TE Vwgh Erkenntnis 1995/7/26 94/20/0820

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Veröffentlicht am 26.07.1995
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
AsylG 1991 §2 Abs2 Z3;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
FlKonv Art1 AbschnB lita;
FlKonv Art33;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Händschke, Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Kopp, über die Beschwerde des R in G, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in G, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 29. September 1994, Zl. 4.344.819/2-III/13/94, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird in seinem allein angefochtenen Spruchpunkt 1 wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, der am 16. August 1994 in das Bundesgebiet eingereist ist und am darauffolgenden Tag den Asylantrag gestellt hat, hat den Bescheid des Asylamtes vom 17. August 1994, mit dem sein Asylantrag abgewiesen worden war, mit Berufung bekämpft.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 29. September 1994 wies die belangte Behörde diese Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab (Spruchpunkt 1 des angefochtenen Bescheides) und sprach aus, dem Beschwerdeführer werde der befristete Aufenthalt im Bundesgebiet bis zum 20. März 1995 gemäß § 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1991 bewilligt (Spruchpunkt 2 des angefochtenen Bescheides). Der Beschwerdeführer hat bei seiner Einvernahme durch das Bundesasylamt am 17. August 1994 - zu seinen Fluchtgründen befragt - angegeben, er sei Kurde und seit 1989 Mitglied der TKPML. Seine Aufgabe innerhalb dieser Partei habe darin bestanden, Propaganda für diese zu machen, Sympathisanten anzuwerben sowie Spendengelder von der Bevölkerung zu erbitten.

Im Winter 1990 sei er deshalb festgenommen und für die Dauer von 2 Wochen inhaftiert worden; anschließend sei er wieder frei gelassen worden. Während dieser Haft sei er nicht mißhandelt worden. Im Sommer 1991 sei er neuerlich in Istanbul wegen seiner Propagandatätigkeit für die TKPML festgenommen und während seiner Haft gefoltert worden. Er habe Schläge auf den Kopf sowie im Brustbereich erhalten. Davon seien sichtbare Narben verblieben. In den 1 1/2 Jahren vor seiner Flucht habe der Beschwerdeführer keinen festen Wohnsitz gehabt, weil die Polizei das politische Tätigkeitsfeld seiner Partei (vornehmlich in den Arbeiterbezirken und Slumvierteln) aufgedeckt und häufig Kontrollen durchgeführt habe. So habe die Polizei kurz vor seiner Ausreise die Decknamen vieler für die Partei in Istanbul tätigen Mitglieder dechiffriert, insbesondere auch seinen Decknamen "M.", sodaß die Partei beschlossen habe ihn außer Landes zu schicken.

Zu seinem Fluchtweg über Bulgarien, Rumänien, Ukraine und Ungarn sowie darüber befragt, warum er in diesen Ländern nicht bereits um Asyl angesucht habe, verwies der Beschwerdeführer darauf, daß ihm bekannt sei, daß Bulgarien, Rumänien sowie Ungarn türkische Asylwerber in die Türkei zurückschieben würden. Ihm sei von Freunden mitgeteilt worden, daß man am leichtesten in Österreich bleiben könne.

In seiner gegen den abweislichen Bescheid des Bundesasylamtes gerichteten Berufung verwies der Beschwerdeführer nochmals darauf, daß er selbst an bewaffneten Kampfhandlungen gegen die türkische Regierung nicht teilgenommen habe. Wenn in der Niederschrift angeführt worden sei, daß er anläßlich seiner erster Verhaftung nicht gefoltert worden sei, so sei dies nicht richtig übersetzt worden. Da ihm der Inhalt der Niederschrift am Ende nur zusammengefaßt vorgehalten worden sei, habe er dies nicht erkennen können. Die Behörde sei seinem Hinweis auf Folterspuren nicht weiter nachgegangen. Während der Zeit bis zu seiner Flucht habe er sich in Istanbul regelmäßig versteckt gehalten. Zu der vom Bundesasylamt darüber hinaus angenommenen Verfolgungssicherheit in Bulgarien, Rumänien und Ungarn verwies der Beschwerdeführer auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 16. Dezember 1993, Zl. 93/01/0230, in der ausgeführt wurde, daß Ungarn der Genfer Flüchtlingskonvention nur unter dem Vorbehalt der Alternative a des Abschnittes B des Art. 1 beigetreten ist, was bedeute, daß in diesem Land die Flüchtlingskonvention auf Asylwerber, die ihr Ansuchen um Asyl mit Ereignissen außerhalb Europas begründen, keine Anwendung findet. Angesichts der Herkunft des (von dieser Entscheidung betroffen gewesenen) Beschwerdeführers aus der Türkei habe die belangte Behörde unter Berücksichtigung der behaupteten Verfolgung der Kurden in diesem Lande sowie der Rechtslage in Ungarn, ohne weitere Ermittlungen anzustellen, nicht davon ausgehen dürfen, daß der Beschwerdeführer bereits in Ungarn vor Verfolgung sicher gewesen sei. In der zitierten hg. Entscheidung wurde weiters ausgeführt, daß der von der (hier identen) belangten Behörde für die Untermauerung ihres Standpunktes herangezogene Umstand, daß Ungarn der europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet sei, ohne entsprechende Ermittlungen über die tatsächlichen Verhältnisse bzw. über die tatsächliche Vorgangsweise ungarischer Behörden gegenüber Asylwerbern nicht die angenommene Verfolgungssicherheit dartun könne (vgl. das erwähnte Erkenntnis vom 16. Dezember 1993). Nach Auffassung des Beschwerdeführers sei auch überhaupt nicht erkennbar, aufgrund welcher Ermittlungstätigkeit das Bundesasylamt zu seiner Auffassung gelangt sei, daß entgegen der Aussage des Beschwerdeführers in erster Instanz von einer Verfolgungssicherheit in den angeführten Ländern ausgegangen werden dürfe.

Die belangte Behörde wiederum begründete ihre abweisliche Entscheidung sowohl mit dem Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft als auch mit dem Eintritt der Verfolgungssicherheit in Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Im einzelnen führte sie im Rahmen ihrer rechtlichen Überlegungen aus, die allein auf die Mitgliedschaft bzw. Tätigkeit für die TKPML gegründete Vermutung, der Name bzw. Deckname des Beschwerdeführers sei der türkischen Polizei bekannt geworden, vermöge nicht die Flüchtlingseigenschaft zu indizieren, da aus der bloßen Behauptung allein nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit geschlossen werden könne, er habe tatsächlich Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes 1991 zu befürchten gehabt. Im Hinblick auf die lediglich politische Propaganda betreibende und Sympathisanten werbende Tätigkeit des Beschwerdeführers sei auch ein schlüssiges Motiv für eine nachhaltige Verfolgung durch seinen Heimatstaat nicht ersichtlich. Aus der Aussage des Beschwerdeführers gehe vielmehr hervor, daß er sich nicht aus objektiver und wohlbegründeter Furcht, sondern aufgrund eines Beschlusses der Partei, somit aus parteipolitischem Kalkül, ins Ausland begeben habe. Diese Annahme werde dadurch gestärkt, daß sich der Beschwerdeführer bereits im Jänner 1994 einen türkischen Reisepaß und Personalausweis (lautend auf Y) habe ausstellen lassen, also bereits mehrere Monate vor den behaupteten Festnahmen von Gesinnungsgenossen offenkundig die Absicht gehabt habe, seine Heimat zu verlassen. Zwischen den Verhaftungen in den Jahren 1990/1991 und der Ausreise im August 1994 bestünde kein asylrelevanter Zusammenhang, zumal der Beschwerdeführer nach einem 17-tägigen Aufenthalt in Rumänien im Februar 1994 wieder freiwillig in die Türkei zurückgekehrt sei.

Zur Frage der Verfolgungssicherheit verwies die belangte Behörde auf die Mitgliedschaft Rumäniens und Bulgariens bei der Genfer Flüchtlingskonvention sowie Ungarns auch bei der europäischen Menschenrechtskonvention und darauf, daß es nicht maßgeblich sei, ob ein Rückschiebeschutz in einer nationalen Rechtsordnung durch ein formalisiertes Feststellungsverfahren gewährleistet werde oder aber dadurch, daß die zuständigen Fremdenpolizeibehörden im Einzelfall die allfällige Flüchtlingseigenschaft eines Betroffenen zu beurteilen haben. Der Bestreitung der vom Bundesasylamt angenommenen Verfolgungssicherheit in Ungarn durch den Beschwerdeführer hielt die belangte Behörde entgegen, er habe in Istanbul gelebt, geographisch gesehen also in Europa, weshalb der von Ungarn erklärte Vorbehalt zur Genfer Flüchtlingskonvention nicht anwendbar sei, daher auch von Ungarn seine Flüchtlingseigenschaft zu prüfen gewesen wäre. Gleichzeitig habe Ungarn auch die europäische Menschenrechtskonvention unterfertigt und sich damit insbesondere auch deren Art. 3 verpflichtet. Nichts spreche dafür, daß Ungarn dieser seiner völkerrechtlichen Verpflichtung, die auf ein spezielles Refoulementverbot hinauslaufe, zuwidergehandelt hätte. In dieser Feststellung werde die belangte Behörde auch durch eine Stellungnahme des UNHCR vom 4. Juli 1994 gegenüber dem Deutschen Bundesverfassungsgericht bestärkt, wonach aufgrund einer informellen Vereinbarung zwischen UNHCR und der ungarischen Regierung auch außer-europäische Asylwerber jedenfalls an den UNHCR verwiesen würden. Sei ein Flüchtlingseigenschaftsfeststellungsverfahren beim UNHCR anhängig, dürften die Betroffenen solange in Ungarn verbleiben, bis eine endgültige Entscheidung durch den UNHCR getroffen sei.

In der vorliegenden Beschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen diese Ausführungen mit dem Hinweis, daß die Behörde ihrer Ermittlungspflicht nach § 16 Asylgesetz nicht nachgekommen sei, sondern vielmehr reine Spekulationen angestellt habe. Der Beschwerdeführer habe in seiner Berufung aufgezeigt, daß in den angeführten Ländern ein Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nicht bestehe. Es sei unerfindlich, aufgrund welcher Erhebungen die belangte Behörde zu den anders lautenden Ergebnissen gelangt sei. Hätte die Behörde dem Beschwerdeführer ihre allfälligen Erkenntnisquellen bekanntgegeben, so hätte der Beschwerdeführer, der sich in Schubhaft befinde, weitere Erhebungen und Stellungnahmen dazu durch den UNHCR oder duch AI veranlassen können. Die Einvernahme durch das Bundesasylamt sei nicht sorgfältig durchgeführt, die Aussagen durch den beigezogenen Dolmetscher seien unrichtig und unvollständig übersetzt worden. Die belangte Behörde sei nicht ausreichend auf die Fluchtgründe des Beschwerdeführers eingegangen. Die bereits zweimal erfolgte Verhaftung des Beschwerdeführers und die von ihm glaubwürdig angegebenen Mißhandlungen im Zusammenhang mit der Aufdeckung seiner danach weiter gesetzten oppositionellen Tätigkeiten für die TKPML sprächen gerade für eine besonders hohe Gefahr einer neuerlichen Verfolgung des Beschwerdeführers. Die Ausführungen der Behörde, daß mangels zeitlichem Konnex eine Asylrelevanz der geschilderten Folterungen nicht gegeben wäre, sei nicht nachvollziehbar. Notorisch sei darüber hinaus, daß im Sommer 1994 eine Verhaftungswelle unter den Mitgliedern der TKPML stattgefunden habe und es im Zuge von Massenverhaftungen regelmäßig zu Folter gekommen sei. Da die Partei die Situation genauer habe beurteilen können, habe sich der Beschwerdeführer berechtigt in Furcht darüber befunden, verhaftet und ebenfalls gefoltert zu werden. Dieses Vorbringen werde dadurch unterstrichen, daß sich der Beschwerdeführer zur Ausreise aus seinem Heimatland falscher Reisedokumente bedient habe.

Ausgehend von seiner Beschwerdeerklärung richtet sich die Bechwerde lediglich gegen den Spruchpunkt 1 des angefochtenen Bescheides, wobei Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie Rechtswidrigkeit des Inhaltes des bekämpften Bescheides geltend gemacht werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

Der belangten Behörde ist zwar zuzugeben, daß allein die Verhaftungen und behaupteten Mißhandlungen in den Jahren 1990 und 1991 die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 nicht zu begründen vermögen, weil nach ständiger hg. Rechtsprechung Umstände, die sich schon längere Zeit vor der Ausreise ereignet haben, nicht mehr beachtlich sind; die wohlbegründete Flucht muß regelmäßig bis zur Ausreise andauern (vgl. für viele das Erkenntnis vom 16. September 1992, Zl. 92/01/0716). Der Beschwerdeführer hat aber seine Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Gesinnung nicht nur mit den Ereignissen in den Jahren 1990 und 1991 begründet, sondern vielmehr auch mit seiner danach weiter gesetzten Tätigkeit für die und seiner Zugehörigkeit zur TKPML sowie mit den kurz vor seiner Ausreise stattgefundenen Massenverhaftungen von Parteimitgliedern in Istanbul. Dabei sei auch sein Deckname der Polizei bekannt geworden, weshalb sich die Partei entschlossen habe, den Beschwerdeführer ins Ausland zu schicken. Damit macht der Beschwerdeführer entgegen dem Standpunkt der belangten Behörde eine durch aktuelle Ereignisse ausgelöste Furcht geltend, sodaß im Zusammenhang mit den behaupteten Folterungen in den Jahren 1990/1991 und der weiteren oppositionellen Tätigkeit des Beschwerdeführers für die TKPML nicht ohne weiteres von einem mangelnden asylrechtlichen Konnex ausgegangen werden kann. Im Hinblick auf die für die Flucht als maßgeblich herangezogenen, bereits in erster Instanz behaupteten polizeilichen Ermittlungen im Sommer 1994 kommt auch dem Umstand, daß der Beschwerdeführer nach einem 17-tägigen Aufenthalt in Rumänien im Februar dieses Jahres wieder in die Türkei zurückgereist war, keine maßgebliche Bedeutung zu.

Auch der weiteren Argumentation, aus der allgemein gehaltenen Vermutung der Bekanntgabe seines Decknamens bzw. seiner Mitgliedschaft bei der verbotenen Organisation der TKPML könne nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit auf eine Verfolgung des Beschwerdeführers geschlossen werden, kann nicht gefolgt werden. Die belangte Behörde hätte sich vielmehr angesichts der von ihr selbst angenommenen Mitgliedschaft des Beschwerdeführers bei der verbotenen TKPML sowie seiner polizeilich registrierten und dadurch dokumentierten politischen Auffälligkeit mit den Behauptungen des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang auseinanderzusetzen gehabt, das von ihm angegebene Vorgehen seines Heimatlandes gegen alle Mitglieder der TKPML aus Gründen der politischen Gesinnung hätte auch ihn konkret in Form von Haft und Folter getroffen. Der Beschwerdeführer hat bereits anläßlich seiner Vernehmung im Zusammenhang mit in der Haft behaupteten Mißhandlungen auf Narben hingewiesen, ohne daß dies die Behörde zum Anlaß weiterer Erörterungen oder sonstiger Ermittlungen nahm.

Die von der Behörde gezogene Schlußfolgerung, die Angaben des Beschwerdeführers seien deshalb nicht glaubwürdig, weil nach seiner eigenen Aussage die Partei den Entschluß für seine Flucht getroffen habe, ist in dieser Form nicht schlüssig. Diesem Argument hält die Beschwerde zutreffend entgegen, daß die Einschätzung einer für die Mitglieder einer verbotenen Partei gefährlichen Situation unter Umständen von der Parteiführung genauer vorgenommen werden kann, zumal diese aufgrund ihrer Organisationsstruktur regelmäßig über mehr Informationen von der Effektivität der polizeilichen Ermittlungstätigkeit als das einzelne Mitglied verfügen wird. Der Umstand, daß die Parteiführung einem Mitglied angesichts des Bekanntwerdens seines Namens bzw. Decknamens und der dadurch evident gewordenen Gefahr der Verhaftung das Verlassen des Landes empfiehlt, schließt nicht notwendig aus, daß sich das davon betroffene Parteimitglied aus objektiv wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner politischen Gesinnung außer Landes begibt. Worin das von der belangten Behörde angeführte "politische Kalkül" der Partei für die dem Beschwerdeführer empfohlene Flucht gelegen gewesen sein soll, wenn nicht in der Befürchtung einer Verhaftung, wird im angefochtenen Bescheid nicht weiter ausgeführt.

Insoweit die belangte Behörde dem Vorbringen des Beschwerdeführers mangelnde Glaubwürdigkeit aus dem Grunde zumaß, er habe sich bereits im Jänner 1994 um einen türkischen Reisepaß und einen Personalausweis (mit anderen Personaldaten) bemüht, also zu einem Zeitpunkt, in dem die behaupteten Festnahmen von Gesinnungsgenossen noch nicht stattgefunden haben, wird übersehen, daß allein aus der Tatsache der Besorgung dieser Dokumente auf das Nichtvorliegen der Flüchtlingseigenschaft nicht rückgeschlossen werden kann, zumal nicht geklärt wurde, ob es lediglich die beabsichtigte Flucht war, die den Beschwerdeführer dazu veranlaßte. Der Beschwerdeführer hatte bereits in erster Instanz angegeben, daß er in den letzten eineinhalb Jahren vor seiner Flucht in Istanbul keinen festen Wohnsitz mehr gehabt habe, weil die Polizei zunehmend das dortige Operationsfeld seiner Partei entdeckt und häufiger kontrolliert habe. Die diesbezüglichen Erwägungen der belangten Behörde erweisen sich demnach als nicht schlüssig.

Zu der von der belangten Behörde angenommen Verfolgungssicherheit ist zunächst auf die zahlreichen Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, in welchen dargelegt wurde, daß die Mitwirkungspflicht einer Partei nicht soweit geht, daß sich die Behörde ein ordnungsgemäßes Verfahren ersparen könnte, zu dessen Durchführung sie (hier gemäß § 11 und 16 Asylgesetz 1991 in Verbindung mit dem § 39, 40 und 60 AVG) verpflichtet ist (vgl. als Beispiel für viele das hg. Erkenntnis vom 21. Februar 1995, Zl. 94/20/0397, und die dort angegebene Judikatur). Der Mitwirkungspflicht kommt dort Bedeutung zu, wo es der Behörde nicht möglich ist, von sich aus und ohne Mitwirkung der Partei tätig zu werden. Dies trifft - wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt ausgesprochen hat - auf die im allgemeinen in Rumänien und Bulgarien beobachtete Vorgangsweise betreffend den Schutz von Flüchtlingen vor Rückschiebung in ihren Heimatstaat nicht zu. Der Beschwerdeführer hat bereits bei seiner Einvernahme in erster Instanz angegeben, daß in den angeführten Ländern ein konkreter und effektiver Abschiebungsschutz für Flüchtlinge nicht bestehe. Es kann dem Beschwerdeführer nicht zugemutet werden, konkrete Fälle von Verletzungen des Refoulementverbotes nachzuweisen. Was die von der belangten Behörde angenommene Verfolgungssicherheit in Ungarn anlangt, hat der Beschwerdeführer schon in der Berufung durch Verweis auf das zitierte Verwaltungsgerichtshof-Erkenntnis aufgezeigt, daß Ungarn seine Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention auf Ereignisse beschränkt hat, die in Europa - und nur dort - eintreten. Es kommt nicht darauf an, woher der betreffende Asylwerber im geographischen Sinn kommt - im übrigen liegt Istanbul sowohl in Asien als auch in Europa -, sondern im Sinne des Art. 1 Abschnitt B lit. a der Genfer Flüchtlingskonvention darauf, wo die fluchtauslösenden EREIGNISSE eintreten. In diesem Sinne ist es ohne Belang, ob der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz im europäischen oder im asiatischen Teil seines Heimatlandes hatte, wenn die "Ereignisse", die seine Furcht vor Verfolgung begründen, im gesamten Heimatland Auswirkungen haben können. Die aus der Mitgliedschaft Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention resultierenden Überlegungen betreffend die Verfolgungssicherheit des Beschwerdeführers als türkischen Staatsangehörigen vermögen daher ebensowenig zu überzeugen wie der bloße Verweis auf die EMRK. Insoweit die belangte Behörde eine Stellungnahme des UNHCR vom 4. Juli 1994 gegenüber dem deutschen Bundesverfassungsgericht zitiert und darauf die Annahme der Verfolgungssicherheit des Beschwerdeführers in Ungarn zu stützen sucht, rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Parteiengehörs zu Recht. Eine derartige Stellungnahme ist auch im Akt nicht aufzufinden. Wendet sich daher der Beschwerdeführer gegen die Annahme der Verfolgungssicherheit in Ungarn mit der Behauptung, wäre ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme eingeräumt worden, hätte er allenfalls selbst weitere Ermittlungen durch den UNHCR oder durch Ammesty International vornehmen lassen können, was zum Ergebnis geführt hätte, daß es sich bei Ungarn nicht um ein "sicheres Drittland" handle, so verstößt dieses Vorbringen nicht gegen das gemäß § 41 Abs. 1 VwGG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich geltende Neuerungsverbot.

Die belangte Behörde hat dadurch, daß sie den angefochtenen Bescheid ohne Vorliegen von - unter dem Blickwinkel der Beschwerdeausführungen - entsprechenden Ergebnissen eines unter Wahrung des Parteiengehörs durchgeführten Ermittlungsverfahrens erlassen hat, diesen mit wesentlichen Verfahrensmängeln belastet.

Da somit Verfahrensvorschriften außer Acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung die belangte Behörde zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbingung mit der Verordnung

BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1995:1994200820.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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