Entscheidungsdatum
16.04.2024Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W229 2280365-1/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde des mj. XXXX geb. am XXXX , StA. Syrien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R1, 1090 Wien, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2023, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Elisabeth WUTZL als Einzelrichterin über die Beschwerde des mj. römisch XXXX geb. am römisch XXXX , StA. Syrien, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R1, 1090 Wien, gegen Spruchpunkt römisch eins. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2023, Zl. römisch XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.römisch eins. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt römisch eins. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und römisch XXXX gemäß Paragraph 3, Absatz eins, AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.römisch II. Gemäß Paragraph 3, Absatz 5, AsylG 2005 wird festgestellt, dass römisch XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.Die Revision ist gemäß Artikel 133, Absatz 4, B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:römisch eins. Verfahrensgang:
1. Der minderjährige Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner XXXX in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 02.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.1. Der minderjährige Beschwerdeführer reiste gemeinsam mit seiner römisch XXXX in das österreichische Bundesgebiet ein, wo er am 02.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Im Rahmen der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer an, dass er Syrien verlassen habe, da dort Bürgerkrieg herrsche. Er müsse auch zum Militär einrücken.
2. Im weiteren Verfahrensverlauf gab der Beschwerdeführer in seiner niederschriftlichen Einvernahme im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 27.09.2023 zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass die schlechte Sicherheitslage und Lage im Allgemeinen ausschlaggebend dafür gewesen sei, dass er Syrien verlassen habe. Er wolle unbedingt seine Ausbildung fortsetzen. Er habe auch Angst vor der Ableistung des Militärdienstes. Freunde von ihm seien im Alter zwischen 16 und 18 Jahren gegen ihren Willen zum Militärdienst eingezogen worden.
3. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 06.10.2023 wurde der Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).3. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 06.10.2023 wurde der Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt römisch eins.), dem Beschwerdeführer jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt römisch II.) und eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt römisch III.).
4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde, welche am 20.10.2023 beim BFA einlangte und in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde, wo sie am 27.10.2023 einlangte.4. Gegen Spruchpunkt römisch eins. dieses Bescheids erhob der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde, welche am 20.10.2023 beim BFA einlangte und in weiterer Folge an das Bundesverwaltungsgericht weitergeleitet wurde, wo sie am 27.10.2023 einlangte.
5. Das Bundesverwaltungsgericht führte über die vom Beschwerdeführer und seiner Großmutter eingebrachten Beschwerde am 17.01.2024 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher beide Beschwerdeführer und deren Rechtsvertretung teilnahmen und der eine Dolmetscherin für die Sprache Arabisch beigezogen wurde. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung entschuldigt nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem BFA übermittelt.
6. Dem Beschwerdeführer wurde die Überarbeitung der Länderinformation der Staatendokumentation Syrien aus dem COI-CMS Version 10, Datum der Veröffentlichung: 14.03.2024 mit der Möglichkeit zur Stellungnahme binnen einer Woche übermittelt.
Eine Stellungnahme langte am 26.03.2024 beim Bundesverwaltungsgericht ein, in welcher zusammengefasst ausgeführt wurde, dass die aktualisierten Berichte bezüglich der zentralen Punkte der Befürchtungen des Beschwerdeführers keine Verbesserung zeigen würden und eine Rückkehr nach Syrien unmöglich sei.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:römisch II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und wurde am XXXX geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Araber an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Arabisch.Der Beschwerdeführer führt den Namen römisch XXXX und wurde am römisch XXXX geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Araber an und ist sunnitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Arabisch.
Der Beschwerdeführer wurde in der Stadt Dara'a, Gouvernement Dara'a geboren und wuchs dort auf. Er besuchte acht Jahre die Schule und arbeitete manchmal mit seiner Familie als Erntehelfer.
Nach Ausbruch des Bürgerkriegs zog die Familie immer wieder innerhalb des Gouvernements Dara'a um, dies aufgrund des aktiven Kampfgeschehens sowie um außerhalb des Kontrollbereichs der syrischen Regierung zu sein. Das Haus der Familie wurde bei einem Luftangriff im Jahr 2015 zerstört und dabei der Großvater des Beschwerdeführers getötet. Der Grund, auf dem sich das Haus befunden hat, wurde verkauft, um die Flucht des Beschwerdeführers und seiner Großmutter zu finanzieren. Weiteren Besitz hat die Familie nicht (mehr).
Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Sein Vater wurde 2012 beim Einkaufen von einem Panzergeschoss getötet. Der Beschwerdeführer reiste im Februar 2022 gemeinsam mit seiner Großmutter XXXX illegal aus Syrien aus. Seine Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister blieben in Syrien. In Österreich leben der ältere Bruder des Beschwerdeführers sowie eine Tante und zwei Onkel. Die Beiden Onkeln gehen einer Beschäftigung nach. Die Mutter des Beschwerdeführers arbeitete in Syrien fallweise als Erntehelferin. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Sein Vater wurde 2012 beim Einkaufen von einem Panzergeschoss getötet. Der Beschwerdeführer reiste im Februar 2022 gemeinsam mit seiner Großmutter römisch XXXX illegal aus Syrien aus. Seine Mutter und seine beiden jüngeren Geschwister blieben in Syrien. In Österreich leben der ältere Bruder des Beschwerdeführers sowie eine Tante und zwei Onkel. Die Beiden Onkeln gehen einer Beschäftigung nach. Die Mutter des Beschwerdeführers arbeitete in Syrien fallweise als Erntehelferin.
Der Großmutter des Beschwerdeführers wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 09.12.2022 die Obsorge für den minderjährigen Beschwerdeführer übertragen.Der Großmutter des Beschwerdeführers wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts römisch XXXX vom 09.12.2022 die Obsorge für den minderjährigen Beschwerdeführer übertragen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Er ist gesund. Sein Wunsch ist es, in Österreich Humanmedizin studieren. Der Beschwerdeführer hat eine Zusage für den Besuch des Lehrgangs Basisbildung für Jugendliche und junge Erwachsene.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
In Syrien ist jeder männliche syrische Staatsangehörige vom Beginn des Jahres, in dem er 18 Jahre alt wird, bis zum Ende des Jahres, in dem er 42 Jahre alt wird, wehrpflichtig, es sei denn, er ist per Gesetz vom Wehrdienst befreit. Laut Gesetz sind in Syrien junge Männer im Alter von 17 Jahren dazu aufgerufen, sich ihr Wehrbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen. Im Alter von 18 Jahren wird man einberufen, um den Wehrdienst abzuleisten. Die Möglichkeit, einen zivilen Ersatzdienst abzuleisten, gibt es in Syrien nicht.
Das syrische Regime und seine Verbündeten werden beschuldigt, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, unter anderem völkerrechtswidrige Militäraktionen, wie willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten und medizinische Einrichtungen, darunter auch der Einsatz von chemischen Waffen.
Da der Beschwerdeführer im Alter von 15 Jahren Syrien verließ, verfügt er weder über ein Wehrdienstbuch noch über einen Einberufungsbefehl. Er hat den staatlichen Wehrdienst noch nicht abgeleistet und befindet sich mit seinen aktuell 17 Jahren noch nicht im wehrpflichtigen Alter. Allerdings wäre er in Syrien bereits dazu aufgerufen, die Vorbereitungsmaßnahmen zu durchlaufen, um schließlich im Jahr 2025 den Wehrdienst anzutreten. Zu den vorbereitenden Tätigkeiten gehören die Abholung des Wehrbuchs und die medizinische Untersuchung zur Tauglichkeit.
Der Beschwerdeführer lehnt das syrische Regime ab, da er aus seinem Leben etwas machen möchte und in Syrien nicht gefahrlos seine eigene Meinung äußern kann. Er sieht das Regime auch als verantwortlich für den Tod seines Vaters. Daher möchte er auch den Wehrdienst für das syrische Militär nicht ableisten. Der Beschwerdeführer lehnt die Ableistung des Wehrdienstes auch deshalb ab, weil er im Zuge von Kampfhandlungen die eigenen Landsleute bekämpfen müsste.
Bei einer Rückkehr nach Syrien droht dem Beschwerdeführer die reale Gefahr, als junger Mann im wehrfähigen Alter zum Militärdienst bei der syrischen Armee eingezogen zu werden. Im Falle einer Wehrdienstverweigerung würde er aufgrund seiner oppositionellen Einstellung zumindest mit einer Gefängnisstrafe bestraft werden, die mit der Anwendung von Folter verbunden wäre.
Nach den syrischen Militärgesetzen besteht für im Ausland lebende syrische Männer unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Personen, die illegal aus Syrien ausgereist sind, müssen zuvor einen „Versöhnungsprozess“ durchlaufen, dessen Ausgang bzw. Wirksamkeit ungewiss ist. Der Beschwerdeführer möchte aufgrund seiner Einstellung gegenüber dem Regime den Wehrdienst nicht ableisten und lehnt auch die Möglichkeit des Freikaufs ab, da er dieses nicht finanziell unterstützen will. Der Beschwerdeführer verfügt auch nicht um die notwendigen finanziellen Mittel.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Syrien:
1.3.1. Das Gouvernement Dara'a spielte als Oppositionshochburg eine wichtige Rolle im syrischen Bürgerkrieg. Im Juli 2017 wurde dort eine Deeskalationszone eingerichtet, dennoch begann die syrische Regierung im Juni 2018 eine Offensive zur Rückeroberung von Dara'a. Das syrische Regime hält derzeit die Kontrolle über das Gouvernement Dara'a, wobei die Spannungen zwischen der ehemaligen Opposition und den Streitkräften der Regierung anhalten. Die Sicherheits- und Versorgungslage hat sich weiter verschlechtert.
1.3.2. Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien vom 27.03.2024 (Version 11) (= LIB):
Politische Lage
Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte. Nach seinem Tod im Jahr 2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position. Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein komplexes Gefüge aus ba'athistischer Ideologie, Repression, Anreize für wirtschaftliche Eliten und der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten. Das überwiegend von Alawiten geführte Regime präsentiert sich als Beschützer der Alawiten und anderer religiöser Minderheiten und die alawitische Minderheit hat weiterhin einen im Verhältnis zu ihrer Zahl überproportional großen politischen Status, insbesondere in den Führungspositionen des Militärs, der Sicherheitskräfte und der Nachrichtendienste, obwohl das hochrangige Offizierskorps des Militärs weiterhin auch Angehörige anderer religiöser Minderheitengruppen in seine Reihen aufnimmt. In der Praxis hängt der politische Zugang jedoch nicht von der Religionszugehörigkeit ab, sondern von der Nähe und Loyalität zu Assad und seinen Verbündeten. Alawiten, Christen, Drusen und Angehörige anderer kleinerer Religionsgemeinschaften, die nicht zu Assads innerem Kreis gehören, sind politisch entrechtet. Zur politischen Elite gehören auch Angehörige der sunnitischen Religionsgemeinschaft, doch die sunnitische Mehrheit des Landes stellt den größten Teil der Rebellenbewegung und hat daher die Hauptlast der staatlichen Repressionen zu tragen (LIB S. 6 f.).
Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend komplexer werdender bewaffneter Konflikt. Die tiefer liegenden Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen Gegenden Syriens, die weitverbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle Spannungen (LIB S. 3).
Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Russische Luftstreitkräfte und nachrichtendienstliche Unterstützung sowie von Iran unterstützte Milizen vor Ort ermöglichten es dem Regime, die Opposition zu schlagen und seine Kontrolle über große Teile Syriens brutal wiederherzustellen. Seit März 2020 scheint der Konflikt in eine neue Patt-Phase einzutreten, in der drei unterschiedliche Gebiete mit statischen Frontlinien abgegrenzt wurden. Das Assad-Regime kontrolliert rund 70 Prozent des syrischen Territoriums. Seit dem Höhepunkt des Konflikts, als das Regime - unterstützt von Russland und Iran - unterschiedslose, groß angelegte Offensiven startete, um Gebiete zurückzuerobern, hat die Gewalt deutlich abgenommen. Auch wenn die Gewalt zurückgegangen ist, kommt es entlang der Konfliktlinien im Nordwesten und Nordosten Syriens weiterhin zu kleineren Scharmützeln. Im Großen und Ganzen hat sich der syrische Bürgerkrieg zu einem internationalisierten Konflikt entwickelt, in dem fünf ausländische Streitkräfte - Russland, Iran, die Türkei, Israel und die Vereinigten Staaten - im syrischen Kampfgebiet tätig sind und Überreste des Islamischen Staates (IS) regelmäßig Angriffe durchführen. Solange das militärische Engagement von Iran, Russland, Türkei und USA auf bisherigem Niveau weiterläuft, sind keine größeren Veränderungen bei der Gebietskontrolle zu erwarten (LIB S. 3 f.).
Der Machtanspruch des syrischen Regimes wird in einigen Gebieten unter seiner Kontrolle angefochten. Dem Regime gelingt es dort nur bedingt, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen. Im Gouvernement Suweida kommt es beispielsweise seit dem 20.8.2023 zu täglichen regimekritischen Protesten, darunter Straßenblockaden und die zeitweise Besetzung von Liegenschaften der Regime-Institutionen. In den vom Regime kontrollierten Gebieten unterdrücken die Sicherheits- und Geheimdienstkräfte des Regimes, die Milizen und die Verbündeten aus der Wirtschaft aktiv die Autonomie der Wähler und Politiker. Ausländische Akteure wie das russische und das iranische Regime sowie die libanesische Schiitenmiliz Hizbollah üben ebenfalls großen Einfluss auf die Politik in den von der Regierung kontrollierten Gebieten aus. In den übrigen Landesteilen üben unverändert de facto Behörden Gebietsherrschaft aus. Im Nordwesten kontrolliert die von der islamistischen Terrororganisation Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) gestellte Syrische Errettungsregierung (SSG) weiterhin Gebiete in den Gouvernements Idlib, Lattakia, Hama und Aleppo. In Teilen des Gouvernements Aleppo sowie in den von der Türkei besetzten Gebieten im Norden beansprucht weiterhin die von der syrischen Oppositionskoalition (SOC/Etilaf) bestellte Syrische Interimsregierung (SIG) den Regelungsanspruch. Die von kurdisch kontrollierten Kräften abgesicherten sogenannten Selbstverwaltungsbehörden im Nordosten (AANES) üben unverändert Kontrolle über Gebiete östlich des Euphrats in den Gouvernements ar-Raqqah, Deir ez-Zor und al-Hassakah sowie in einzelnen Ortschaften im Gouvernement Aleppo aus. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen bleibt Syrien, bis hin zur subregionalen Ebene, territorial fragmentiert. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen. Im syrischen Bürgerkrieg hat sich die Grenze zwischen Staat und Nicht-Staat zunehmend verwischt. Im Laufe der Zeit haben sowohl staatliche Akteure als auch nicht-staatliche bewaffnete Gruppen parallele, miteinander vernetzte und voneinander abhängige politische Ökonomien geschaffen, in denen die Grenzen zwischen formell und informell, legal und illegal, Regulierung und Zwang weitgehend verschwunden sind. Die Grenzgebiete in Syrien bilden heute ein einziges wirtschaftliches Ökosystem, das durch dichte Netzwerke von Händlern, Schmugglern, Regimevertretern, Maklern und bewaffneten Gruppen miteinander verbunden ist (LIB S. 4).
Die politische Gesamtlage in Syrien zeigt sich [im Berichtszeitraum März 2023 – Oktober 2023] nicht wesentlich verändert. Der Konflikt in Syrien befindet sich in einer Patt-Situation mit wenig Aussicht auf eine baldige politische Lösung. Eine realistische Perspektive für eine Veränderung des politischen Status Quo in den Regimegebieten, etwa zugunsten oppositioneller Kräfte, ob auf politischem oder militärischem Wege, besteht aktuell nicht. Auch der politische Prozess für eine von den Konfliktparteien verhandelte, inklusive Lösung des Konflikts gemäß Sicherheitsratsresolution 2254 der Vereinten Nationen (VN) (vorgesehen danach u. a. Ausarbeitung einer neuen Verfassung, freie und faire Wahlen unter Aufsicht der VN und unter Beteiligung der syrischen Diaspora) unter Ägide der VN stagniert. Ausschlaggebend dafür bleibt die anhaltende Blockadehaltung des Regimes, das keinerlei Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts zeigt und vor diesem Hintergrund jegliche Zugeständnisse verweigert. Alternative politische Formate unter Führung verschiedener Mächte haben bislang keine Fortschritte gebracht. Letztlich ist es das Ziel der Assad-Regierung, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen. Russland, die Türkei, die Vereinigten Staaten und Iran unterstützen die Kriegsparteien weiterhin militärisch und finanziell (LIB S. 4 f.).
Im Äußeren gelang es dem syrischen Regime, sich dem Eindruck internationaler Isolation entgegenzusetzen. Das propagierte „Normalisierungsnarrativ“ verfängt insbesondere bei einer Reihe arabischer Staaten. Im Mai 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen, von der es im November 2011 aufgrund der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste ausgeschlossen worden war. Als Gründe für die diplomatische Annäherung wurden unter anderem folgende Interessen der Regionalmächte genannt: Rückkehr von syrischen Flüchtlingen in ihr Heimatland, die Unterbindung des Drogenschmuggels in die Nachbarländer - insbesondere von Captagon -, Ängste vor einer Machtübernahme islamistischer Extremisten im Fall eines Sturzes des Assad-Regimes sowie die Eindämmung des Einflusses bewaffneter, von Iran unterstützter Gruppierungen, insbesondere im Süden Syriens. Das syrische Regime zeigt laut Einschätzung eines Experten für den Nahen Osten dagegen bislang kein Interesse, eine große Anzahl an Rückkehrern wiederaufzunehmen und Versuche, den Drogenhandel zu unterbinden, erscheinen in Anbetracht der Summen, welche dieser ins Land bringt, bislang im besten Fall zweifelhaft. Am 3.7.2023 reiste erneut der jordanische Außenminister Ayman Safadi nach Damaskus, um Bemühungen zur Schaffung von Bedingungen für die Rückkehr von syrischen Geflüchteten aus Jordanien zu intensivieren. Die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit und die USA stellen sich den Normalisierungsbestrebungen politisch unverändert entgegen (LIB S. 5).
Regional positionierte sich das Regime seit Ausbruch der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und der Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023 öffentlich an der Seite der Palästinenser und kritisierte Israel, mit dem sich Syrien formell weiterhin im Kriegszustand befindet, scharf (LIB S. 5).
Sicherheitslage
Die Gesamtzahl der Kriegstoten wird auf fast eine halbe Million geschätzt. Die Zahl der zivilen Kriegstoten zwischen 1.3.2011 und 31.3.2021 beläuft sich laut UNO auf 306.887 Personen - dazu kommen noch viele zivile Tote durch den Verlust des Zugangs zu Gesundheitsversorgung, Lebensmittel, sauberem Wasser und anderem Grundbedarf (LIB S. 15).
Überlappende bewaffnete Konflikte und komplexe Machtverhältnisse
Der Konflikt in Syrien seit 2011 besteht aus einem Konvolut überlappender Krisen. Die Suche nach einer politischen Beilegung verlief im Sand. Im Wesentlichen gibt es drei Militärkampagnen: Bestrebungen durch eine Koalition den Islamischen Staat zu besiegen, Kampfhandlungen zwischen der Syrischen Regierung und Kräften der Opposition und türkische Militäroperationen gegen syrische Kurden. Dazu kommt das bestehende Informationsdefizit. Obwohl der Syrien-Konflikt mit einer seit Jahren anhaltenden, extensiven Medienberichterstattung einen der am besten dokumentierten Konflikte aller Zeiten darstellt, bleiben dennoch eine Reihe grundlegender Fragen offen. Angesichts der Vielschichtigkeit des Konflikts ist es auch Personen, die in Syrien selbst vor Ort sind, oft nicht möglich, sich ein Gesamtbild über alle Aspekte zu verschaffen. Das Phänomen des Propagandakrieges besteht auf allen Seiten und wird von allen kriegsführenden Parteien und ihren Unterstützern gezielt und bewusst eingesetzt, sodass sich das Internet, soziale und sonstige Medien angesichts der Verzerrungen der Darstellungen nur bedingt zur Informationsbeschaffung eignen. Darüber hinaus sind offiziell verfügbare Quellen (Berichte, Analysen etc.) aufgrund der Entwicklungen vor Ort oft schnell überholt. In vielen Fällen wird die tatsächliche Kontrolle auf lokaler Ebene von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt. Selbst in formal ausschließlich vom Regime kontrollierten Gebieten wie dem Südwesten des Landes (Gouvernements Dara’a, Suweida) sind die Machtverhältnisse mitunter komplex und können sich insofern von Ort zu Ort, von Stadtviertel zu Stadtviertel unterscheiden. Auch Überschneidungen sind möglich (v.a. Nordwesten und Nordosten). Die tatsächliche Kontrolle liegt lokal häufig ganz oder in Teilen bei bewaffneten Akteuren bzw. traditionellen Herrschaftsstrukturen (LIB S. 15).
Die militärische Landkarte Syriens hat sich nicht substantiell verändert. Das Regime kontrolliert weiterhin rund 60 Prozent des syrischen Staatsgebiets, mit Ausnahme von Teilen des Nordwestens, des Nordens und des Nordostens (LIB S. 15).
Die militärischen Akteure und Syriens militärische Kapazitäten
Die Kämpfe und Gewalt nahmen 2021 sowohl im Nordwesten als auch im Nordosten und Süden des Landes zu. Der Sondergesandte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (VN) für Syrien Geir O. Pedersen wies am 29.11.2022 vor dem Sicherheitsrat insbesondere auf eine langsame Zunahme der Kämpfe zwischen den Demokratischen Kräften Syriens auf der einen Seite und der Türkei und bewaffneten Oppositionsgruppen auf der anderen Seite im Norden Syriens hin. Er betonte weiter, dass mehr Gewalt noch mehr Leid für die syrische Zivilbevölkerung bedeutet und die Stabilität in der Region gefährden würde - wobei gelistete terroristische Gruppen die neue Instabilität ausnutzen würden. Im Hinblick auf das Niveau der militärischen Gewalt ist eine Verstetigung festzustellen. Auch das Erdbeben am 6.2.2023 hat zu keiner nachhaltigen Verringerung der Kampfhandlungen geführt. In praktisch allen Landesteilen kam es im Berichtszeitraum zu militärischen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Art und Ausprägung. Dabei bestanden auch teils erhebliche Unterschiede zwischen Regionen mit einer hohen Zahl gewalttätiger Auseinandersetzungen und vergleichsweise ruhigeren Landesteilen. Für keinen Landesteil Syriens kann insofern von einer nachhaltigen Beruhigung der militärischen Lage ausgegangen werden (LIB S. 17 f.).
Die Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic (CoI) der VN stellte im Februar 2022 fest, dass fünf internationale Streitkräfte - darunter Iran, Israel, Russland, die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika, sowie nicht-staatliche bewaffnete Gruppen und von den VN benannte terroristische Gruppen weiterhin in Syrien aktiv sind. Im Mai 2023 begannen zusätzlich dazu die jordanischen Streitkräfte Luftangriffe gegen die Drogenschmuggler zu fliegen. Die USA sind mit mindestens 900 Militärpersonen in Syrien, um Anti-Terror-Operationen durchzuführen. Seit Ausbruch des Krieges zwischen der Hamas und Israel begannen die USA mehrere Luftangriffe gegen iranische Milizen in Syrien und dem Irak zu fliegen. Anfang Februar 2024 eskalierten die Spannungen zwischen dem Iran und den USA, nachdem iranische Milizen in Jordanien eine militärische Stellung der USA mit einer Drohne angriffen und dabei mehrere US-amerikanische Soldaten töteten und verletzten. Die USA reagierten mit erhöhten und verstärkten Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Milizen in Syrien und dem Irak. In Syrien trafen sie Ziele in den Räumen Deir ez-Zor, Al-Bukamal sowie Al-Mayadeen. Die syrische Armee gab an, dass bei den Luftangriffen auch Zivilisten sowie reguläre Soldaten getötet wurden (LIB S. 18).
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 intensivierte Israel die Luftangriffe gegen iranische und syrische Militärstellungen. Infolge der kriegerischen Kampfhandlungen zwischen Israel und Hamas in und um Gaza seit dem 7.10.2023, wurde israelisch kontrolliertes Gebiet auch von Syrien aus mindestens dreimal mit Raketen beschossen. Israel habe daraufhin Artilleriefeuer auf die Abschussstellungen gerichtet. Beobachter machten iranisch kontrollierte Milizen für den Raketenbeschuss verantwortlich. Israel soll im selben Zeitraum, am 12.10.2023 und 14.10.2023 jeweils zweimal den Flughafen Aleppo sowie am 12.10.2023 den Flughafen Damaskus mit Luftschlägen angegriffen haben; aufgrund von Schäden an den Start- und Landebahnen mussten beide Flughäfen daraufhin den Betrieb einstelle (LIB S. 18).
Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende