Entscheidungsdatum
10.04.2024Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W151 2269414-2/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Doris KOHL, MCJ, als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 31.10.2023, Zl. XXXX wegen § 3 AsylG 2005 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Doris KOHL, MCJ, als Einzelrichterin über die Beschwerde von römisch XXXX , geb. am römisch XXXX , StA. Syrien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 31.10.2023, Zl. römisch XXXX wegen Paragraph 3, AsylG 2005 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX , geb. am XXXX , gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. römisch eins. Der Beschwerde wird stattgegeben und römisch XXXX , geb. am römisch XXXX , gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , geb. am XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.römisch II. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch XXXX , geb. am römisch XXXX , damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.B) Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgangrömisch eins. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 13.10.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit einer als „Bescheid“ bezeichneten Erledigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 02.03.2023 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).2. Mit einer als „Bescheid“ bezeichneten Erledigung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 02.03.2023 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
3. Die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.05.2023, GZ W225 2269414-1 als unzulässig zurückgewiesen, da die als „Bescheid“ bezeichnete Erledigung keine Unterschrift des Genehmigers enthalte, weshalb sich die Beschwerde gegen eine als Bescheid absolut nichtige Erledigung richte.3. Die gegen Spruchpunkt römisch eins. erhobene Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.05.2023, GZ W225 2269414-1 als unzulässig zurückgewiesen, da die als „Bescheid“ bezeichnete Erledigung keine Unterschrift des Genehmigers enthalte, weshalb sich die Beschwerde gegen eine als Bescheid absolut nichtige Erledigung richte.
4. Nach neuerlicher Einvernahme des Beschwerdeführers erlies das BFA den gegenständlich bekämpften Bescheid vom 31.10.2023, in dem der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für ein Jahr erteilt wurde (Spruchpunkt III.).4. Nach neuerlicher Einvernahme des Beschwerdeführers erlies das BFA den gegenständlich bekämpften Bescheid vom 31.10.2023, in dem der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß Paragraph 3, Absatz eins, in Verbindung mit Paragraph 2, Absatz eins, Ziffer 13, AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), dem Beschwerdeführer gemäß Paragraph 8, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß Paragraph 8, Absatz 4, AsylG 2005 für ein Jahr erteilt wurde (Spruchpunkt römisch III.).
Das Vorbringen, dass der Beschwerdeführer aufgrund veröffentlichter Fotos von Demonstrationen auf Facebook verfolgt worden sei, erachtete das BFA als nicht glaubhaft. Es liege auch keine Verfolgungsgefahr in Zusammenhang mit einer allfälligen Einberufung zum Reservedienst vor, da sich der Beschwerdeführer bereits im 41. Lebensjahr befinde und über keine spezielle militärische Ausbildung verfüge und auch kein Einberufungsbefehl vorliege. Der Beschwerdeführer habe seit seiner Ableistung des Militärdienstes im Jahr 2007 keinen Kontakt zum syrischen Militär gehabt und auch sonst keine Bedrohung von anderer Seite geschildert bzw. glaubhaft gemacht.
5. Gegen Spruchpunkt I. des Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer in Syrien an Demonstrationen teilgenommen habe und vom Regime gesucht werde. Auch sei nunmehr sein Vater gezielt vom Regime ermordet worden, da sich seine Kinder und somit auch der Beschwerdeführer oppositionell verhalten und äußern. Der Beschwerdeführer fürchte im Falle einer Rückkehr um sein Leben. Es drohe ihm eine unmenschliche Behandlung und Folter, da ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Er verweigere zudem, in Syrien den Reservedienst anzutreten. 5. Gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Im Wesentlichen wurde vorgebracht, dass der Beschwerdeführer in Syrien an Demonstrationen teilgenommen habe und vom Regime gesucht werde. Auch sei nunmehr sein Vater gezielt vom Regime ermordet worden, da sich seine Kinder und somit auch der Beschwerdeführer oppositionell verhalten und äußern. Der Beschwerdeführer fürchte im Falle einer Rückkehr um sein Leben. Es drohe ihm eine unmenschliche Behandlung und Folter, da ihm eine oppositionelle Gesinnung unterstellt werden würde. Er verweigere zudem, in Syrien den Reservedienst anzutreten.
6. Die Beschwerde wurde unter Anschluss des Verwaltungsaktes am 06.12.2023 dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zur Entscheidung vorgelegt.
7. Das BVwG führte am 30.01.2024 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt wurde.
8. Am 18.03.2024 und am 22.03.2024 brachte der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung Stellungnahmen zu den Themen Reservedienstverweigerung und Möglichkeit bzw. Zumutbarkeit der Zahlung einer Befreiungsgebühr ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Syriens, gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben.Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch XXXX und das Geburtsdatum römisch XXXX . Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Syriens, gehört der Volksgruppe der Araber an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben.
Der Beschwerdeführer stammt aus XXXX . Im August 2013 verließ er Syrien und reiste in die Vereinigten Arabischen Emirate (im Folgenden: VAE), wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa im September 2021 verblieb. Der Beschwerdeführer ist verheiratet und hat zwei Kinder, welche nach wie vor in den VAE leben.Der Beschwerdeführer stammt aus römisch XXXX . Im August 2013 verließ er Syrien und reiste in die Vereinigten Arabischen Emirate (im Folgenden: VAE), wo er bis zu seiner Ausreise nach Europa im September 2021 verblieb. Der Beschwerdeführer ist verheiratet und hat zwei Kinder, welche nach wie vor in den VAE leben.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen:
Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren. Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren, und in Einzelfällen bei vorhandenem militärischen Spezialwissen bis zum Alter von 50 Jahren und darüber hinaus zum Reservedienst eingezogen werden. Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend. Laut Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Artikel 4, Litera b, gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren. Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst als Berufssoldat entscheidet, Reservist. Syrische männliche Staatsangehörige können bis zum Alter von 42 Jahren, und in Einzelfällen bei vorhandenem militärischen Spezialwissen bis zum Alter von 50 Jahren und darüber hinaus zum Reservedienst eingezogen werden.
Der Beschwerdeführer hat seinen verpflichtenden Wehrdienst bereits abgeleistet, wobei er nach seiner Grundausbildung als Telefonist tätig war. Der Beschwerdeführer hat 2018 eine Einberufung zum Reservedienst erhalten und hat dieser keine Folge geleistet. Es besteht derzeit ein Haftbefehl des syrischen Regimes gegen den Beschwerdeführer aufgrund seiner Entziehung vom Reservedienst.
Er lehnt einen Reservedienst bei der syrischen Armee nunmehr ab. Der Beschwerdeführer vertritt eine politische Gesinnung, die in Opposition zum aktuellen syrischen Machthaber steht. Die Entziehung des Beschwerdeführers von dem angeordneten Reservedienst wird vom syrischen Regime als Ausdruck einer oppositionellen Gesinnung gesehen. Dem Beschwerdeführer drohen eine Zwangsrekrutierung sowie eine Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung durch das syrische Regime.
Das Herkunftsgebiet des Beschwerdeführers steht unter Kontrolle des syrischen Regimes. Eine hinsichtlich des Reiseweges zumutbare und legale Rückkehr nach Syrien ist im Grunde genommen nur über Gebiete oder Flughäfen möglich, die unter der Kontrolle der Regierung stehen, sodass der Beschwerdeführer bei einer erneuten Einreise Gefahr läuft, festgenommen zu werden und wegen der Reservedienstverweigerung verhaftet und zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft zu werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre. Da der Beschwerdeführer im Jahr 2013 endgültig aus Syrien ausgereist ist und in der Folge seinen Reservedienst nicht abgeleistet hat, für den er 2018 einberufen wurde, gilt er für das syrische Regime als Wehrdienstverweigerer und würde bei einer Rückkehr als Regimegegner angesehen werden.
Es besteht zudem die Gefahr, dass der Erstbeschwerdeführer bei einer Rückkehr, trotz abgeleisteten Wehrdienstes, zum Reservedienst bei der syrischen Armee eingezogen wird, was er ablehnt. Eine Einziehung zum Reservedienst ist angesichts des willkürlichen Verhaltens der syrischen Behörden und des Bedarfs an kampfähigen Soldaten sehr wahrscheinlich, zumal der Beschwerdeführer bereits eine Einberufung zum Reservedienst erhalten hat und sich mit 40 Jahren noch im wehrpflichtigen Alter befindet. Im Falle einer Weigerung würde er zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden. Die Regierung betrachtet Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen zu schützen.
Die Möglichkeit eines Freikaufes besteht im Fall des Beschwerdeführers nicht bzw. ist diesem nicht zumutbar.
Bei einer Rückkehr nach Syrien droht dem Beschwerdeführer daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Gesinnung. Die Bedrohung geht vom syrischen Regime, somit vom Staat selbst, aus. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugrunde gelegt:
a) Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 11 vom 27.03.2024 aus dem Country of Origin - Content Management System (COI-CMS) (im Folgenden kurz: LIB):
b) UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 6. aktualisierte Fassung, März 2021.
Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Version 11 vom 27.03.2024 aus dem Country of Origin - Content Management System (COI-CMS):
„3. Politische Lage
Letzte Änderung 2024-03-08 10:59
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba’ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (Spiegel 29.8.2016).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden (IPS 20.5.2022). Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen (USIP 14.3.2023). Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (AA 2.2.2024).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen (AA 2.2.2024). In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus (FH 9.3.2023). In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus (AA 2.2.2024). Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v. a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (AA 29.3.2023). Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (Brookings 27.1.2023).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vgl. AA 29.3.2023).Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 - Oktober 2023] nicht wesentlich verändert (AA 2.2.2024). Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung (USIP 14.3.2023; vergleiche AA 29.3.2023).
Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vgl. IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht (AA 2.2.2024). Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen (Alaraby 31.5.2023; vergleiche IPS 20.5.2022). Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (HRW 11.1.2024).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte „Normalisierungsnarrativ“ verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vgl. SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vgl. Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (AA 2.2.2024).Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen (AA 2.2.2024). Das propagierte „Normalisierungsnarrativ“ verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten (AA 29.3.2023). Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war (Wilson 6.6.2023; vergleiche SOHR 7.5.2023). Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon (CMEC 16.5.2023; vergleiche Wilson 6.6.2023, SOHR 7.5.2023), Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft (CMEC 16.5.2023). Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren (AA 2.2.2024). Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (AA 2.2.2024).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (AA 2.2.2024).
[…]
4. Sicherheitslage
Letzte Änderung 2024-03-08 11:17
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt (USIP 14.3.2023). Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (UNHCHR 28.6.2022).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen (ICG o.D.). Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand (USIP 14.3.2023). Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräf