TE Vwgh Erkenntnis 1995/7/4 93/08/0133

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Veröffentlicht am 04.07.1995
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
22/01 Jurisdiktionsnorm;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Melderecht;
41/02 Staatsbürgerschaft;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

ASVG §502 Abs4;
AVG §45 Abs2;
JN §66 Abs1;
MeldeG 1954;
MeldeG 1972;
StbG 1965 §5;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Möslinger-Gehmayr, über die Beschwerde des A in Melbourne (Australien), vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 13. April 1993, Zl. MA 14 - F 25/91, betreffend Begünstigung nach den §§ 500 ff ASVG (mitbeteiligte Partei:

Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 23. April 1991 sprach die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt aus, daß der am 22. Oktober 1925 geborene Beschwerdeführer für die Zeit der Auswanderung vom 22. Oktober 1940 bis 4. November 1949 gemäß § 502 Abs. 4 in Verbindung mit § 502 Abs. 6 ASVG Beiträge entrichten könne. Die Anerkennung als Ersatzzeit gemäß § 502 Abs. 1 letzter Satz ASVG oder als beitragsfreie Beitragszeit werde abgelehnt. Eine weiterreichende Begünstigung für die Zeiten vom 4. März 1933 bis 21. Oktober 1940 und vom 5. November 1949 bis 31. März 1959 wurde abgelehnt. Begründend führte die mitbeteiligte Partei aus, der Beschwerdeführer habe am 12. März 1938 seinen Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich gehabt und habe in der Zeit vom 12. März 1938 bis 9. Mai 1949 das 15. Lebensjahr vollendet. Er sei aus den in § 500 ASVG angeführten Gründen in der Zeit vom 10. November 1938 bis 4. November 1949 ausgewandert gewesen. Der Beschwerdeführer habe in Österreich weder Beitragszeiten noch Ersatzzeiten erworben. Dies hindere die Anerkennung der Auswanderung als Ersatzzeit. Ein im § 502 Abs. 1 ASVG angeführter Tatbestand der Haft, Strafe, Anhaltung oder Arbeitslosigkeit liege nicht vor. Dies hindere die Anerkennung von Beitragszeiten ohne Nachzahlung. Hinsichtlich der Zeiten, für die eine Ablehnung ausgesprochen worden sei, seien die Voraussetzungen für die Anwendung der §§ 500 ff ASVG nicht erfüllt.

Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid insoweit Einspruch, als die Begünstigung für den Zeitraum vom 5. November 1949 bis 31. März 1959 abgelehnt wurde. Nach den Ausführungen im Einspruch habe der Beschwerdeführer nach dem 9. Mai 1945 in Österreich keinen ordentlichen Wohnsitz begründet. Er habe sich hier nur kurzfristig und vorübergehend aufgehalten, um sich sein australisches Visum abzuholen, damit er seine Weiterreise von Israel nach Australien habe bewerkstelligen können. In Israel habe es weder ein englisches, noch ein australisches Konsulat gegeben, bei welchem er das Visum hätte bekommen können.

Die belangte Behörde ließ den Beschwerdeführer im Wege der Rechtshilfe durch das österreichische Generalkonsulat in Melbourne einvernehmen. Die dort mit dem Beschwerdeführer aufgenommene Niederschrift hat, soweit hier wesentlich, folgenden Wortlaut:

"1.

Haben Sie anläßlich ihrer Reise nach Österreich im November 1949 einen ständigen Wohnsitz im Ausland aufrechterhalten, wenn ja, wo genau, für wie lange und mit welchen konkreten Maßnahmen?

In einem Lager in Israel, nachdem wir von Shanghai evakuiert wurden. Habe bereits in Shanghai ein Ansuchen um Auswanderung nach Australien gestellt, aber durch die Bürgerkriegssituation mußten wir das Land verlassen.

2.

Haben Sie nach November 1949 einen ordentlichen Wohnsitz in Österreich begründet, wenn ja, unter welcher genauen Adresse?

4.

Bezirk, Favoritenstraße, ehemaliges Obdachlosenasyl. Da

keine australische Vertretungsbehörde in Israel vorhanden war und ich ein Österreicher war, habe ich Wien als Standpunkt vorgezogen, um meine Emigration abzuwarten.

3.

Wie lange haben Sie sich im November 1949 in Österreich aufgehalten und womit haben Sie in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt bestritten?

1949 bis 1951 bis ich das Visum bekommen habe. Unterstützt wurde ich von der israelitischen Kultusgemeinde Wien.

4.

Wo hatten Sie in der Zeit von November 1949 bis März 1951 den Mittelpunkt ihrer Lebens- und Verdienstinteressen?

Wie Punkt 3.

5.

Hatten Sie anläßlich ihrer Reise nach Österreich im November 1949 die Absicht, sich wiederum dauernd in Österreich niederzulassen, falls Sie die australische Einreisebewilligung nicht erhalten hätten, wenn nein, wo hätten Sie dann ihren Wohnsitz verlegt?

Nein, zurück nach Israel.

6.

Wann genau haben Sie nach November 1949 Österreich wieder verlassen?

Ungefähr Anfang März 1951."

Mit dem vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Einspruch des Beschwerdeführers als unbegründet ab. Nach der Begründung stehe aufgrund der Aktenlage fest, daß der Beschwerdeführer nach dem gesetzlichen Stichtag 1. Juli 1927 bis zur Emigration keine Beitragszeiten gemäß § 226 ASVG bzw. Ersatzzeiten gemäß §§ 228 oder 229 leg. cit. in der Pensionsversicherung der Angestellten zurückgelegt habe. Unbestritten sei ferner die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zu dem in § 500 ASVG genannten Personenkreis sowie die Tatsache, daß er am 12. März 1938 den Wohnsitz im Gebiet der Republik Österreich gehabt und in der Zeit vom 12. März 1938 bis 9. Mai 1949 das 15. Lebensjahr vollendet habe. Nach seinen Angaben habe der Beschwerdeführer bis April 1938 in Oberwart die Hauptschule besucht. Laut der am 16. Februar 1987 vom österreichischen Generalkonsulat in Melbourne ausgestellten Bescheinigung gemäß § 506 Abs. 3 ASVG sei der Beschwerdeführer aus Gründen des § 500 leg. cit. in der Zeit vom 10. November 1938 bis 31. Dezember 1948 in Shanghai, China, und vom 31. Jänner 1949 bis 10. November 1949 in Israel emigriert gewesen. In der Zeit von November 1949 bis März 1951 habe sich der Genannte nach der Aktenlage wieder in Wien aufgehalten und sei auch dort polizeilich gemeldet gewesen.

Hinsichtlich der im Einspruch geltend gemachten Zeit der Auswanderung nach Australien in der Zeit ab 5. November 1949 sei festzuhalten, daß der Beschwerdeführer nach Aufgabe seines Wohnsitzes in Shanghai in Israel keinen neuen Wohnsitz begründet habe, weil er nach seinen Angaben in Israel in einem Lager gelebt habe. Der Aufenthalt in einem Lager könne jedoch nicht als Wohnsitzbegründung angesehen werden. Damit seien aber für den Beschwerdeführer durch seine Rückkehr nach Wien im Jahre 1949 die Voraussetzungen für die Erfüllung des Begriffes "Auswanderung" weggefallen (Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 24. November 1971, Zl. 1582/71). Ab diesem Zeitpunkt gelte der Beschwerdeführer daher nicht mehr als "ausgewandert". Auf die Ursachen oder Motive für die Rückkehr des Beschwerdeführers nach Österreich komme es nicht an, ebensowenig darauf, ob er in Österreich wieder einen Wohnsitz begründet habe. Die Zeit der Emigration habe somit im vorliegenden Fall mit der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Österreich am 4. November 1949 geendet.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhobene Beschwerde mit dem Begehren, ihn kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete ebenso wie die mitbeteiligte Pensionsversicherungsanstalt eine Gegenschrift.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die belangte Behörde hat bei der Lösung der im Beschwerdefall relevanten Frage der Beendigung der Auswanderung unter Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 24. November 1971, Zl. 1582/71, es für maßgebend erachtet, daß der Beschwerdeführer am 4. November 1949 nach Österreich zurückgekehrt sei.

Vor dem Hintergrund der durch die dem genannten Erkenntnis nachfolgenden Novellen zum ASVG vorgenommenen Erweiterungen der Begünstigung hat der Verwaltungsgerichtshof für die Beendigung des Zeitraumes der Auswanderung die allgemeine Regel für maßgebend angesehen, wonach für eine solche Beendigung sowohl bei der geglückten Auswanderung die Remigration wie auch bei der mißglückten Auswanderung die erweisliche Absicht, in Österreich wiederum den Wohnsitz zu begründen, in Betracht kommt (vgl. hiezu die hg. Erkenntnisse vom 17. November 1977, Zlen. 1577, 1578/77, vom 30. April 1982, Zl. 82/08/0037, vom 17. September 1991, Zl. 90/08/0173, und vom 11. Mai 1993, Zl. 91/08/0122). Vorliegend ist daher zu prüfen, ob der Beschwerdeführer die Absicht hatte, die Emigration fortzusetzen oder neuerlich in Österreich den Mittelpunkt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen zu wählen.

Unter Auswanderung im Sinne der Begünstigungsbestimmungen des ASVG ist die Verlegung des ständigen Wohnsitzes ins Ausland zu verstehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 2. Oktober 1957, Zl. 873/57, VwSlg. 4437/A/1957), wobei der Begriff "Wohnsitz" im Sinne des § 66 Abs. 1 JN zu interpretieren ist (vgl. die oben angeführten hg. Erkenntnisse). Demnach ist der ordentliche Wohnsitz einer Person an dem Ort begründet, an welchem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, daselbst ihren bleibenden Aufenthalt zu nehmen. Zu den Merkmalen eines solchen bleibenden Aufenthaltes zählt unter anderem der Umstand, daß der gewählte Aufenthaltsort zum wirtschaftlichen und faktischen Mittelpunkt des Lebens gemacht wird, mag auch von vornherein klar sein, daß sich dieser Aufenthalt über eine bestimmte oder unbestimmte Dauer hinaus nicht erstrecken wird. Lehre und Rechtsprechung zu § 66 Abs. 1 JN legen Wert auf die äußerliche Erkennbarkeit einer solchen Niederlassungsabsicht, auf den Mittelpunkt des Lebensinteresses an einem bestimmten Ort nach der persönlichen Seite, nach dem Familiensitz und der Haushaltsführung. Der Aufenthaltsort muß bewußt zum wirtschaftlichen und faktischen Mittelpunkt gemacht werden; es darf sich bei dieser Wahl um keine Provisorialmaßnahme handeln. Als einzelne Merkmale für einen dauernden Aufenthalt im Sinne des Mittelpunktes der Lebensinteressen können herangezogen werden z.B. die Dauer eines Mietvertrages, der Umfang getätigter wirtschaftlicher Investitionen, das Vorhandensein einer Dauererwerbsmöglichkeit, ein länger dauernder Dienstvertrag, das Eingehen einer Lebensgemeinschaft mit einer Person, von der die Aufgabe ihres bisherigen Wohnsitzes allgemein nicht erwartet werden kann, die Übernahme der Pflege dauernd pflegebedürftiger Angehöriger (vgl. auch hiezu die oben angeführten hg. Erkenntnisse).

Auch bei Beurteilung der Frage der Beendigung einer Auswanderung sind diese Gesichtspunkte (nämlich die Frage des wirtschaftlichen und faktischen Mittelpunktes der Lebensinteressen) maßgebend.

Dazu hat die belangte Behörde ausgehend von ihrer Rechtsansicht lediglich ausgeführt, daß sich der Beschwerdeführer vom November 1949 bis März 1951 wieder in Wien aufgehalten habe und auch dort polizeilich gemeldet gewesen sei. Daraus können auf die hier zu untersuchende Absicht des Beschwerdeführers, in Wien seinen bleibenden Aufenthalt zu nehmen, keine Rückschlüsse gezogen werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. auch hiezu die oben angeführten Erkenntnisse) kommt nämlich den Meldedaten wenig Beweiswert zu, weil durch sie die vorhandene oder fehlende Absicht, hier einen bleibenden Aufenthalt zu nehmen, weder erwiesen noch widerlegt werden kann. Überdies ist der Beschwerdeführer damit im Recht, wenn er darauf hinweist, daß es für die Frage, ob ein Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in (damaligen) Palästina als Wohnsitzbegründung angesehen werden kann, nicht auf die Wohnqualität ankommt; soweit dem Beschwerdeführer damals nur eine Unterkunft in einem solchen Lager offenstand - wie die belangte Behörde nicht in Zweifel zieht - kann daher nicht der Schluß gezogen werden, er habe seinen Aufenthalt in Israel nur als Provisorialmaßnahme angesehen.

Nach der Aktenlage beantragte der Beschwerdeführer bereits während seiner Emigration in Shanghai die Erlaubnis, nach Australien einzuwandern. Dieses Vorhaben gab er auch nach der Evakuierung aus Shanghai nicht auf. Die Anwesenheit des Beschwerdeführers in Wien diente nur dazu, die Erteilung der genannten Erlaubnis abzuwarten. Der Beschwerdeführer gab weiters an, daß er, falls die Erlaubnis nicht erteilt worden wäre, nach Israel zurückgekehrt wäre und dort (weiterhin) seinen bleibenden Aufenthalt genommen hätte. Die daraus hervorleuchtende Absicht des Beschwerdeführers, die Auswanderung - die untrennbar mit dem Fehlen des psychologischen Moments der Rückkehrabsicht verknüpft ist - von Shanghai nach Australien fortzusetzen, kann bei dieser Aktenlage nicht ernstlich in Zweifel gezogen werden. Da der Beschwerdeführer seine Absicht, wieder an seinen Wohnsitz nach Israel zurückzukehren erst mit der rechtlichen und faktischen Einreisemöglichkeit nach Australien aufgegeben hat (wie die belangte Behörde nicht bestreitet), liegt im Aufenthalt von 1949 bis 1951 in Wien jedenfalls kein emigrationsbeendender (und damit anspruchsschädlicher) Tatbestand.

Aufgrund dieser Erwägungen belastete die belangte Behörde ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes, weshalb dieser gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7Beweiswürdigung Wertung der Beweismittel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1993080133.X00

Im RIS seit

11.07.2001

Zuletzt aktualisiert am

16.10.2009
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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