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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AVG §37;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde des M in W, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 8. April 1994, Zl. MA 12-14063/91, betreffend Zurückweisung einer Berufung in einer Sozialhilfeangelegenheit, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Das Land Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom 8. Mai 1992 nahm der Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 12, Sozialamt, Sozialreferat für den
20. Bezirk (erstinstanzliche Behörde) sämtliche Verfahren zur Gewährung von Geldaushilfen für die Zeit vom 20. August 1991 bis 11. Jänner 1992 an den Beschwerdeführer gemäß § 69 Abs. 1 Z. 1 bis 3 und Abs. 3 AVG wieder auf und traf Feststellungen über die Ansprüche des Beschwerdeführers auf Geldaushilfen nach dem Wiener Sozialhilfegesetz im genannten Zeitraum und den entstandenen Überbezug. Dieser an den Beschwerdeführer unter der Adresse "1200 Wien, X-Gasse" gerichtete Bescheid wurde nach dem im Akt erliegenden Rückschein nach einem Zustellversuch am 13. Mai 1992 an diesem Tag mit einem Beginn der Abholfrist vom 14. Mai 1992 beim Postamt 1202 Wien, hinterlegt.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer die mit 9. Juni 1992 datierte und am 11. Juni 1992 zur Post gegebene Berufung, in der er u.a. ausführte, daß er den erstinstanzlichen Bescheid am 1. Juni 1992 "bekommen habe".
Mit Schreiben vom 24. Juli 1992 teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit, daß auf Grund der Aktenlage die Berufung offensichtlich verspätet eingebracht worden sei. Sollte der Beschwerdeführer am Tag des ersten Zustellversuches (13. Mai 1992) von der Abgabestelle abwesend gewesen sein, so werde er zur Glaubhaftmachung seiner Abwesenheit und des Tages seiner Rückkehr sowie zur Vorlage von Bescheinigungsmitteln binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens aufgefordert.
Innerhalb der gesetzten Frist gab der Beschwerdeführer vor der belangten Behörde am 19. August 1992 niederschriftlich an, er könne derzeit nicht angeben, ob er am 13. Mai 1992 von der Abgabestelle abwesend gewesen sei und wenn ja, wie lange er weg gewesen sei. Er würde dies jedoch binnen 14 Tagen schriftlich bekanntgeben und auch geeignete Bescheinigungsmittel (eventuell Bestätigungen) beibringen.
Mit Schreiben vom 21. August 1992 gab der Beschwerdeführer bekannt, daß er vom 11. Mai 1992 bis 17. Juni 1992 krank und bei seiner Bekannten P. in Wien, gewesen sei, weil er ohne Betreuung nicht allein zu Hause habe bleiben können. Aus diesem Grund habe er die Ausfertigung des erstinstanzlichen Bescheides erst am 1. Juni 1992 beim Postamt abgeholt. Diesem Schreiben legte er eine schriftliche Erklärung der P. vom 21. August 1992 folgenden Inhaltes bei: Der Beschwerdeführer sei während seiner Krankheit vom 11. Mai bis 17. Juni 1992 bei ihr in Pflege gewesen. Am 31. Mai 1992 sei sie in seiner Wohnung gewesen, um nach dem Rechten zu sehen. Dabei habe sie die Verständigung von der Post vorgefunden. Am nächsten Tag habe sie den Beschwerdeführer sofort zur Post gefahren, wo er sich das Schreiben abgeholt habe.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG als verspätet zurück. Begründet wurde die Entscheidung damit, daß es den Angaben des Beschwerdeführers bzw. der beigebrachten Erklärung der P. in mehrfacher Hinsicht an Glaubwürdigkeit fehle. So habe sich der Beschwerdeführer am 19. August 1992 nicht an seine mehr als vier Wochen dauernde Erkrankung zum fraglichen Zeitpunkt erinnern können und erst zwei Tage später (ohne Vorlage einer ärztlichen Bestätigung) darauf verwiesen. Obwohl der Beschwerdeführer nach seinen Ausführungen beginnend mit 11. Mai 1992 mehr als vier Wochen derart erkrankt gewesen sei, daß er ohne Betreuung nicht allein zu Hause habe bleiben können, sei er, wenn auch in Begleitung von P., gleichwohl in der Lage gewesen, am 1. Juni 1992 (somit noch während seiner Erkrankung) das Postamt aufzusuchen und dort den erstinstanzlichen Bescheid zu beheben. Nicht nur im Hinblick auf diese Umstände sei die Erklärung der P. als unrichtig anzusehen, sondern auch in Anbetracht der Tatsache, daß im Akt bereits drei verschiedene Erklärungen von P. aufschienen, deren Vorlage jeweils mit dem Ziel erfolgt sei, im anhängigen Verwaltungsverfahren für den Beschwerdeführer positive Ergebnisse herbeizuführen. Es sei daher (ausgehend von der Zustellung des erstinstanzlichen Bescheides am 14. Mai 1992 und dem dadurch bedingten Ende der Rechtsmittelfrist am 29. Mai 1992) spruchgemäß zu entscheiden gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die Frage, ob eine Berufung rechtzeitig oder verspätet eingebracht wurde, ist eine Rechtsfrage, die die Behörde auf Grund der von ihr festgestellten Tatsachen zu entscheiden hat (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom 29. September 1960, Slg. Nr. 5.380/A, vom 7. Mai 1980, Slg. Nr. 10.116/A, und vom 19. Mai 1993, Zlen. 92/09/0331, 0332).
Wäre die durch die "Erklärung" der P. bescheinigte Behauptung des Beschwerdeführers richtig, daß er sich in der Zeit vom 11. Mai bis 17. Juni 1992 krankheitshalber nicht an der Abgabestelle in Wien XX, X-Gasse, sondern in der Wohnung der P. aufgehalten habe, so gälte die am 13. Mai 1992 beim genannten Postamt hinterlegte (eine Ausfertigung des erstinstanzlichen Bescheides enthaltende) Sendung nicht mit dem 14. Mai 1992 als zugestellt (§ 17 Abs. 3 ZustellG) sondern, da der Beschwerdeführer nach seiner Behauptung nicht vor dem 18. Juni 1992 an die Abgabestelle in Wien XX zurückgekehrt ist, erst am 1. Juni 1992 durch ihre Abholung beim Postamt vollzogen (§ 7 ZustellG).
Die belangte Behörde hat die diesbezüglichen Behauptungen des Beschwerdeführers und die zugleich vorgelegte "Erklärung" der P. aber aus den angeführten Gründen als nicht glaubwürdig erachtet. Nach den Beschwerdeausführungen fehle es dieser "antizipierten" Beweiswürdigung an jeglicher, nachvollziehbarer (schlüssiger) Begründung: Es sei unrichtig, daß sich der Beschwerdeführer am 19. August 1992 nicht mehr an seine mehr als vier Wochen dauernde Erkrankung habe erinnern können; er habe lediglich derzeit nicht angeben können, ob er am 13. Mai 1992 von der Abgabestelle abwesend gewesen sei. Wenn man bedenke, daß er kaum der deutschen Sprache mächtig sei und offenbar nach seiner Abwesenheit an einem bestimmten Tag gefragt worden sei, so sei es nicht verwunderlich, wenn er momentan keine Angaben habe machen können. Vor allem aber sei ihm eine Frist zur schriftlichen Stellungnahme eingeräumt worden und es wäre widersinnig, seine fristgerecht erstatteten Angaben nur deshalb zu negieren, weil er bei seiner Einvernahme am 19. August 1992 keine Angaben gemacht habe. Weshalb die Angabe des Beschwerdeführers, er habe noch während seiner Krankheit das Postamt in Begleitung von P. aufgesucht und dort den erstinstanzlichen Bescheid abgeholt, unglaubwürdig sein solle, sei nicht nachvollziehbar. Es müsse auch für die belangte Behörde notorisch sein, daß sich Personen auch während einer Erkrankung zum Postamt schleppen könnten, um eine Postsendung zu beheben. Zur Argumentation der belangten Behörde mit den bereits vorgelegten drei Erklärungen der P. zum Zwecke der Erhärtung ihrer Unglaubwürdigkeit sei zu bemerken, daß keine der sonst vorgelegten Erklärungen irgend etwas mit einer Erkrankung des Beschwerdeführers oder mit Fristen oder dgl. zu tun habe. Auch sei von keiner dieser Erklärungen die inhaltliche Unrichtigkeit behauptet oder gar bewiesen worden.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG) bedeutet nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht, daß der in der Begründung des Bescheides niederzulegende Denkvorgang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, daß - sofern in den besonderen Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - die Würdigung der Beweise keinen anderen, insbesondere keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Diese schließt aber eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle in der Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind. Schlüssig sind solche Erwägungen nur dann, wenn sie u.a. den Denkgesetzen, somit auch dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut entsprechen (vgl. u.a. das Erkenntnis vom 24. Mai 1974, Slg. Nr. 8.619/A). Unter Beachtung der nämlichen Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob die Behörde im Rahmen ihrer Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. u.a. das Erkenntnis vom 17. November 1992, Zl. 92/08/0071, mit weiteren Judikaturhinweisen). Hingegen ist der Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung der belangten Behörde, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen, d.h. ihr mit der Begründung entgegenzutreten, daß auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. u. a. das Erkenntnis vom 19. Oktober 1993, Zl. 92/08/0175).
Die Begründung des angefochtenen Bescheides hält einer Prüfung unter diesen Gesichtspunkten schon deshalb nicht stand, weil die belangte Behörde der P. die Glaubwürdigkeit versagt hat, ohne sie vorher als Zeugin vernommen zu haben. Zwar kommt gemäß § 46 AVG als Beweismittel alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes geeignet und nach Lage des einzelnen Falles zweckdienlich ist, und können deshalb auch schriftliche Erklärungen von Personen über von ihnen wahrgenommene (selbst erlebte) Tatsachen nach Lage des Einzelfalles geeignete Beweismittel sein (vgl. u.a. die Erkenntnisse vom 12. Februar 1960, Zl. 2187/58, vom 18. Mai 1988, Zlen. 87/03/0249, 0250, vom 9. Mai 1990, Zl. 89/03/0100, sowie Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 4. Juni 1991, Slg. Nr. 13.451/A). Wenn aber - so wie im Beschwerdefall - die Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes (die Abwesenheit oder Nichtabwesenheit des Beschwerdeführers von der Abgabestelle in einen bestimmten Zeitraum) nach dem Inhalt der diesbezüglichen Behauptungen der Partei entscheidend von der Bewertung der Glaubwürdigkeit einer dritten Person abhängt, so ist es im Interesse der der Behörde obliegenden Erforschung der materiellen Wahrheit unzulässig, sich mit der von der Partei zur Bescheinigung ihrer Behauptungen vorgelegten schriftlichen Erklärung dieser dritten Person zu begnügen und sie nach ihrem Inhalt in Verbindung mit anderen Umständen (hier: der Unglaubwürdigkeit der Partei selbst) als unglaubwürdig (als "Gefälligkeitsaussage") abzutun. Eine solche Würdigung ist der Sache nach einer unzulässigen vorgreifenden Beweiswürdigung in den Fällen der Abstandnahme von beantragten Beweisaufnahmen gleichzuhalten (vgl. dazu die Erkenntnisse vom 10. Dezember 1959, Zl. 2227/58, vom 21. Februar 1990, Zl. 89/13/0079, vom 22. Oktober 1992, Zl. 91/16/0129, und vom 21. Dezember 1993, Zl. 92/08/0217). Vielmehr ist die Behörde in einem solchen Fall gemäß § 39 Abs. 2 AVG zu einer eingehenden zeugenschaftlichen Vernehmung der betreffenden Person über die maßgebenden Tatumstände (vgl. dazu das Erkenntnis vom 9. Jänner 1987, Zl. 86/18/0223) vor einer solchen Würdigung verhalten (vgl. im Zusammenhang mit bloß formlosen Befragungen die Erkenntnisse vom 12. November 1959, Zl. 564/58, vom 15. Oktober 1985, Zl. 85/04/0100, vom 17. November 1987, Zl. 84/05/0246, und vom 15. Februar 1991, Zl. 86/18/0095, aber auch die Erkenntnisse vom 1. Dezember 1988, Zl. 88/09/0108, und vom 4. September 1989, Zl. 89/09/0048), hat doch die Vernehmung eines Zeugen, ganz abgesehen von der strafrechtlichen Sanktion der Falschaussage, im Lichte der Erforschung der materiellen Wahrheit schon insofern den Vorzug gegenüber einer schriftlichen Erklärung, als die Zeugenvernehmung ihrem Wesen nach in Frage und Antwort des Vernehmenden und des Zeugen besteht, woraus an sich schon durch die Betrachtung des Fragenkomplexes von verschiedenen Gesichtspunkten aus mehr Aufklärung zu gewinnen sein wird als aus schriftlichen Darlegungen (vgl. das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 26. Juni 1978, Slg. Nr. 9.602/A).
Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß die belangte Behörde bei Vermeidung des oben aufgezeigten Verfahrensmangels zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers, BGBl. Nr. 416/1994, allerdings begrenzt durch das (den in dieser Verordnung festgelegten Pauschalsatz unterschreitende) Begehren des Beschwerdeführers.
Schlagworte
Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Zeugenbeweis Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Materielle Wahrheit Beweiswürdigung antizipative vorweggenommene Beweismittel Zeugenbeweis Beweismittel Amtspersonen Meldungsleger Anzeigen Berichte Zeugenaussagen Ablehnung eines BeweismittelsEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1995:1994080152.X00Im RIS seit
20.11.2000Zuletzt aktualisiert am
05.11.2008