TE Vwgh Erkenntnis 2023/3/22 Ra 2021/18/0047

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Veröffentlicht am 22.03.2023
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Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin und die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des M S, vertreten durch Mag. Mathias Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das am 30. Juni 2020 mündlich verkündete und am 30. September 2020 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W279 2189692-1/22E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl - den Antrag des Revisionswerbers, eines afghanischen Staatsangehörigen aus der Provinz Kapisa, auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

2        In der Niederschrift der mündlichen Verkündung vom 30. Juni 2020 bejahte das BVwG das Vorliegen des geltend gemachten „Fluchtgrundes“, der eine Rückkehr des Revisionswerbers in die Herkunftsprovinz unmöglich mache. Allerdings stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif offen. In der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses vom 30. September 2020 erwog das BVwG hingegen, dass der Revisionswerber keinen Fluchtgrund glaubhaft habe machen können, weshalb ihm kein Asyl zuzuerkennen gewesen sei. Auch subsidiärer Schutz sei wegen Vorhandenseins einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht zu gewähren gewesen.

3        Der Revisionswerber erhob gegen das angefochtene Erkenntnis zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 26. November 2020, E 2636/2020-11, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

4        In der vorliegenden außerordentlichen Revision wird u.a. geltend gemacht, dass die Begründungen des mündlich verkündeten und des schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses wesentlich voneinander abwichen. Einen Begründungsmangel weise das angefochtene Erkenntnis auch insoweit auf, als das BVwG das Vorbringen des Revisionswerbers während der mündlichen Verhandlung, er werde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der weitreichenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie - weil er etwa keine Arbeit und keine Unterkunft finden werde - in eine Art. 3 EMRK widersprechende Situation geraten, bei der Beurteilung der Rückkehrsituation völlig übergangen habe.

5        Zu dieser Revision hat das BFA keine Revisionsbeantwortung erstattet.

6        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7        Die Revision ist zulässig und begründet.

8        Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 20.5.2022, Ra 2020/18/0382, mwN). Für den gegenständlichen Fall bedeutet dies, dass die Entwicklung der Pandemie in den letzten beiden Jahren einerseits und die Umbrüche in den Machtverhältnissen in Afghanistan samt den damit in Zusammenhang stehenden Folgen seit August 2021 andererseits im Revisionsfall keine Beachtung finden können.

9        Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass ein relevanter Begründungsmangel der angefochtenen Entscheidung vorliegt, wenn die Begründung der schriftlichen Ausfertigung in einem wesentlichen Punkt von jener abweicht, die in der Niederschrift zur mündlichen Verkündung dokumentiert ist, sodass nicht nachvollzogen werden kann, welche tragenden Überlegungen tatsächlich für die getroffene Entscheidung ausschlaggebend waren. Demgegenüber liegt allein in einer lediglich ausführlicheren (und nicht der mündlichen Verkündung widersprechenden) Begründung in der schriftlichen Ausfertigung kein Begründungsmangel (vgl. VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558, mwN).

10       Zutreffend macht die Revision geltend, dass die Begründungen des mündlich verkündeten und des schriftlich ausgefertigten Erkenntnisses insoweit wesentlich voneinander abweichen, als einmal das Vorliegen des geltend gemachten Fluchtgrundes bejaht und einmal verneint wird. Daran ändert auch nichts, dass das BVwG in der schriftlichen Ausfertigung letztlich auch von einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Revisionswerber ausgegangen ist. Das BVwG hat das Vorhandensein dieser innerstaatlichen Fluchtalternative nämlich nicht mangelfrei begründet: So hat es zwar diverse Feststellungen zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lage in Afghanistan getroffen; es hält etwa fest, dass in der Stadt Herat 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten könnten und somit kein Einkommen hätten. In der rechtlichen Würdigung geht das BVwG im Zusammenhang mit der Beurteilung, dem Revisionswerber sei eine Ansiedlung in den Städten Herat und Mazar-e Sharif möglich und auch zumutbar, auf die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie jedoch in keiner Weise ein, wenn es dort etwa pauschal annimmt, der Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten sei sowohl in der Stadt Mazar-e Sharif als auch in der Stadt Herat grundsätzlich gegeben. Eine schwierigere Lebenssituation führe nicht zu einer Verletzung der Rechte des Revisionswerbers nach Art. 2 und 3 EMRK; unter „Berücksichtigung der Länderberichte und der persönlichen Situation“ sei nicht zu erkennen, dass der Revisionswerber in eine ausweglose Lebenssituation geraten würde. Die vom BVwG selbst getroffenen Länderfeststellungen lassen jedoch den Schluss des BVwG, dem Revisionswerber stehe in den Städten Herat und Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, nicht ohne Weiteres zu (vgl. etwa VwGH 6.8.2021, Ra 2021/18/0015).

11       Aufgrund dieser wesentlichen Begründungsmängel war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

12       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. März 2023

Schlagworte

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European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021180047.L00

Im RIS seit

13.04.2023

Zuletzt aktualisiert am

13.04.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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