27.08.2023 vor dem Stephansdom zeigt, und auch laut RV in den sozialen Medien veröffentlicht wurde.
RV: Dieses zeigt die regimekritische Gesinnung des BF und führt auch zu einer Gefährdung von Leib und Leben im Falle der Rückkehr.
RI: Mit der Ladung wurde Ihnen das aktuelle Länderinformationsblatt übermittelt. Haben Sie eine diesbezügliche schriftliche Stellungnahme vorbereitet oder möchten mündlich zum Länderinformationsblatt Stellung beziehen?
RV: Nein.
RI: Haben Sie gegenüber der Polizei und dem BFA wahrheitsgemäß und vollständig ausgesagt, wurde alles richtig protokolliert und rückübersetzt?
BF: Ich habe alles erzählt. Leider war die Zeit sehr knapp und mir wurde die Zeit nicht gegeben, um meine Gründe zu ergänzen. Nachgefragt gebe ich an, dass diese Verhandlung ca. eine halbe Stunde gedauert hat und ich hatte keine Zeit, um meine Gründe zu sagen. Mir wurde gesagt, ich soll kurz und bündig antworten.
RI wiederholt und erörtert die Frage.
BF: Es hat eine Rückübersetzung gegeben und ich habe auf dem Protokoll unterschrieben. Nachgefragt gebe ich an, dass nicht alles protokolliert wurde, was ich angegeben habe.
RI: Was wurde nicht protokolliert, was Sie gesagt haben?
BF: Am 04.04.2017 wurden wir mit Chemiewaffen in meinem Heimatdorf namens XXXX beschossen (BF legt Facebook-Screenshot vor). Ich war komplett bewusstlos. Sie haben mich in ein Krankenhaus gebracht. Ich habe nach ca. 25 Tagen wieder mein Bewusstsein erlangt und Journalisten besuchten mich im Krankenhaus. Sie haben mich interviewt. Natürlich weiß das syrische Regime davon. Deswegen werde ich als Zeuge gesucht. BF: Am 04.04.2017 wurden wir mit Chemiewaffen in meinem Heimatdorf namens römisch XXXX beschossen (BF legt Facebook-Screenshot vor). Ich war komplett bewusstlos. Sie haben mich in ein Krankenhaus gebracht. Ich habe nach ca. 25 Tagen wieder mein Bewusstsein erlangt und Journalisten besuchten mich im Krankenhaus. Sie haben mich interviewt. Natürlich weiß das syrische Regime davon. Deswegen werde ich als Zeuge gesucht.
RV: Das Regime versucht, den Angriff zu vertuschen. Natürlich werden die Zeugen des Angriffs gesucht.
RI: War das das, was Sie gesagt haben, was bei der Einvernahme nicht protokolliert wurde?
BF: Ich muss auch als Reservist einrücken.
RI: Mir geht es darum abzuklären, was nicht festgehalten wurde. Das haben Sie aber schon vorgebracht. Bitte beantworten Sie einfach meine Frage.
BF: Als Reservist werde ich vom syrischen Regime gesucht. Sie haben meine Beweise nicht genommen.
BF legt einen Nachweis über Ableistung des Wehrdienstes Original und Kopie samt Entlassungsschreiben („Laufzettel“) in Kopie vor.
Dolmetscher wird um Übersetzung des Nachweises über die Ableistung des Wehrdienstes ersucht.
D: Bestätigung des Verteidigungsministers, dass der Rekrut XXXX , Militärnummer XXXX , geb. XXXX , geb. in XXXX , Provinz Idlib, Rekrutierungsabteilung in XXXX , seinen Wehrdienst absolviert hat. Präsident der Brigade. Er hat seinen Militärdienst am XXXX beendet. Sein Verhältnis war sehr gut. Fertigungsdatum: XXXX . D: Bestätigung des Verteidigungsministers, dass der Rekrut römisch XXXX , Militärnummer römisch XXXX , geb. römisch XXXX , geb. in römisch XXXX , Provinz Idlib, Rekrutierungsabteilung in römisch XXXX , seinen Wehrdienst absolviert hat. Präsident der Brigade. Er hat seinen Militärdienst am römisch XXXX beendet. Sein Verhältnis war sehr gut. Fertigungsdatum: römisch XXXX .
In Aussicht gestellt wird eine Urkundenüberprüfung.
RI: Wie empfanden Sie die Einvernahmesituation beim BFA?
BF: Während dieser Einvernahme haben sie gesagt, dass ich kurz und bündig antworten muss. Ich hatte nicht genug Zeit, um zu antworten.
RI: Woher in Syrien genau stammen Sie?
BF: Ich stamme aus der Stadt XXXX , sie gehört zur Provinz Idlib. BF: Ich stamme aus der Stadt römisch XXXX , sie gehört zur Provinz Idlib.
RI: Wer genau beherrscht dieses Gebiet?
BF: Seit 2019 ist mein Heimatort unter der Macht des syrischen Regimes.
RI: Wer von Ihrer Kernfamilie lebt noch in Syrien?
BF: Drei Brüder und drei Schwestern leben noch in Syrien.
RI: Wie alt sind die Brüder?
BF: Der älteste ist 65 Jahre alt und lebt in der Türkei. Zu meinen Brüdern in Syrien: Diese sind 57, 54 und 52 Jahre alt.
RI: Wo halten sich die Brüder in Syrien auf?
BF: In der Provinz Idlib.
RI: Wann reisten Sie endgültig aus Syrien aus?
BF: Im neunten Monat 2019 habe ich Syrien verlassen. Ich reiste in die Türkei ein.
RI: Auf welchem Weg verließen Sie Syrien?
BF: Aus gesundheitlichen Gründen habe ich Syrien in die Türkei verlassen. Ich habe nämlich Hörprobleme und wollte in der Türkei behandelt werden. Ich habe Syrien über den Zoll verlassen.
RI: Verließen Sie Syrien anlässlich Ihrer Ausreise legal oder illegal?
BF: Ich bin mit meinem Reisepass legal ausgereist. Damit ich mich behandeln lassen kann in der Türkei.
RI: Mit welchen Transportmitteln verließen Sie Syrien?
BF: Ich bin mit der Rettung bis zur türkischen Grenze über den Zoll gefahren und danach mit einem Bus.
RI: Sind Sie zum ersten Mal im Ausland?
BF: 2018 war ich zur Pilgerreise in Saudi-Arabien. Ich reiste über die Türkei dort ein.
RI: Erfolgte diese Ausreise legal oder illegal?
BF: Diese Ausreise erfolgte auch legal. Ich war in Saudi-Arabien, dann bin ich in die Türkei und reiste wieder nach Syrien zurück. 2019 reiste ich ebenfalls über die Türkei.
RI: Was war entscheidend dafür, dass Sie Syrien dieses Mal verlassen haben?
BF: Ich bin gesucht vom syrischen Regime, weil ich damals Zeuge war beim Chemiewaffenangriff des syrischen Regimes. Anfang 2019 hat es eine brutale Auseinandersetzung gegeben in meinem Heimatdorf. Im sechsten Monat 2019 hat das syrische Regime mein Heimatdorf wieder erobert.
RI: Wann war dieses Interview?
BF: Das erste Interview hat am 25.04.2017 stattgefunden und ich habe mehrere Interviews gemacht mit mehreren Sendern. Einige von ihnen waren BBC, Orient und mit mehreren türkischen Journalisten auch.
RI: Haben Sie für diese Interviews irgendwelche Beweise?
BF: Ich habe keine Beweise. Sie können recherchieren im Internet ob irgendwo mein Name steht oder ein Foto.
Dem RV wird eine Frist von 4 Wochen eingeräumt, um Beweise für Interviews zu recherchieren.
BF legt vor: Beweis über Verbringung ins Krankenhaus nach dem Chemiewaffenangriff samt deutschsprachiger Übersetzung.
RI: Sie haben geschildert, es wäre im Juni 2019 zu „Auseinandersetzungen“ gekommen. Was können Sie mir über diese Auseinandersetzungen sagen?
BF: Anfang 2019 hat es eine brutale Bombardierung des syrischen Regimes auf unser Gebiet gegeben. Mitte 2019 hat es unser Gebiet eingenommen.
RI: Wer herrschte über Ihr Gebiet bis Mitte 2019?
BF: Die FSA.
RI: Hat die FSA von 2017-2019 das Gebiet beherrscht?
BF: Von 2013 bis Mitte 2019.
RI: Gab es in der Vergangenheit konkrete Verfolgungshandlungen gegen Ihre Person?
BF: Anfang 2013 wurde ich vom syrischen Regime festgenommen. Ich wurde einen Monat lang eingesperrt. In diesem Monat wurde ich gefoltert. Dann wurde ich befreit von der FSA. Am 25. März 2013 wurde ich vom syrischen Regime verhaftet.
RI: Haben Sie die letzten drei Monate im Jahr 2019 vor Ihrer Ausreise im vom Regime beherrschten Gebiet gelebt?
BF: Anfang 2019 bin ich Richtung Türkei geflohen. Ich war nicht in meinem Heimatort, sondern habe an der Grenze zur Türkei gelebt.
RI: Gab es wegen den Interviews konkrete Verfolgungshandlungen des syrischen Regimes gegen Sie?
BF: Für mich ist klar, dass ich vom syrischen Regime verfolgt werde. Sie haben mich aber nie erwischt. Ich habe nämlich immer in Gebieten gelebt, die nicht unter der Herrschaft des syrischen Regimes stehen.
RI: Warum ist für Sie klar, dass Sie wegen der Interviews verfolgt werden?
BF: Ich war Zeuge damals in meinem Heimatdorf. Das syrische Regime hat sein eigenes Volk mit Chemiewaffen beschossen und das syrische Regime gab das nicht zu, sie wollten es vertuschen. Natürlich wurde ich gesucht, weil ich ein Zeuge war. Leute haben Amnestie mit dem syrischen Regime gemacht. Sie sagten, ich soll zurückkommen und meine Aussage über den Vorfall vom 04.04.2017 ändern. Dann können wir dir verzeihen und dich nicht verfolgen.
RI: Wer hat Sie da kontaktiert?
BF: Ein syrischer Bürger meines Heimatorts namens XXXX nahm mit mir Kontakt auf. Er ist der verantwortliche für Amnestien in meinem Gebiet. BF: Ein syrischer Bürger meines Heimatorts namens römisch XXXX nahm mit mir Kontakt auf. Er ist der verantwortliche für Amnestien in meinem Gebiet.
RI: Wann war das?
BF: Das war 2019.
RI: Wann genau 2019?
BF: Anfang August 2019. Er hat mich bedroht und gesagt; „du musst deine Meinung ändern und du musst ein neues Interview machen, sonst werden wir dich umbringen.“
RV: Ich habe soeben auf YouTube ein Interview des BF mit der Organisation Human Rights Watch gefunden und werde Ihnen den Link elektronisch einbringen.
Anmerkung: RV zeigt Video BF und fragt diesen, ob er die Interviewte Person ist. BF bestätigt dies. Auch nach Ansicht des Richters ist die Person mit der genannten Person ident.
RI: Sie sagten, Sie befürchten eine Einberufung zum Reservedienst. Halten Sie dieses Vorbringen aufrecht?
BF: Ich muss unbedingt zum Militärdienst als Reservist. Alle die XXXX , XXXX geboren wurden, müssen zum Militärdienst einrücken. Ich habe dafür auch ein Beweismittel (Anmerkung: BF bezieht sich auf AS 163, 164). BF: Ich muss unbedingt zum Militärdienst als Reservist. Alle die römisch XXXX , römisch XXXX geboren wurden, müssen zum Militärdienst einrücken. Ich habe dafür auch ein Beweismittel (Anmerkung: BF bezieht sich auf AS 163, 164).
RI: Durch wen genau befürchten Sie eine Zwangsrekrutierung?
BF: Sie würden mich zwingen zum Reservedienst zu gehen. Ich bin gegen das syrische Regime. Ich möchte für solche Mörder nicht kämpfen.
RI: Wurden Sie zum Reservedienst aktiv einberufen?
BF: Ja. (BF bezieht sich wieder auf AS 163, 164).
RI: Trat die syrische Armee auch an Sie persönlich heran?
BF: Ich lebe seit 2013 in einem Gebiet das vom syrischen Regime nicht beherrscht wird. Außerdem werde ich auch wegen den Interviews als Regimegegner gesucht.
RV: Seit wann sind Sie regimekritisch?
BF: Seit 2011.
RV: Waren Sie vorher politisch oder unpolitisch?
BF: Ich war Käseverkäufer, ich war total neutral. Ich hatte Angst vor dem syrischen Regime.
RV: 2011 haben Sie sich entschieden, gegen das Regime zu sein. Waren Sie vorher neutral oder hatten Sie Angst vor dem syrischen Regime?
BF: Ich war vor 2011 auch gegen das syrische Regime, aber weil ich Angst hatte, habe ich meine Meinung nicht geäußert.
RV: Welche Gründe gab es, dass Sie 2011 Ihre Meinung äußerten?
BF: Ich habe die Schule nicht besucht und ich habe meine Rechte nicht bekommen.
RV: Was meinen Sie mit: „Ich habe meine Rechte nicht bekommen.“?
BF: Es herrscht nur eine Partei in Syrien und die sagt alles. Z.B. ob man die Schule besuchen darf. Was die Partei sagt, geschieht auch. Ich hatte z.B. nie die Chance die Schule zu besuchen. In Österreich hat z.B. jeder das Recht, die Schule zu besuchen.
RV: Der mediale Fokus und dass mehrere Leute aufgesprungen sind, also der arabische Frühling, hat es das Ihnen erleichtert, aufzustehen?
BF: Natürlich hat es das erleichtert. Ich habe einfach mitgemacht. Ich war immer Antiregime. Ich habe auch demonstriert.
RV: Ab wann haben Sie demonstriert?
BF: Seit 2011 habe ich demonstriert. Ich war mit meinem Moped unterwegs und habe gefilmt. Ich habe auch Plakate bei Demonstrationen gehalten. Direkt nach der Demonstration sind wir weggelaufen. Wenn wir entwischt werden, reißt der Geheimdienst uns unsere Nägel aus.
RI: Wie hat XXXX Sie genau kontaktiert und woher hatte er Ihre Kontaktdaten?RI: Wie hat römisch XXXX Sie genau kontaktiert und woher hatte er Ihre Kontaktdaten?
BF: Anfang August 2019 hat er mit mir über WhatsApp Kontakt aufgenommen. Er hatte meine Nummer von meinen Verwandten. Ich war damals an der syrisch-türkischen Grenze. Er hat gesagt ich müsse ein neues Interview machen und meine Aussagen von 2017 wiederrufen, sonst würden sie mich umbringen.
RI: Welcher Waffengattung gehörten Sie an?
BF: Es war eine russische Waffe. Ich weiß nicht mehr wie die Waffe heißt.
RI erörtert die Frage.
BF: Ich war in der Kaserne in Damaskus. Ich war Infanterist.
RI: Von wann bis wann leisteten Sie Wehrdienst?
BF: Ich war von 2002 bis 2004.
RI: Haben Sie einen höheren Dienstgrad erworben?
BF: Nein. Ich war Rekrut.
RI: Was genau waren Ihre Aufgaben im Zuge des Wehrdienstes?
BF: Wir haben viele Übungen gemacht und viel Sport betrieben. Wir haben viele Schussübungen gemacht. Also ohne Panzer.
RI: Waren Sie im Zuge des Wehrdienstes jemals in Gefechte verwickelt?
BF: Nein.
RI: An welchen Waffen und Geräten wurden Sie im Zuge des Wehrdienstes ausgebildet?
BF: Es war eine russische Waffe, aber ich weiß nicht, wie sie heißt. Es fällt mir einfach nicht ein.
RI: Welche Ausbildungen haben Sie im Allgemeinen im Zuge Ihres Wehrdienstes genossen?
BF: Ich habe keine besondere Ausbildung. Ich habe ganz genau dieselbe Ausbildung wie alle anderen Rekruten.
RI: Welche konkreten Befürchtungen hegen Sie im Zusammenhang mit dem Reservedienst?
BF: Ich bin nicht bereit in den Krieg zu gehen. Ich will keine Waffe tragen. Sie würden mich umbringen, bevor ich zum Militärdienst gehe.
RV: Fürchten Sie im Falle der Ableistung des Reservedienstes bzw. beim Erscheinen zum Reservedienst eine Gefahr für Leib und Leben durch Ihre Kameraden?
BF: Ich trage keine Waffen. Wenn ich dort bin müsste ich meine eigenen Leute umbringen und das möchte ich nicht.
RV: Haben Sie Angst gehabt, dass ein Regimekritiker an Leib und Leben geschädigt werden würde, womit ich damit nicht unbedingt nur eine Tötung meine, sondern z.B. auch Folter?
BF: Das Regime würde mich wegen des Vorfalls 2017 umbringen. Bevor ich überhaupt einrücken würde, würde ich wegen der Vorfälle 2017 umgebracht werden.
RI: Warum sollte das syrische Regime Interesse daran haben, dass genau Sie Reservedienst leisten? Sie sind schon älter, haben keine speziellen Ausbildungen und sind gesundheitlich aufgrund Ihrer Hörbehinderung eingeschränkt.
BF: Beim syrischen Regime spielt es keine Rolle, ob man gesund oder krank, jung oder alt ist. Sie bringen uns einfach an die Front um dort zu sterben. Das Regime macht das absichtlich.
RI: Würden Sie – hypothetisch – in Österreich den Wehrdienst ableisten?
BF: Ja. Den Zivildienst würde ich absolvieren, aber ich würde keine Waffen tragen.
RI: Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Gründe – außer jenen, aufgrund derer Ihnen den subsidiären Schutzstatus erteilt wurde und den heute thematisierten Gründen – warum Sie nicht nach Syrien zurückkehren können?
BF: Nein. Das sind alle meine Gründe. Ich habe schlimmes dort erlebt und ich kann nicht mehr dorthin zurückgehen.
RI: Gibt es Fragen des RV?
RV: Ja.
RV: Sie haben gesagt, das Regime macht das Absichtlich, dass es ältere und gebrechliche an die Front schickt. Haben Sie das selbst gesehen oder nur gehört?
BF: Es funktioniert zu 100% so in Syrien. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit der Lage in Syrien. Ich habe solche Fälle von vielen Leuten gehört.
RV: Kann man sagen, dass man als Regimegegner und älterer Mann eingezogen wird, dass dies die Sterbewahrscheinlichkeit um einiges erhöht?
BF: Sicher würden sie mich zwingen als Reservist zum Militärdienst zu gehen. Meine Überlebenschance wäre sehr gering. Der Geheimdienst würde mich während meines Wehrdienstes umbringen.
RV: Keine weiteren Fragen.
RI: Möchten Sie Beweisanträge stellen?
RV: Ich beantrage folgende Anfrage an die Staatendokumente zu stellen: Ist es empirisch beweisbar, dass ältere Regimekritiker in Überzahl zur Reserve eingezogen werden?
RV: Kennen Sie Syrer in Österreich, die bezeugen können, dass Zeugen es Giftgasanschlags gezielt verfolgt werden um diese Giftgasanschläge vor der Staatengemeinschaft zu verschleiern?
BF: Ja, ich kenne zwei bis drei Personen persönlich, die in Deutschland leben.
RV: Ich behalte mir vor Eidesstattliche Erklärungen dieser Personen vorzulegen. Auf eine Ladung wird aufgrund des Wohnsitzes im Ausland verzichtet.
[…]
6. Am 11.01.2024 wurde die Staatendokumentation schriftlich um Auskunft ersucht, ob es bekannt ist, dass Personen mit dem – näher dargestellten – Hintergrund des BF Opfer gezielter Verfolgungshandlungen werden würden und gegebenenfalls welchen Verfolgungshandlungen sie sich ausgesetzt sähen, und ob es empirisch beweisbar sei, dass ältere Regimekritiker in Überzahl zur Reserve eingezogen werden würden.
7. Am 12.01.2024 ersuchte das BVwG das Bundeskriminalamt um Authentifizierung der vorgelegten Bestätigung über die Ableistung des Wehrdienstes.
8. Am 12.01.2024 langte hg. eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation ein.
9. Am 15.01.2024 übermittelte das BVwG die Anfragebeantwortung vom 12.01.2024 der rechtsfreundlichen Vertretung sowie der bB, räumte eine Stellungnahmefrist in der Dauer von 14 Tagen ein und gab die Möglichkeit, binnen selbiger Frist eine fortgesetzte mündliche Verhandlung zu begehren.
10. Mit 24.01.2024 langte hg. eine Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung samt einer Liste der Opfer des vom BF geltend gemachten Giftgasanschlags und eines Artikels von Human Rights Watch vom 04.04.2018 ein.
11. Der anwaltliche Schriftsatz samt Beilagen wurde am 06.02.2024 der bB zur allfälligen Stellungnahme binnen 14 Tagen übermittelt.
12. Mit Eingabe vom 21.02.2024 gab das Bundeskriminalamt bekannt, dass die übermittelte Urkunde nach derzeitigem Kenntnisstand authentisch sei. Informations- oder Vergleichsmaterial zum Dokument liege jedoch nicht vor.
13. Mit 28.02.2024 wurde der Untersuchungsbericht des Bundeskriminalamts vom 21.02.2024 dem Bundesamt sowie der rechtsfreundlichen Vertretung unter Einräumung einer siebentägigen Stellungnahmefrist übermittelt.
14. Am 05.03.2024 langte hg. eine anwaltliche Stellungnahme vom 04.03.2024 ein, welcher ein syrisches Wehrdienstbuch im Original beigeschlossen war.
15. Am 25.03.2024 wurde der rechtsfreundlichen Vertretung des BF sowie der bB das mit 14.03.2024 aktualisierte Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien zwecks allfälliger Stellungnahme binnen sieben Tagen übermittelt.
16. Am 28.03.2024 langte hg. eine Stellungnahme der rechtsfreundlichen Vertretung ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Die Identität des BF steht fest. Der BF führt den Namen XXXX und wurde am XXXX in XXXX geboren. Er lebte dort bis Anfang 2019. Bis Sommer 2019 lebte er im syrisch-türkischen Grenzgebiet. In weiterer Folge reiste der BF noch im selben Jahr legal in die Türkei ein und im Jahr 2022 Richtung Österreich aus, wo er schließlich im Oktober 2022 illegal einreiste. 1.1. Die Identität des BF steht fest. Der BF führt den Namen römisch XXXX und wurde am römisch XXXX in römisch XXXX geboren. Er lebte dort bis Anfang 2019. Bis Sommer 2019 lebte er im syrisch-türkischen Grenzgebiet. In weiterer Folge reiste der BF noch im selben Jahr legal in die Türkei ein und im Jahr 2022 Richtung Österreich aus, wo er schließlich im Oktober 2022 illegal einreiste.
Der BF ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der arabischen Volksgruppe an und ist moslemisch-sunntischen Glaubens. Er beherrscht die arabische Sprache auf muttersprachlichem Niveau, ist verheiratet und hat vier minderjährige Kinder. Der BF erwarb im Herkunftsland schulische Bildung im Ausmaß von sechs Jahren und Berufserfahrung als Landwirt.
1.2. Drei Brüder sowie drei Schwestern des BF leben gegenwärtig in Syrien. Die Ehefrau und die Kinder des BF halten sich in der Türkei auf.
1.3. Der BF leidet an keinen lebensbedrohlichen physischen oder psychischen Erkrankungen. Er bedarf auch keiner medikamentösen Behandlung.
1.4. XXXX im Gouvernement Idlib steht unter Kontrolle der syrischen Regierung. 1.4. römisch XXXX im Gouvernement Idlib steht unter Kontrolle der syrischen Regierung.
Der BF hat von 2002 bis 2004 seinen verpflichtenden Wehrdienst für die syrische Armee geleistet und ist daher Reservist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hat.
Im Rückkehrfall besteht keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit der Verpflichtung zur Ableistung bzw. des Einzuges zum Reservedienst oder der Zwangsrekrutierung durch sonstige Gruppierungen in seinem Herkunftsstaat.
Ob der BF die Ableistung eines Militär- bzw. Reseveredienstes im Allgemeinen ablehnt, kann nicht festgestellt werden.
Das syrische Regime unterstellt dem BF wegen der mit seiner Flucht verbundenen Entziehung vom Reservedienst oder einer künftigen Verweigerung der Ableistung eines Reservedienstes keine politische oder oppositionelle Gesinnung.
Der BF ist keiner Bedrohung oder Verfolgung aufgrund der Ausreise nach sowie der Asylantragsstellung in einem europäischen Land ausgesetzt.
Der BF vertritt zwar keine gefestigte oppositionelle Gesinnung und unterliegt wegen fallweisen Teilnahmen an Demonstrationen in Österreich auch keiner politischen Verfolgungsgefahr, er konnte jedoch glaubhaft machen, dass er in der Folge des Giftgasangriffs auf XXXX am 04.04.2017, welchem auch er zum Opfer fiel, medial in Erscheinung trat und ihm deshalb in Zusammenschau mit anderen Risikofaktoren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle Gesinnung durch die syrische Regierung unterstellt wird. Damit geht eine Gefährdung seines Lebens bzw. seiner körperlichen Integrität einher. Der BF vertritt zwar keine gefestigte oppositionelle Gesinnung und unterliegt wegen fallweisen Teilnahmen an Demonstrationen in Österreich auch keiner politischen Verfolgungsgefahr, er konnte jedoch glaubhaft machen, dass er in der Folge des Giftgasangriffs auf römisch XXXX am 04.04.2017, welchem auch er zum Opfer fiel, medial in Erscheinung trat und ihm deshalb in Zusammenschau mit anderen Risikofaktoren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine oppositionelle Gesinnung durch die syrische Regierung unterstellt wird. Damit geht eine Gefährdung seines Lebens bzw. seiner körperlichen Integrität einher.
1.5. Zur Lage im Herkunftsstaat werden folgende Feststellungen getroffen:
Länderspezifische Anmerkungen
Letzte Änderung 2023-07-10 12:55
Hinweis: Zur aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Websites der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports. Für historische Daten bis zum 10.3.2023 s. die Datenbank der Johns-Hopkins-Universität: https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6. Weitere Informationen zu COVID-19 in Syrien und seine Auswirkungen sind, wo relevant, in den einzelnen Kapiteln zu finden, besonders im Kapitel Medizinische Versorgung.
Ein- und Ausreisemöglichkeiten können kurzfristigen Beschränkungen sowohl vonseiten Syriens als auch der Nachbarländer herrühren und werden daher nicht erschöpfend behandelt.
Angesichts der großen Zahl von Minderheiten und vor dem Hintergrund der Lage in Syrien wird die Praxis beibehalten, ausführliche Informationen zu einzelnen Gruppen bei Bedarf im Rahmen von Anfragebeantwortungen zur Verfügung zu stellen.
Zum Thema Wehr- und Reservedienst liegt eine Vielzahl an Informationen im COI-CMS und darüber hinaus in Anfragebeantwortungen auf. Wo relevant, werden diese Informationen kondensiert eingearbeitet, um den Rahmen des COI-CMS Syrien nicht zu sprengen.
Bei den Oppositionsorganisationen und den Rebellengruppen kommt es immer wieder zu Änderungen in Bezug auf Bündnisse, Zusammenschlüsse, Abspaltungen, Führungspositionen etc.. Die Vielfalt an Organisationen ist groß, viele Details bleiben unbekannt, bzw. sind nicht verifizierbar. Dementsprechend unterbleibt in der Länderinformation eine ausführliche Darstellung dieser Gruppen.
Am 6. Februar 2023 ereigneten sich zwei Erdbeben in der Region, welche besonders in der südlichen Türkei und im nordwestlichen Syrien mindestens 50.000 Menschenleben kosteten und großräumig schwere Schäden verursachten - siehe dazu vor allem das Kapitel Grundversorgung und Wirtschaft.
Generell besteht ein Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen unbeantwortet. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Auch die Österreichische Botschaft (ÖB) Damaskus ist nicht über alle, in allen Teilen Syriens vorherrschenden Zustände informiert. Gründe dabei sind neben dem mangelnden Zugang zu vielen Gebieten auch die Grenzen der zur Verfügung stehenden Quellen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten. In dem Zusammenhang sowie aufgrund von unterschiedlichen Erfassungsmethoden und Berichtszeitpunkten kann es vorkommen, dass bei manchen statistischen Angaben die Zahlen je nach Quelle variieren.
Vonseiten der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wird hier oder im Folgenden keinerlei Aussage über den Status oder die Anerkennung der außerhalb der Regimekontrolle befindlichen Gebiete im Norden Syriens getroffen.
Begriffserklärung: Die meisten Quellen sprechen von der syrischen Staatsführung als "Regime" und seltener von "Regierung". Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die in der Fachliteratur genannten Personen des "Regimes" nur teilweise deckungsgleich mit den Mitgliedern der offiziellen Regierung sind. Ein Teil der den Berichten zufolge mächtigsten Personen des syrischen Staates hatte nie ein Regierungsamt inne. So wird z. B. der Ministerpräsident üblicherweise nicht in der Aufzählung des innersten Machtzirkels genannt, die Innen- und Verteidigungsminister wie bestimmte hochrangige Militärs (auch Leiter von den Geheimdiensten) hingegen scheinen eher auf. In dieser Version des COI-CMS werden beide Begriffe abwechselnd verwendet.
Ausschlussgründe
Auch im Fall Syrien kann es Ausschlussgründe geben. Bei einem tatsächlich angetretenen Wehrdienst; bei Berufsmilitär (auch vor 2011); bei Mitarbeitern von Nachrichtendiensten oder der Polizei; bei Zugehörigkeit zu einer regierungstreuen Miliz; bei einer sonstigen problematischen Funktion für das Regime (z. B. in der Justiz); bei einem persönlichen oder geschäftlichen Naheverhältnis zur Regierung oder zu einzelnen Mitglieder des offiziellen wie inoffiziellen Machtzirkels um das Regime; bei Betätigung für bewaffnete Rebellengruppen (auch z. B. in zivilen Funktionen wie etwas Scharia-Gerichte) muss eine gesonderte Aufmerksamkeit darauf gelegt werden, ob Ausschlussgründe vorliegen könnten.
Es wird darauf hingewiesen, sich bei begründeten Verdachtsfällen so früh wie möglich an die zuständigen Stellen, sowie an das OSIF-Projekt der Staatendokumentation zu wenden (bfa-staatendokumentation-osif@bmi.gv.at) – wenn möglich, bereits vor der Einvernahme.
Anmerkung zu den Übersetzungen
Vgl. Disclaimer. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass Transliterationen der Eigennamen je nach Quelle variieren können.
Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-08 10:59
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023). Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte "Normalisierungsnarrativ" verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels