TE Vwgh Erkenntnis 2023/4/5 Ra 2021/19/0294

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Veröffentlicht am 05.04.2023
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §2 Abs1 Z17
AsylG 2005 §3 Abs1
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §45 Abs3
AVG §46
AVG §52
VwGVG 2014 §17
  1. AsylG 2005 § 2 heute
  2. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.07.2021 bis 23.12.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 69/2020
  3. AsylG 2005 § 2 gültig ab 24.12.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2020
  4. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.09.2018 bis 23.12.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 56/2018
  5. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.11.2017 bis 31.08.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2017
  6. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.11.2017 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 84/2017
  7. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.06.2016 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 24/2016
  8. AsylG 2005 § 2 gültig von 20.07.2015 bis 31.05.2016 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 70/2015
  9. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.01.2014 bis 19.07.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 144/2013
  10. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  11. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  12. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.01.2010 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 135/2009
  13. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.01.2010 bis 31.12.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  14. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.07.2008 bis 31.12.2009 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  15. AsylG 2005 § 2 gültig von 01.01.2006 bis 30.06.2008
  1. AVG § 39 heute
  2. AVG § 39 gültig ab 15.08.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 57/2018
  3. AVG § 39 gültig von 20.04.2002 bis 14.08.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 65/2002
  4. AVG § 39 gültig von 01.01.1999 bis 19.04.2002 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 158/1998
  5. AVG § 39 gültig von 01.02.1991 bis 31.12.1998
  1. AVG § 52 heute
  2. AVG § 52 gültig von 01.01.2002 bis 27.11.2001 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 471/1995
  3. AVG § 52 gültig von 01.07.1998 bis 30.06.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 471/1995
  4. AVG § 52 gültig ab 01.07.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 471/1995
  5. AVG § 52 gültig von 01.07.1995 bis 30.06.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 471/1995
  6. AVG § 52 gültig von 01.02.1991 bis 30.06.1995

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision der N A, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das am 12. April 2021 mündlich verkündete und am 14. Juli 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L519 2011720-2/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin stellte am 3. September 2013 einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie gab an, in der Region Berg-Karabach geboren worden, im Jahr 2020 mit ihrer Familie in die Russische Föderation, nach Krasnodar, ausgereist und staatenlos zu sein. Sie sei keine armenische Staatsangehörige. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, dass sie gegen ihren Willen von ihrem Vater verheiratet werden sollte.

2        Mit Bescheid vom 11. August 2014 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Mit Beschluss vom 1. Oktober 2014, L519 2011720-1/3E, hob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den Bescheid des BFA auf, verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurück und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4        Begründend führte das BVwG aus, das BFA habe die notwendigen Ermittlungen zur Frage der Staatsangehörigkeit der Revisionswerberin unterlassen. Insbesondere müsse eine Sprach- und Herkunftsanalyse durchgeführt werden und habe sich das BFA mit dem Staatsangehörigkeitsrecht der in Frage kommenden Herkunftsstaaten auseinanderzusetzen.

5        Mit Bescheid vom 31. August 2017 wies das BFA den Antrag der Revisionswerberin ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Armenien zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

6        Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem am 12. April 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mündlich verkündeten und am 14. Juli 2021 schriftlich ausgefertigten angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision macht in der Sache Ermittlungs- und Begründungsmängel geltend, wendet sich gegen die Feststellung des BVwG, die Revisionswerberin sei armenische Staatsangehörige, und bringt im Zusammenhang damit vor, aufgrund der armenischen Sprachkenntnisse der Revisionswerberin könne nicht die Schlussfolgerung getroffen werden, sie würde die armenische Staatsangehörigkeit besitzen. Der Familie der Revisionswerberin sei es mangels Identitätsnachweisen nicht gelungen die russische Staatsbürgerschaft zu erwerben und ergebe sich aus dem armenischen sowie aserbaidschanischen Staatsbürgerschaftsrecht, dass die Revisionswerberin keine der beiden Staatsbürgerschaften hätte erlangen können. Der Frage nach dem Herkunftsstaat der Revisionswerberin oder ob sie staatenlos sei, komme zentrale Bedeutung zu und hätte sich das BVwG daher nicht mit der vom BFA eingeholten Sprachanalyse begnügen dürfen.

9        Die Revision erweist sich als zulässig und auch berechtigt.

10       Gemäß § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 ist der Herkunftsstaat jener Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Fremde besitzt, oder - im Falle der Staatenlosigkeit - der Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthaltes. Dementsprechend erkennt der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass „Herkunftsstaat“ jener Staat ist, zu dem ein formelles Band der Staatsbürgerschaft besteht; nur wenn ein solcher Staat nicht existiert, wird subsidiär auf sonstige feste Bindungen zu einem Staat in Form eines dauernden (gewöhnlichen) Aufenthalts zurückgegriffen (vgl. VwGH 18.12.2020, Ra 2020/19/0030, mwN).

11       Es entspricht daher der österreichischen Rechtslage, dass die Verfolgungsgefahr für die Asylwerber jeweils bezogen auf ihre Herkunftsstaaten geprüft werden muss und als Herkunftsstaaten jeweils jene heranzuziehen sind, deren Staatsangehörigkeit die Revisionswerber besitzen (vgl. VwGH 29.11.2022, Ra 2022/14/0247, mwN).

12       Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG festgehalten, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in der Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidung tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung selbst ergeben (vgl. etwa VwGH 11.1.2023, Ra 2020/19/0363, mwN).

13       Den Anforderungen an die Begründungspflicht wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht.

14       Das BVwG stellte fest, dass die Revisionswerberin armenische Staatsangehörige sei (was von der Revisionswerberin seit ihrer Erstbefragung im Jahr 2013 durchgehend bestritten wurde) und stützte sich dazu im Wesentlichen auf die Ausführungen in der durch das BFA eingeholten Sprachanalyse des Instituts „SPRAKAB“. Dieser Analyse zu Folge, liege der „sprachliche Hintergrund“ der Revisionswerberin „mit sehr hohem Sicherheitsgrad“ in Armenien. Die Wahrscheinlichkeit eines sprachlichen Hintergrundes in Aserbaidschan oder in der Russischen Föderation sei als sehr gering einzustufen. Weiters ging das BVwG davon aus, dass die Revisionswerberin nie in Krasnodar gelebt habe.

15       Unabhängig davon, dass das BVwG von der Unglaubwürdigkeit der Angaben der Revisionswerberin zu ihrem Aufenthalt in der Russischen Föderation ausging, geht aus dem angefochtenen Erkenntnis nicht nachvollziehbar hervor, warum die Revisionswerberin armenische Staatsangehörige sein solle. Es ist insbesondere nicht nachvollziehbar, dass das BVwG ausschließlich vom festgestellten „sprachlichen Hintergrund“ (zur festgestellten „Sprachfärbung“ in Bezug auf Armenien vgl. VfGH 6.6.2014, U 12/2013-19 u.a.) und den nicht vorhandenen geografischen Kenntnissen der Revisionswerberin zur Russischen Föderation und Aserbaidschan respektive Berg-Karabach auf die armenische Staatsangehörigkeit der Revisionswerberin schloss. Das BVwG führte in der Beweiswürdigung aus, dass Analysten (offenbar des zuvor genannten Institutes) auch Hintergrundinformationen über die Revisionswerberin berücksichtigt hätten, ohne konkret offenzulegen, um welche Angaben es sich gehandelt hat, und welche Schlüsse daraus konkret zu gewinnen sind. Vor diesem Hintergrund entzieht sich das angefochtene Erkenntnis schon mangels näherer diesbezüglicher Begründung einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof auf seine inhaltliche Rechtmäßigkeit.

16       Im Zusammenhang mit der eingeholten Sprachanalyse rügt die Revisionswerberin weiters zu Recht eine Verletzung des Parteiengehörs im Sinne des § 45 Abs. 3 AVG, weil ihr die schriftlichen Ergebnisse dieser Analyse nicht übermittelt worden seien. Sie sei damit in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 20. Jänner 2015 lediglich „konfrontiert“ worden und habe ihr der Organwalter des BFA das Ergebnis der Sprachanalyse nur „zusammenfassend“ mitgeteilt.

17       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist es mit den ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren tragenden Grundsätzen des Parteiengehörs und der freien Beweiswürdigung unvereinbar, einen Bescheid auf Beweismittel zu stützen, welche der Partei nicht zugänglich gemacht worden sind (das gilt auch für Erkenntnisse des BVwG). Dem Parteiengehör unterliegt nicht nur eine von der Behörde getroffene Auswahl jener Ergebnisse des Beweisverfahrens, welche die Behörde zur Untermauerung der von ihr getroffenen Tatsachenfeststellungen für erforderlich hält, sondern der gesamte Inhalt der Ergebnisse der Beweisaufnahme (vgl. zum Ganzen VwGH 25.9.2019, Ra 2019/19/0380, mwN).

18       Die Revisionswerberin zeigt zutreffend auf, dass sie vor dem BFA nur mit einer Zusammenfassung der durchgeführten Sprachanalyse konfrontiert wurde. Darüber hinaus ergibt sich aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem BVwG am 12. April 2021, dass die erkennende Richterin der Revisionswerberin am Ende der Verhandlung lediglich vorhielt, dass „[laut] durchgeführter Sprachanalyse [...] Ihr sprachlicher Hintergrund in Armenien [liegt]“.

19       Die Relevanz dieses Verfahrensmangels kann auch nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, weil - wie die Revision ausführlich darlegt - es der Revisionswerberin mangels Kenntnis der schriftlichen Fassung der Sprachanalyse nicht möglich war, deren Methodik sowie die fachliche Qualifikation der mit der Analyse beauftragten Person zu überprüfen und zu bekämpfen.

20       Da das BVwG im Fall eines mängelfreien Verfahrens - wie die Revision aufzeigt - jedenfalls zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG den Herkunftstaat der Revisionswerberin neuerlich nach den Vorgaben der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. erneut VwGH 18.12.2020, Ra 2020/19/0030, mwN) zu ermitteln haben.

21       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. April 2023

Schlagworte

Beweismittel Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021190294.L00

Im RIS seit

25.04.2023

Zuletzt aktualisiert am

25.04.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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