Entscheidungsdatum
08.03.2023Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
NAG 2005 §11 Abs1 Z4Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
gekürzte Ausfertigung
gemäß § 29 Abs. 5 VwGVG
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter Dr. Lukas Diem über 1) die Beschwerde der A. B., geb.: 1981, StA: Iran, vertreten durch Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 22.7.2022, Zl. ..., betreffend die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) sowie die Abweisung mehrerer Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG sowie 2) die Säumnisbeschwerde der A. B., vertreten durch Rechtsanwalt, betreffend das Verfahren des Landeshauptmannes von Wien, Zl. ..., auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 28.11.2022, 16.1.2023 und 16.2.2023
zu Recht e r k a n n t:
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt 1)a) des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen und Spruchpunkt 1)a) des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe bestätigt, dass der Ausdruck „am 12.07.2018“ durch den Ausdruck „durch dessen Ausfolgung am 12.10.2017“ ersetzt wird.
II. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt 2)a) des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen und Spruchpunkt 2)a) des angefochtenen Bescheides mit der Maßgabe bestätigt, dass dieser zu lauten hat: „Ihr Erstantrag vom 4.9.2017 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ wird aufgrund fehlender Familienangehörigeneigenschaft gemäß § 47 Abs. 2 NAG iVm § 2 Abs. 1 Z 9 NAG abgewiesen.“
III. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt 2)b) des angefochtenen Bescheides stattgegeben und Spruchpunkt 2)b) des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufgehoben.
IV. Der nach einvernehmlicher, rechtskräftiger Scheidung auf § 27 NAG gestützte Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 wird mangels eines Aufenthaltstitels, der einer Verlängerung zugänglich ist und aus dem ein Niederlassungsrecht nach § 27 NAG abgeleitet werden kann, gemäß § 24 NAG iVm § 27 Abs. 1 NAG abgewiesen.
V. Gegen Spruchpunkt IV. dieses Erkenntnisses ist die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig. Im Übrigen, also hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III., ist die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Wesentliche Entscheidungsgründe
I. Feststellungen
Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine iranische Staatsangehörige, stellte am 4.9.2017 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG.
Dabei berief sie sich auf die am 30.5.2017 vor dem Standesamt C., Zypern, geschlossene, beim Standesamt Wien-… eingetragene Ehe mit dem österreichischen Staatsbürger D. E..
Am 12.10.2017 folgte die belangte Behörde der BF den beantragten Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeitsdauer von 28.9.2017 bis 28.9.2018 persönlich aus.
Am 20.9.2018 stellte die BF unter Berufung auf ihre Ehe mit Herrn E. einen Verlängerungsantrag auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG.
Herr E. zeigte der Staatsanwaltschaft Wien mit Schreiben vom 8.10.2018 an, dass die Ehe zwischen ihm und der BF eine Aufenthaltsehe sei.
Die Staatsanwaltschaft Wien stellte das nach § 117 FPG geführte Verfahren gegen Herrn E. und gegen die BF wegen des Verdachts des Eingehens einer Aufenthaltsehe gestützt auf § 57 StGB (Verjährung der Strafbarkeit) mit Benachrichtigung vom 1.4.2019, Zl. ..., ein.
Am 7.9.2020 erstattete die Landespolizeidirektion Wien (im Folgenden: LPD Wien), nachdem sie von der belangten Behörde gemäß § 37 Abs. 4 NAG verständigt worden war und in der Folge die BF und Herrn E. einvernommen hatte, einen Abschlussbericht, in dem sie mit näherer Begründung zum Ergebnis kam, dass „es sich bei dieser Ehe eindeutig um eine Zweckehe handelte“.
Die Ehe zwischen der BF und Herrn E. wurde mit Beschluss des Bezirksgerichtes F., Zl. ..., vom 11.5.2021 im Einvernehmen rechtskräftig geschieden.
Die BF gab der belangten Behörde am 5.7.2021 die einvernehmliche Scheidung bekannt. Am 28.9.2021 berief sie sich zudem ausdrücklich auf § 27 NAG.
Am 12.4.2022 brachte die BF eine Säumnisbeschwerde bei der belangten Behörde ein.
Am 1.7.2022 (Eingangsdatum) legte die belangte Behörde die Säumnisbeschwerde dem Verwaltungsgericht Wien vor.
Mit Bescheid vom 22.7.2022, dem rechtsfreundlichen Vertreter der BF am 3.8.2022 zugestellt, nahm die belangte Behörde in Spruchpunkt 1)a) das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren hinsichtlich des Erstantrages vom 4.9.2017 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG wieder auf und wies diesen Antrag in Spruchpunkt 2)a) ab. In Spruchpunkt 2)b) wies sie den Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 bzw. den nach rechtskräftiger Scheidung auf § 27 NAG gestützten „Zweckänderungsantrag“ ab.
Am 29.8.2022 erhob die BF gegen diesen Bescheid bei der belangten Behörde Beschwerde.
Am 14.9.2022 (Eingangsdatum) legte die belangte Behörde die Beschwerde und mit E-Mail vom 12.10.2022 den Bescheid vom 22.7.2022 inkl. Zustellnachweis dem Verwaltungsgericht Wien vor.
Die BF und Herr E. haben sich im Jahr 2000 im Iran kennengelernt. In den folgenden Jahren hielten sie losen Kontakt, wobei sie sich einige Male persönlich getroffen haben. Die BF war bis zum Jahr 2017 zu keinem Zeitpunkt in Österreich wohnhaft; sie hielt sich im Iran und später auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf, wo die BF u.a. in den Jahren 2017 und 2018 erwerbstätig war. Zu keinem Zeitpunkt ist das Verhältnis zwischen der BF und Herrn E. über ein freundschaftliches hinausgegangen. Zu keinem Zeitpunkt führten die BF und Herr E. während der (bloß formal geschlossenen) Ehe ein gemeinsames Familienleben im Sinne einer Wohn-, Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft. Sie trugen nicht zur gemeinsamen Bestreitung ihres Lebensunterhaltes bei, sie führten zu keinem Zeitpunkt ein Intimleben. Eine Wohngemeinschaft bestand lediglich während einiger Wochen in den Jahren 2017 und 2018, als die BF bei Herrn E. in Wien gewohnt hat, wobei sie dabei, sofern sie bei Herrn E. und nicht im Studentenwohnheim gewohnt hat, in getrennten Zimmern geschlafen haben.
II. Beweiswürdigung
Die Feststellungen gründen sich auf den gesamten Akteninhalt (Gerichts- und Behördenakt), die herbeigeschafften Akten der Staatsanwaltschaft Wien und der LPD Wien hinsichtlich Ermittlungen in Bezug auf den Verdacht einer Aufenthaltsehe zwischen der BF und Herrn E.; weiters auf die von Herrn E. dem Verwaltungsgericht Wien übermittelten WhatsApp-Nachrichten im Zeitraum Juni 2015 bis August 2018 sowie auf die Angaben der BF und des Zeugen E. in der mündlichen Verhandlung. Im Einzelnen stützen sich die Feststellungen
- zur Person der BF auf die im Verwaltungsakt einliegende Kopie des Reisepasses der BF
- zur Eheschließung und zur einvernehmlichen Scheidung auf die Heiratsurkunde sowie auf den Beschluss des Bezirksgerichtes F. vom 11.5.2021
- zum Erstantrag vom 4.7.2017 sowie zur Erteilung des Aufenthaltstitels und zu dessen Ausfolgung auf den im Verwaltungsakt einliegenden Antrag der BF, einen vom Verwaltungsgericht Wien eingeholten Auszug aus dem Fremdenregister sowie auf die im Akt einliegende Dokumentation, dass die BF den Bescheid am 12.10.2017 übernommen hat
- zum Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 auf den im Verwaltungsakt einliegenden Antrag der BF
- zur Einstellung des nach § 117 FPG geführten Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Wien auf die entsprechende Benachrichtigung vom 1.4.2019, die u.a. im Akt belangten Behörde sowie der LPD Wien enthalten ist
- zur Bekanntgabe der einvernehmlichen Scheidung sowie zur Berufung auf § 27 NAG auf die entsprechenden an die belangte Behörde adressierten E-Mails des rechtsfreundlichen Vertreters der BF
- zur Säumnisbeschwerde der BF auf die Säumnisbeschwerde sowie auf die aktenmäßige Dokumentation im Verwaltungsakt der belangten Behörde
- zur Vorlage der Säumnisbeschwerde auf die verwaltungsgerichtliche Dokumentation der Vorlage
- zum Bescheid der belangten Behörde vom 22.7.2022 sowie dessen Zustellung an den rechtsfreundlichen Vertreter auf den Bescheid bzw. den entsprechenden Zustellnachweis
- zur Bescheidbeschwerde vom 29.8.2022 auf die per E-Mail bei der belangten Behörde eingebrachte Bescheidbeschwerde
- zur Vorlage der Bescheidbeschwerde auf die verwaltungsgerichtliche Dokumentation der Vorlage
- zum persönlichen Verhältnis zwischen der BF und Herrn E., soweit sie das Kennenlernen und den Kontakt in den nachfolgenden Jahren vor der Hochzeit betreffen, auf die übereinstimmenden Aussagen der BF und Herrn E..
- dazu, dass es sich bei der zwischen der BF und Herrn E. geschlossenen Ehe um keine echte Ehe im Sinne eines gemeinsamen Familienlebens gehandelt hat, auf die (bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren) auszugsweise vorgelegten WhatsApp-Unterhaltungen zwischen der BF und Herrn E. in den Jahren 2017 und 2018 sowie auf die (im verwaltungsgerichtlichen Verfahren) über einen bloßen Auszug hinausgehenden vorgelegten WhatsApp-Unterhaltungen zwischen der BF und Herrn E. in den Jahren 2015 bis 2018; weiters auf deren Aussagen im Zuge der Einvernahme durch die LPD Wien und insbesondere auf deren Aussagen in der mündlichen Verhandlung. Dazu im Einzelnen:
Herr E. hat im Verfahren sowohl der Staatsanwaltschaft Wien als auch der belangten Behörde Kopien bzw. Screenshots von (ausgewählten) Unterhaltungen zwischen ihm und der BF aus den Jahren 2017 und 2018 übermittelt, die diese über WhatsApp geführt haben. Über diese Auszüge hinausgehend hat Herr E., nachdem ihm das Verwaltungsgericht Wien die Vorlage – aufgrund des erst am Ende des zweiten Verhandlungstermins vom Vertreter der BF gestellten Beweisantrages – aufgetragen hatte, Unterhaltungen zwischen ihm und der BF aus den Jahren 2015 bis 2018 auf über 220 A4-Seiten vorgelegt. Dass diese (im Folgenden näher darzulegenden) Nachrichten von ihnen stammen, hat die BF in der mündlichen Verhandlung auf entsprechende Nachfrage nicht bestritten. Aus diesen Nachrichten geht zunächst hervor, dass bereits der gemeinsame Entschluss zur Eheschließung eine Aufenthaltsehe zum Ausdruck bringt. Die BF hat am 26.2.2017 Herrn E. unvermittelt über WhatsApp gefragt, ob dieser sie heiraten wolle, wobei sie unmittelbar danach ausgeführt hat, dass sie aufgrund der jüngsten Veränderungen vielfältigen Problemen in der Arbeit (Anmerkung: in den Vereinigten Arabischen Emiraten) ausgesetzt sei; Iranerin zu sein, sei großartig und toll, aber mit vielen Problemen verbunden. Gleichzeitig bat sie Herrn E., dass dieses Geheimnis unter ihnen bleiben solle; ihre Mutter würde zuerst sie, dann ihn umbringen, wenn sie das herausfinden würde, wobei sie dieser Nachricht ein „Zwinkersmiley“ beigefügt hat. Er antwortete, dass es eine Ehre sei, dass sie ihn fragen würde; einige Minuten später schrieb er, dass er sie das bereits so viele Jahre zuvor fragen wollte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hätten. In diesem Zusammenhang führte die BF weiters aus, dass es jemanden in der Schweiz geben würde, den sie [Anm.: wer mit „they“ gemeint ist, geht aus der Nachricht nicht hervor] ihr seit Jahren aufschwatzen wollten; zudem, dass sie das diskret und professionell halten wolle und dass sie nie gefragt hätte, wenn sie nicht so vielen Problemen ausgesetzt wäre. Außerdem müsse sie wissen, wie das Prozedere aussehe; sie habe keine Ahnung, was gemacht werden müsse (AS 165, 167). Wenn die BF in der mündlichen Verhandlung (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 4) darauf angesprochen behauptet, dass es sich dabei um scherzhafte Nachrichten gehandelt habe (und Herr E. der BF bereits im Sommer 2015 einen Heiratsantrag gemacht habe; dazu sogleich), so erachtet dies das Verwaltungsgericht Wien für gänzlich unplausibel: Anzeichen dafür, dass die Nachrichten ihrem gesamten Inhalt nach scherzhaft gemeint sein könnten, geht aus diesen nicht hervor. Insbesondere anhand der vollständig vorgelegten Unterhaltungen ist ersichtlich, dass die BF ihre Frage mit der Wendung „Ich habe die komischste Frage des Jahres 2017 an dich“ („I have the weirdest question of 2017 from you“) einleitet und diese Frage beiläufig stellt, während sie sich darüber unterhalten, dass die BF nach wie vor Probleme habe, einen „bounced cheque“ (in Höhe von 1,4 Millionen Dirham, umgerechnet ca. 350.000 Euro, wie die BF einen Monat zuvor erzählt hatte) einzulösen. Wenn die BF diesbezüglich auf das „Zwinkersmiley“ abstellt, so bezieht sich dieser offensichtlich nur darauf, dass die Mutter der BF zuerst sie, dann ihn „killen“ würde, wenn sie davon erfahren würde. Das Verwaltungsgericht Wien hegt daher keine Zweifel, dass bereits diese am 26.2.2017 an Herrn E. adressierten Nachrichten der BF die Motivation der BF zur Eheschließung zum Schein zum Ausdruck bringen.
Das Verwaltungsgericht Wien hält es nicht für glaubwürdig, dass die BF Herrn E., wie von ihr in der mündlichen Verhandlung (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 3; sowie vom 16.1.2023, S 4 f.) behauptet, zum ersten Mal im Sommer 2015 auf seine Initiative hin – nachdem er sie kurz zuvor vom Flughafen abgeholte habe – in den Weinfeldern in Wien nach dem Mittagessen in einem dortigen Lokal geküsst und dass dieser ihr beim Spaziergang durch die Weinfelder am selben Tag einen Heiratsantrag gemacht habe. Dies erscheint nicht nur in zeitlicher Hinsicht (1. Kuss nach dem Mittagessen – Heiratsantrag bereits wenige Stunden später) wenig plausibel (wenngleich dies an sich nicht gänzlich ausgeschlossen wäre), sondern auch hinsichtlich der geschilderten Umstände: Die BF gab beim zweiten Verhandlungstermin an, dass ihre Freundin, die sie bei dieser Reise begleitet habe, sowohl beim ersten Kuss als auch beim Heiratsantrag dabei gewesen sei (VH-Protokoll vom 16.1.2023, S 4). Auch wenn dies nicht gänzlich undenkbar ist, erscheint das für das Verwaltungsgericht Wien zumindest wenig plausibel. Insbesondere aber ist die Schilderung der BF zu diesem behaupteten Ereignis in einem Aspekt widersprüchlich: Während sie zunächst angegeben hatte, dass sie mit der Annäherung von Herrn E. nicht gerechnet hätte (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 3), gab sie später an, dass sie ein Näherkommen erwartet hätte (VH-Protokoll vom 16.1.2023, S 5). Weiters ist zu berücksichtigen, dass die BF der eigentlich gestellten Frage in diesem Zusammenhang ausgewichen ist (Frage nach erstem intimen Kontakt – Antwort mit angeblichem Heiratsantrag), die überschwänglich formulierte Antwort im Hinblick auf den ersten Kuss „gespielt“ gewirkt hat („Ich habe nicht damit gerechnet. Ich war vor Freude und Glück überwältigt.“) und zudem mit den bereits erwähnten und im Folgenden zu erörternden Chatnachrichten von ihr (zB „hätte nie [nach Heirat] gefragt, wenn ich nicht so große Probleme hätte“; „anstatt eine gute Zeit während der Tage, die ich hier bin, miteinander in einer nicht-sexuellen Weise zu verbringen“; „du hast von Beginn an alles anders geplant; wolltest nur in meine Unterhose“) keineswegs in Einklang zu bringen ist. Darüber hinaus hat Herr E. vorgebracht, wobei der Vertreter der BF im Hinblick auf diese Aussage auf eine erneute Zeugeneinvernahme verzichtet hat, angegeben, dass er zu dieser Zeit bei diesem Aufenthalt der BF mit einer Freundin in Wien (dass es diesen Aufenthalt gegeben hat, hält das Verwaltungsgericht Wien für plausibel) beim feucht-fröhlichen Zusammensein in einem Lokal in Wien (G., Wien) – entsprechend seinem langjährigen Wunsch – geäußert habe, dass er die BF so gerne als Frau haben würde, wobei er ebenso glaubwürdig dargelegt hat, dass dies von der BF keinesfalls als Heiratsantrag verstanden worden sei, da sie weder unmittelbar danach noch in der darauffolgenden Zeit auf diese Bemerkung eingegangen sei.
Dass es sich um eine Aufenthaltsehe gehandelt hat, stützt sich auch wesentlich auf die glaubwürdigen Schilderungen des Herrn E., die dieser im Verfahren, insbesondere als Zeuge in der mündlichen Verhandlung (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 6 ff.), widerspruchsfrei und gleichbleibend vorgebracht hat: Dieser hat ausgesagt, dass er mit der BF kein einziges Mal Geschlechtsverkehr gehabt und diese nur einmal bei der Hochzeit auf den Mund geküsst habe. Weiters hat er auch glaubwürdig vorgebracht, dass er schon seit Längerem an einer echten, langfristigen Beziehung mit der BF interessiert gewesen sei. Er sei die von Beginn an als Scheinehe intendierte Ehe deswegen eingegangen, weil er die Hoffnung gehabt habe, dass sich mit der Zeit eine echte Ehe entwickeln würde. Es sei vereinbart gewesen, dass die BF immer wieder Zeiten in Österreich bei ihm verbringe und dabei habe er gehofft, dass sich bei diesen Begegnungen eine echte Ehe entwickeln könnte. Als die BF, nachdem sie in Summe lediglich wenige Wochen in den Jahren 2017 und 2018 bei ihm in Wien (ohne dass sie in einem gemeinsamen Bett geschlafen hätten) gewohnt hätte, im Mai 2018 endgültig die gemeinsame Wohnung verlassen habe, habe er erkannt, dass sein Traum einer echten Ehe nicht in Erfüllung gehen würde.
Diese Aussagen des Herrn E. decken sich auch mit den vorgelegten Chatnachrichten: In diesen Chats hat er zB die BF in einer Nachricht am 15.8.2018 auf die „unterschiedlichen Erwartungen und Hoffnungen“ und auf die Tatsache einer „nunmehr gänzlichen“ (damit meinte Herr E., wie er in der Verhandlung nachvollziehbar ausgesagt hat, dass die BF bis zum Mai 2018 immerhin für wenige Wochen bei ihm gewohnt habe, aber nachdem sie endgültig ausgezogen sei, sei ihm klar geworden, dass sein Traum einer echten Beziehung nicht mehr erreichbar sei und es sich daher um eine – „nunmehr gänzliche“ – Scheinehe handle) Scheinehe angesprochen, wobei sie dies in ihrer Antwort gar nicht bestreitet, sondern lediglich ausführt, dass sie nicht verstehe, wie er zu diesen „irrelevanten Angelegenheiten“ komme, und gleichzeitig fordert, was stattdessen gemacht werden müsse, wie etwa den Aufenthaltstitel erneuern (AS 169).
Wesentliche Bedeutung misst das Verwaltungsgericht Wien dem Umstand bei, dass die BF in den vorgelegten WhatsApp-Nachrichten immer wieder von einer Vereinbarung („last year when we agreed on something together“; AS 173) bzw. einem Deal („We made a deal and an arrangement last year together“, AS 211 = AS 1043) spricht, wobei damit unzweifelhaft das Eingehen der Scheinehe gemeint ist, zumal auch die Zeitangaben dazu passen (Nachricht vom 26.2.2017: Heiratsanfrage via WhatsApp – 2018: „deal last year“). Insbesondere anhand der zuletzt genannten Nachricht der BF vom 28.5.2018 ist ersichtlich, dass es sich, wie Herr E. vorgebracht hat, nur um eine zum Schein geschlossene Ehe gehandelt hat: Nachdem die BF den „deal“ bzw. das „arrangement“ von letztem Jahr erwähnt hatte, führt sie aus, dass sie sich im Gegensatz zu ihm an den Deal gehalten habe. Vielmehr hätte er von Beginn an alles ganz anders geplant, nämlich von Anfang an hätte er, weil er sie attraktiv und erfolgreich gefunden habe, Sex mit ihr gewollt. Weiters wirft sie ihm vor, dass er ein sexuelles Interesse an ihr habe, anstatt eine gute Zeit während der Tage, die sie hier sei, miteinander in einer nicht-sexuellen Weise zu verbringen. Wenn dies nicht möglich sei, dann sei er nicht die Person und der Freund, für die bzw. den sie ihn gehalten habe.
Auch mit der Erklärung, die die BF angesprochen auf diese Nachricht in der mündlichen Verhandlung geliefert hat (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 5), gelingt es ihr nicht, den Eindruck einer Scheinehe zu entkräften, der mit dieser Nachricht entstanden ist: Diese Nachricht stünde im Zusammenhang damit, dass sie es nicht ertragen habe, dass er noch mit seiner Ex-Frau zusammen sei und dennoch Sex mit ihr haben wolle. Dies ist bereits deshalb nicht plausibel, weil sich die BF u.a. darüber beschwert, dass Herr E. von Anfang an alles anders geplant hätte, und sich bei diesem darüber beklagt, dass er ein sexuelles Interesse an ihr habe, anstatt eine gute Zeit miteinander in freundschaftlicher Weise („non-sexual way“) zu verbringen, wenn sie bei ihm sei. Spezifisch nach dem „Deal“ gefragt, an den sie sich gehalten hätte, Herr E. jedoch nicht, gab sie in der Verhandlung an, dass dieser darin bestanden habe, dass die Ex-Frau nicht mehr in die Wohnung kommen dürfe und die Kinder nicht mehr bei ihnen wohnen sollten. Dies ist nicht nur im Kontext dieser Nachricht nicht plausibel, sondern erscheint auch im Hinblick auf ihre Antwort in der Verhandlung keineswegs glaubwürdig, da sie dort bejaht hat, dass es sich um einen einseitigen Deal gehandelt habe, wenngleich in der Chatnachricht eindeutig von einer zweiseitigen Vereinbarung die Rede ist. Auch in den nach dem zweiten Verhandlungstermin vorgelegten WhatsApp-Nachrichten findet die Behauptung der BF, wonach die Ex-Frau des Herrn E. Probleme in eine ansonsten intakte eheliche Beziehung gebracht hätte, mangels entsprechender in diese Richtung gehender Nachrichten keine Deckung.
Ganz wesentlich gegen diese Deutung des „Deals“ sprechen auch die nach dem zweiten Verhandlungstermin vorgelegten WhatsApp-Nachrichten: Am 2.6.2017, also bereits wenige Tage nach der erfolgten Heirat und bevor die BF nach Österreich zu Herrn E. gekommen ist, schreibt Herr E., dass für ihn, wenn er 17 Jahre zurück denke, wirklich ein Traum in Erfüllung gegangen sei, woraufhin sie entgegnet: „In diesem Fall ist er 17 Jahre später unter bestimmten Konditionen und Bedingungen in Erfüllung gegangen“ („In that case it came true then only 17 years after certain terms and conditions“). Darauf antwortet Herr E., dass er das nicht vergessen habe. Daraus schließt das Verwaltungsgericht, dass es sich bei dem Deal, wie von Herrn E. auch vorgebracht, um den Deal einer zum Schein geschlossenen Ehe handelt.
Dass es sich bloß um eine zum Schein geschlossene Ehe handelt, wird auch an einer Unterhaltung vom 13.8.2018 ersichtlich (AS 209), im Zuge derer die BF Herrn E. schreibt, dass er sich verändert habe und „unseren Plan“ verändert habe. Für sie sei von Beginn an alles „klar und sauber“ gewesen („for me everything was clean and clear from the beginning“). Entweder sie würden den Weg, den sie zu Beginn eingeschlagen hätten, fortführen oder er solle etwas Besseres vorschlagen. Wenn die BF darauf angesprochen in der mündlichen Verhandlung ausführt, dass sich diese Wendung („clean and clear from the beginning“) darauf beziehe, dass schlicht ein normales Liebesleben geplant gewesen sei (VH-Protokoll vom 16.1.2023, S 3 f.), so deckt sich dies insbesondere mit der zuvor erwähnten Chat-Nachricht, in der die BF Herrn E. kurz nach der Hochzeit daran erinnert, dass sein Traum (einer Heirat) nun „unter bestimmten Konditionen und Bedingungen“ in Erfüllung gegangen sei, keinesfalls. Diese Aussage der BF vom 13.8.2018 ist vielmehr in dem Licht zu sehen, dass Herr E. – wie von ihm geschildert – versucht hat, sich der BF anzunähern, was für sie nicht mit deren ursprünglichem Plan (einer zum Schein bestehenden Ehe) vereinbar war.
An anderer Stelle moniert die BF in einer Nachricht (vom 26.6.2018), dass sich Herr E. (zu einem Zeitpunkt, als sie sich in Österreich aufgehalten hat) in ihrer Sprachschule als ihr Ehemann ausgegeben habe („Why did you say your my husband???“, AS 175). Auf Nachfrage des Verhandlungsleiters in der mündlichen Verhandlung, weshalb sich der Ehemann anderen Personen gegenüber nicht als Ehemann zu erkennen geben sollte, antwortete sie lediglich ausweichend, dass sie sehr glücklich gewesen sei, als Herr E. sie im Jahr 2015 gefragt habe, ob sie ihn heiraten wolle (dass diese Behauptung nicht als glaubwürdig eingestuft wird, siehe bereits oben). Auch auf nochmaliges Nachfragen gab sie keine Antwort auf die gestellte Frage, sondern erklärte, dass das Problem darin bestünde, dass die Ex-Frau des Herrn E. und dessen zwei Söhne bei ihm gewohnt hätten, und dass er ihr, auch wenn sie gemeinsam gewohnt hätten, überall hin gefolgt wäre. Die Frage, weshalb sich ein Ehemann anderen Personen nicht als Ehemann zu erkennen geben solle, hat die BF hingegen nicht beantwortet. Auch dieser Umstand spricht wesentlich für eine lediglich zum Schein geschlossene Ehe, da für das Verwaltungsgericht Wien kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich ist, weshalb in einer echten Ehe (im Gegensatz zu einer Scheinehe, die – wie die BF in ihrer Nachricht vom Februar 2017 selbst angibt – möglichst geheim gehalten werden soll) der Ehemann sich anderen Personen gegenüber nicht als solcher zu erkennen geben sollte.
Auch die Behauptung der BF, dass sie erst in Wien von der Existenz der Ex-Frau von Frau E. erfahren habe (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 10), erweist sich mit Blick auf die vorgelegte WhatsApp-Unterhaltung als unrichtig: Am 23.6.2017 und am 6.7.2017 – also zu Zeitpunkten, in denen die BF noch nicht in Österreich gewesen ist – spricht Herr E. ausdrücklich von seiner Ex-Ehefrau. Auch dies spiegelt die Unglaubwürdigkeit der Aussagen der BF in wesentlichen Aspekten wider.
Anhand der von Herrn E. vorgelegten Chat-Nachrichten mit der BF sowie anhand von diesem vorgelegten Fotos einer WhatsApp-Konversationen einer Person mit einem „H. M.S.“ (ON 52), in der auch „Selfie-Fotos“ der BF an diese Person geschickt wurden, geht das Verwaltungsgericht Wien darüber hinaus davon aus, dass die BF während der (formal) aufrechten Ehe entgegen ihrer Beteuerung in der mündlichen Verhandlung sehr wohl eine intime Beziehung mit einer anderen Person, Herr H. I., gehabt hat, so wie dies Herr E. auch geschildert hat. Die BF hat in der Verhandlung abgestritten, dass ihr dieser Name etwas sage (VH-Protokoll vom 16.1.2023, S 4). Dies erscheint aber insofern unglaubwürdig, als in einer WhatsApp-Nachricht der BF vom 18.2.2018 an Herrn E. der Name „H. I.“ auftaucht. In den Chat-Nachrichten ist zudem ersichtlich, wie die BF am 20.2.2018 Herrn E. eine Bild-Datei mit der Frage übermittelt, was das sei (Anmerkung: eine abweisende Entscheidung betreffend Herrn I. auf Erteilung eines Visums). Er antwortet um 14:28 Uhr, das sei eine ablehnende Visum-Entscheidung. Auf die Frage der BF, wie dagegen vorgegangen werden könne, antwortet er: „Es ist knifflig, im Grunde gibt es die Möglichkeit, beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde einzulegen, aber es gibt kein ‚Recht‘ auf ein Visum, selbst wenn die Kriterien erfüllt sind, und man weiß nicht, welches Schengen-Land das Visum abgelehnt hat. Es könnte auch ein anderes Land als Österreich sein.“ Auf dem Foto der WhatsApp-Konversation mit „H. M.S.“ wird um 14:50 Uhr die wortidente (!) Nachricht hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit an „H. M.S.“ übermittelt, woraufhin diese Person antwortet: „Mach dir keine Sorgen, Baby.“ Von einer Unterhaltung vom 22.2.2018 sieht man zudem ein „Selfie-Foto“ der BF aus einem Flugzeug, das um 14:26 Uhr an „H. M.S.“ mit der Nachricht übermittelt wird: „Ich komme zu dir!!!“. Dieser antwortet: „Komm, Baby“. Dass die BF am 22.2.2018 mit dem Flugzeug gereist ist, ist im Übrigen aus einer Nachricht der BF an Herrn E. ersichtlich, in der sie am 22.2.2018 um 13:53 Uhr mitteilt, dass die „Boarding“-Ansage gerade gekommen sei.
Das Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft wurde weder von Herrn E. noch von der BF behauptet. Diese gab in der Verhandlung lediglich an, dass Herr E. zu Beginn, als es schön gewesen sei, für alles bezahlt habe. Daraus ist aber lediglich erkennbar, dass – wie Herr E. als Zeuge dargelegt hat – er sie nur zum Kaffeetrinken eingeladen habe, aber zu keinem Zeitpunkt eine Wirtschaftsgemeinschaft bestanden habe.
Auch ist die BF der Aussage Herrn E.s, wonach in Summe lediglich für einige Wochen ein gemeinsamer Wohnsitz in Wien bestanden habe (nämlich von Ende September 2017 bis Mitte November 2017 ca. 6,5 Wochen, zwei Wochen im Februar 2018 und sechs Tage im Mai 2018; siehe Aufstellung Akt LPD Wien), nicht entgegengetreten (und dies findet zudem in den Chatnachrichten Deckung). Damit konfrontiert gab sie in der Verhandlung zögerlich und in der Folge lediglich an, dass sie zu diesem Zweck einen Kalender benötigen würde (VH-Protokoll vom 16.1.2023, S 3).
Bezüglich der Frage, ob in diesen wenigen Wochen im gemeinsamen Bett übernachtet wurde, folgt das Verwaltungsgericht Wien der Aussage Herrn E.s, wonach dieser und die BF in getrennten Betten geschlafen hätten (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 7), zumal bereits die Angabe der BF, wonach die Wohnung nur aus einem Zimmer bestanden habe (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 6), nicht mit dem im Verwaltungsakt einliegenden Grundriss der Wohnung sowie der Beschreibung im einliegenden Mietvertrag übereinstimmt (Verwaltungsakt bezüglich Antrag vom 4.9.2017). Aus diesen geht vielmehr hervor, dass die Wohnung, wie von Herrn E. beschrieben, neben zwei Zimmern auch eine kleine Kammer aufweist, in der er – so seine glaubwürdige Aussage – allein geschlafen habe.
Auch wenn das Verwaltungsgericht Wien keine Zweifel hat, dass die BF und Herr E. (früher) lose befreundet waren und sich auch während der (formal) bestehenden Ehe zeitweise in der gleichen Wohnung aufgehalten haben und dabei auch hin und wieder gemeinsame Unternehmungen in Wien und Umgebung im Beisein der Kinder des Herrn E. (aus erster Ehe) unternommen haben, so hält es das Verwaltungsgericht Wien für ausgeschlossen, dass eine echte Ehe zwischen den beiden mit einem gemeinsamen Familienleben bestanden hat.
Aufgrund dieser – hier lediglich exemplarisch erwähnten – Umstände, die eine Aufenthaltsehe eindeutig belegen (es könnten noch zahlreiche weitere Aspekte hierfür angeführt werden), erachtet das Verwaltungsgericht Wien die vorgebrachte Version der BF, wonach die Ehe zwar echt, aber aufgrund des großen Einflusses der Ex-Frau von Herrn E. und der ständigen Anwesenheit der Kinder des BF in dessen Wohnung nur für kurze Zeit glücklich gewesen sei, in keiner Weise für plausibel. Die bereits erwähnten Chat-Nachrichten und die glaubwürdigen Aussagen des Herrn E. stehen dem entgegen, zumal die BF in der mündlichen Verhandlung den Eindruck, der durch die vorgelegten Nachrichten entstanden ist, mit ihren Erklärungen nicht entkräften konnte. Zudem ist weder die wegen Verjährung erfolgte Einstellung des wegen des Verdachts einer Aufenthaltsehe geführten Strafverfahrens noch die schlussendlich einvernehmlich erfolgte Scheidung geeignet, das Bestehen einer echten Ehe zu belegen, zumal Herr E. auch nachvollziehbar darlegen konnte, weshalb er im Ergebnis der einvernehmlichen Scheidung zugestimmt hat (finanzielle Belastung; wollte, dass die Angelegenheit beendet ist).
An diesem Beweisergebnis ändert auch nichts, dass die BF nach eigenen Angaben (ob dies zutrifft, kann dahingestellt bleiben) vor der Eheschließung nicht wusste, dass Herr E. Kinder hatte und Zeit mit diesen und seiner Ex-Ehefrau verbringt und dass dies bei der (lediglich einige Wochen in Summe bestehenden) gemeinsamen Wohnsitznahme zu Konflikten geführt hat.
Auch aus welchen Motiven die BF die festgestellte Aufenthaltsehe angestrebt hat, hält das Verwaltungsgericht Wien im Ergebnis nicht für ausschlaggebend für die Qualifikation der Ehe als Aufenthaltsehe (da es lediglich darauf ankommt, ob eine Wirtschafts-, Wohn- und Geschlechtsgemeinschaft besteht, wobei keines dieser Elemente jemals bestanden hatte mit Ausnahme einer kurzen gemeinsamen Wohnsitznahme). Entgegen dem Vorbringen des Vertreters der BF, wonach es „hochgradig absurd“ sei, dass die BF den Plan verfolgt habe, mithilfe der Ehe einen Aufenthaltstitel zu erlangen, hält dies das Verwaltungsgericht Wien für sehr realistisch. Ein solcher Eindruck entsteht bei der Lektüre der vorgelegten Chatnachrichten – siehe etwa die Nachrichten der BF anlässlich des „Heiratsantrages“ vom 26.2.2017 bzw. der Nachricht vom 4.8.2018: „Ich hatte einen Plan von Tag eins an, D.: Mich für die Zukunft abzusichern!“ („I had one plan from day one D.. Securing myself for future!“) – und deckt sich darüber hinaus auch mit der schlüssigen und widerspruchsfreien Aussage von Herrn E. als Zeugen.
Auch ein behauptetes „Rachemotiv“ des Herrn E. (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 5: „Er konnte es nicht ertragen, dass ich ihn verlassen habe. Aus diesem Grund stellt er all diese Behauptungen auf.“), das Ausdruck darin finde, dass die vorgelegten Informationen unrichtig bzw. aufgrund der selektiven Vorlage ein falsches Bild erwecken würden (aaO), hält das Verwaltungsgericht Wien im Hinblick auf die von sich aus offen angesprochenen Motive des Herrn E. in Bezug auf die erfolgte Eheschließung nicht für plausibel. Außerdem konnte er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft darlegen, weshalb er der Staatsanwaltschaft Wien die Chatprotokolle übermittelt hat, nämlich, weil er dadurch gehofft habe, durch eine Selbstanzeige straffrei zu bleiben; weiters, weil er darin eine Möglichkeit sah, im Hinblick auf eine Nichtigerklärung der Ehe das „Verschulden“ der BF am Scheitern der Ehe zu belegen. Zudem deckt sich seine grundlegende Aussage (es sei keine echte Ehe gewesen; er habe aber gehofft, dass sich eine echte Beziehung entwickle; als sie ausgezogen sei, habe er realisiert, dass sein Traum einer Beziehung nicht in Erfüllung gehen würde) auch mit den vorgelegten Chatnachrichten, sodass eine fälschlich behauptete Scheinehe aus Rachemotiven für das Verwaltungsgericht Wien nicht erkennbar ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass Herr E. im Verfahren den Behörden auch angeboten hat, sein Mobiltelefon, auf dem diese Nachrichten empfangen worden seien, im Original zwecks weitergehender Auswertungen zur Verfügung zu stellen (AS 665) und diese Nachrichten – aufgrund des Beweisantrages der BF – auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren übermittelt hat: Auf diesen insg. über 220 A4-Seiten konnte das Verwaltungsgericht keine Belege dafür finden, dass Herr E., wie von der BF behauptet, „all die Liebesnachrichten“ (VH-Protokoll vom 28.11.2022, S 4) unterschlagen hätte. Vielmehr decken sich diese Nachrichten mit seinem glaubwürdigen Vorbringen.
Im Ergebnis ist das Verwaltungsgericht Wien aufgrund des durchgeführten Beweisverfahrens überzeugt, dass die BF und Herr E. zu keinem Zeitpunkt eine echte Ehe geführt haben.
III. Rechtliche Beurteilung
1. Zu Spruchpunkt I.
In Spruchpunkt 1)a) hat die belangte Behörde das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren im Hinblick auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ aufgrund des Erstantrages vom 4.9.2017 gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm § 69 Abs. 3 AVG amtswegig wiederaufgenommen und ausgesprochen, dass das Verfahren wieder in den Stand zurücktritt, in dem es sich vor Erteilung des Aufenthaltstitels am 12.7.2018 (richtig: 12.10.2017) befunden hat.
Gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren wiederaufzunehmen, wenn der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, durch falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist. Unter diesen Voraussetzungen kann gemäß § 69 Abs. 3 AVG die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes liegt ein „Erschleichen“ eines Bescheides iSd § 69 Abs. 1 Z 1 AVG dann vor, wenn dieser in einer Art zustande gekommen ist, dass die Partei gegenüber der Behörde objektiv unrichtige Angaben von wesentlicher Bedeutung mit Irreführungsabsicht gemacht hat und die Angaben dann der Entscheidung zugrunde gelegt wurden, wobei die Verschweigung maßgeblicher Umstände dem Vorbringen unrichtiger Angaben gleichzusetzen ist. Zudem erfordert ein „Erschleichen“, dass die Behörde auf die Angaben der Partei angewiesen ist und ihr nicht zugemutet werden kann, von Amts wegen noch weitere Ermittlungen durchzuführen. Von einem „Erschleichen“ kann daher nicht gesprochen werden, wenn die Behörde es verabsäumt hat, von den ihr ohne besondere Schwierigkeiten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Sachverhaltsermittlung Gebrauch zu machen. Dem betreffenden Verfahren darf also kein ein „Erschleichen“ ausschließender relevanter Ermittlungsmangel hinsichtlich des Verdachts des Vorliegens einer Aufenthaltsehe anhaften (vgl. statt vieler jüngst etwa VwGH 14.10.2022, Ra 2018/22/0227 mwN).
Diese Voraussetzungen sind im Fall des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens aufgrund des gegenständlichen Erstantrages vom 4.9.2017 gegeben:
Die BF hat sich vor der belangten Behörde auf das Eingehen einer Ehe mit D. E. berufen, obwohl ein Eheleben iSd Art. 8 EMRK zu keinem Zeitpunkt geführt wurde. Es liegt somit eine Aufenthaltsehe im Sinn des § 30 Abs. 1 NAG vor (vgl. statt vieler VwGH 27.4.2022, Ra 2021/22/0052, wonach der Tatbestand des § 30 Abs. 1 NAG nicht erfordert, dass die Ehe – quasi in Missbrauchsabsicht – zu dem Zweck geschlossen wurde, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, sondern dass zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde oder des Verwaltungsgerichtes kein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK [mehr] geführt wird). Dieser Annahme steht auch nicht entgegen, dass das nach § 117 FPG geführte Verfahren gestützt auf § 57 StGB eingestellt und somit das Strafverfahren nicht mit einer Verurteilung geendet hat (siehe etwa VwGH 8.11.2018, Ra 2018/22/0041; auch die Tatsache der einvernehmlichen Scheidung entfaltet in dieser Hinsicht keine Bindung). Der belangten Behörde lagen zum Zeitpunkt der Erteilung des Aufenthaltstitels keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich um eine Aufenthaltsehe handeln könnte. Es konnte ihr folglich nicht zugemutet werden, amtswegig weitere Ermittlungen in Bezug auf das hypothetische Vorliegen einer Aufenthaltsehe zu führen.
Die Voraussetzungen des Wiederaufnahmegrundes nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG hinsichtlich des Erstantrages vom 4.9.2017 liegen somit vor. Die belangte Behörde hat somit zu Recht dieses Verfahren amtswegig wiederaufgenommen. Die Beschwerde ist daher in dieser Hinsicht als unbegründet abzuweisen, wobei hinsichtlich des offensichtlich falsch angegebenen Bescheiddatums (12.10.2017 anstatt 12.7.2018) in Bezug auf den Ausspruch, dass das Verfahren in den Stand zurücktritt, in dem es sich vor Erteilung des Aufenthaltstitels durch dessen tatsächliche Ausfolgung (vgl. VwGH 15.12.2015, Ra 2015/22/0125, wonach erst mit tatsächlicher Ausfolgung die Bescheidwirkungen eintreten) befunden hat, eine entsprechende Spruchkorrektur vorzunehmen ist.
2. Zu Spruchpunkt II.
In dem wiederaufgenommenen Verfahren hinsichtlich des Erstantrages vom 4.9.2017 hat die belangte Behörde den Antrag der BF auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ abgewiesen. Dabei hat sie sich auf § 11 Abs. 1 Z 4 NAG iVm § 30 Abs. 1 NAG gestützt.
Der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG kann nur während des Bestehens einer Aufenthaltsehe herangezogen werden, wobei es dafür auf den Zeitpunkt der Entscheidung im (hier) wiederaufgenommenen Verfahren ankommt (vgl. etwa VwGH 22.4.2021, Ra 2020/22/0237 mwN).
Unstrittig wurde die (formal bestehende) Ehe zwischen der BF und Herrn E. aber mit Beschluss des Bezirksgerichtes F. vom 11.5.2021 geschieden. Folglich kann die Abweisung des Erstantrages vom 4.9.2017 – nach erfolgter Wiederaufnahme des Verfahrens – aus diesem Grund (Aufenthaltsehe ist bereits geschieden) nicht auf das Vorliegen des allgemeinen Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG gestützt werden. Da die BF jedoch bereits allein aufgrund der Scheidung keine Familienangehörige eines österreichischen Staatsbürgers ist, mangelt es vorliegend an der besonderen Erteilungsvoraussetzung der Familienangehörigeneigenschaft gemäß § 47 Abs. 2 NAG iVm § 2 Abs. 1 Z 9 NAG (vgl. VwGH 22.3.2022 Ra 2022/22/0009).
Da eine besondere Erteilungsvoraussetzung fehlt, ist eine Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK nicht vorzunehmen (siehe VwGH 22.3.2022, Ra 2022/22/0009). Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt 2)a) ist daher mit der genannten Modifikation als unbegründet abzuweisen.
3. Zu Spruchpunkt III.
In Spruchpunkt 2)b) wies die belangte Behörde den Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 bzw. den nach rechtskräftiger Scheidung auf § 27 NAG gestützten „Zweckänderungsantrag“ ab.
Nach Vorlage einer – zulässigen und berechtigten – Säumnisbeschwerde oder nach Ablauf der Nachfrist des § 16 Abs. 1 VwGVG geht die Zuständigkeit, über die betriebene Verwaltungsangelegenheit zu entscheiden, auf das Verwaltungsgericht über (vgl. zB VwGH 27.5.2017, Ra 2015/19/0075).
Auch mit einem nach Vorlage einer zulässigen und begründeten Säumnisbeschwerde bzw. nach Ablauf der Nachfrist gemäß § 16 Abs. 1 VwGVG erlassenen Bescheid hat die Partei zunächst den von ihr mit ihrer Säumnisbeschwerde verfolgten Anspruch auf Entscheidung durchgesetzt, auch wenn dabei eine gesetzliche Bestimmung – nämlich, die zwischenzeitig eingetretene Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zur Entscheidung in der Sache – verletzt wurde. Diese Gesetzesverletzung geltend zu machen, ist in erster Linie der Disposition der Partei überlassen, als ihr die Entscheidung darüber offensteht, ob sie den Bescheid in Rechtskraft erwachsen lässt oder Beschwerde gegen den nachgeholten Bescheid erhebt. Die Gesetzesverletzung ist in dem allfälligen Beschwerdeverfahren vom Verwaltungsgericht zu klären, während das Säumnisbeschwerdeverfahren als Rechtsschutzziel (nur) die Herbeiführung einer Entscheidung in der betreffenden Verwaltungsangelegenheit vor Augen hat und nicht die Richtigkeit der Entscheidung (siehe dazu VwGH 19.9.2017, Ro 2017/20/0001; 20.12.2017, Ro 2017/03/0019).
Wird der verwaltungsbehördliche Bescheid nach Vorlage der Säumnisbeschwerde bzw. nach Ablauf der Nachfrist gemäß § 16 Abs. 1 VwGVG erlassen, ist dieser mit Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde belastet. Diese Rechtswidrigkeit ist im Falle der Erhebung einer Bescheidbeschwerde im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vom Verwaltungsgericht gemäß § 27 VwGVG nicht nur über Einwand des Beschwerdeführers, sondern auch amtswegig wahrzunehmen (vgl. VwGH 19.9.2017, Ro 2017/20/0001).
Die BF brachte am 12.4.2022 eine Säumnisbeschwerde hinsichtlich des (nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützten) Verlängerungsantrages vom 20.9.2018 bei der belangten Behörde ein.
Am 1.7.2022 (Eingangsdatum) legte die belangte Behörde die Säumnisbeschwerde dem Verwaltungsgericht Wien vor.
Mit Bescheid vom 22.7.2022, dem rechtsfreundlichen Vertreter der BF am 3.8.2022 zugestellt, wies die belangte Behörde (u.a.) den Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 bzw. den nach rechtskräftiger Scheidung auf § 27 NAG gestützten „Zweckänderungsantrag“ in Spruchpunkt 2)b) ab.
Gegen diesen Bescheid erhob die BF am 29.8.2022 Beschwerde, die die belangte Behörde dem Verwaltungsgericht Wien am 12.10.2022 vorgelegt hat. In der Beschwerde beantragt die BF unter anderem auch, Spruchpunkt 2)b) mangels Zuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.
Die vorliegende Säumnisbeschwerde ist zulässig und begründet: Die sechsmonatige Frist zur Entscheidung war im Zeitpunkt der Einbringung bei der belangten Behörde bereits abgelaufen. Auch ein überwiegendes Verschulden der Behörde für die Verzögerung ist anzunehmen, da die Behörde die für die zügige Verfahrensführung notwendigen Schritte unterlassen hat bzw. grundlos mit diesen zugewartet hat. Selbst wenn sie entsprechende Ermittlungen hinsichtlich einer Wiederaufnahme des Verfahrens in Bezug auf das Erstantragsverfahren vordergründig durchführen wollte, rechtfertigt dies nicht, dass auch im April 2022 noch keine Entscheidung über den (nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützten) Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 getroffen wurde, zumal etwa der Erhebungsbericht der LPD Wien vom 7.9.2020 der belangten Behörde kurz nach diesem Datum übermittelt wurde.
Da die belangte Behörde über den Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 bzw. nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützten „Zweckänderungsantrag“ nach Vorlage der – zulässigen und begründeten – Säumnisbeschwerde entschieden hat, ist Spruchpunkt 2)b) des angefochtenen Bescheides vom 22.7.2022 mangels Zuständigkeit der belangten Behörde aufgrund der Bescheidbeschwerde vom 29.8.2022 aufzuheben.
4. Zu Spruchpunkt IV.
Wie soeben bei Punkt III.3. dargelegt, hat die belangte Behörde trotz des Zuständigkeitsübergangs aufgrund der Vorlage der – zulässigen und begründeten – Säumnisbeschwerde über den (nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützten) Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 entschieden. Dem Rechtsschutzziel der Säumnisbeschwerde entsprechend wurde damit eine, wenngleich gesetzwidrige Entscheidung in der betreffenden Verwaltungsangelegenheit herbeigeführt. Aufgrund der Beschwerde wurde dieser Spruchpunkt jedoch ersatzlos behoben (siehe Punkt III.3.).
Zu klären ist, ob das Verwaltungsgericht Wien nach ersatzloser Behebung des Spruchpunktes 2)b) des angefochtenen Bescheides vom 22.7.2022 über den (nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützten) Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 zu entscheiden hat:
Infolge einer zulässigen und berechtigten Säumnisbeschwerde geht nach Vorlage derselben oder ungenütztem Ablauf der Nachfrist des § 16 Abs. 1 VwGVG die Zuständigkeit, über die betriebene Verwaltungsangelegenheit zu entscheiden, auf das Verwaltungsgericht über. Gleichzeitig erlischt die Zuständigkeit der Behörde spätestens mit Ablauf der dreimonatigen Nachfrist, die mit dem Einbringungszeitpunkt der – zulässigen und berechtigten – Säumnisbeschwerde zu laufen begonnen hat. Da die nachträgliche Erlassung des die Verwaltungssache erledigenden Bescheides keinen Einfluss auf den bereits erfolgten Zuständigkeitsübergang hat, ändert die allfällige Aufhebung eines nach Zuständigkeitsübergang von der Behörde erlassenen Bescheides in einem nachfolgenden Beschwerdeverfahren ebenso nichts an der einmal eingetretenen Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts für die Entscheidung in der Verwaltungsangelegenheit. Das Verwaltungsgericht ist nach Vorlage der Säumnisbeschwerde bzw. Verstreichen der dreimonatigen Nachfrist zuständig, in der Verwaltungssache (meritorisch) zu entscheiden, ohne dass ein ausdrücklicher Abspruch über die Stattgebung der Säumnisbeschwerde vorzunehmen ist (siehe VwGH 19.9.2017, Ro 2017/20/0001 mwN).
Der die Unzuständigkeit der bescheiderlassenden Behörde begründende Zuständigkeitsübergang tritt unabhängig von einer allfälligen nachträglichen Bescheiderlassung alleine aufgrund der Vorlage der Säumnisbeschwerde bzw. des ungenützten Verstreichens der dreimonatigen Nachholfrist nach Einbringung einer zulässigen und berechtigten Säumnisbeschwerde ein. Er bleibt als Rechtsfolge der Vorlage der Säumnisbeschwerde bzw. des Ablaufs der Nachholfrist aufrecht. Im Falle der Behebung des nachgeholten Bescheides fällt der Zuständigkeitsübergang nicht weg. Im Gegenteil stellt der eingetretene Zuständigkeitsübergang die Begründung für eine allfällige amtswegige Wahrnehmung der Unzuständigkeit der Behörde im Beschwerdeverfahren dar. Die als Rechtsfolge der Ingangsetzung des Fristenlaufs eingetretene Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zur Entscheidung in der Sache ist dem weiteren Beschwerdeverfahren zugrunde zu legen. Eine allfällige Einstellung des Säumnisbeschwerdeverfahrens (wobei diese nach der Systematik des § 16 VwGVG von der Verwaltungsbehörde vorzunehmen ist) ändert daran nichts. Die bereits eingetretene Rechtsfolge des Zuständigkeitsübergangs muss im Verfahren über die Verwaltungsangelegenheit berücksichtigt werden. Der Behörde nach Ablauf der ihr gesetzlich vorgeschriebenen Entscheidungsfrist und nach Vorlage der Säumnisbeschwerde bzw. nach Ablauf durch § 16 Abs. 1 VwGVG eingeräumten Nachholfrist eine neuerliche Zuständigkeit für eine Entscheidung in der Sache zuzuschreiben, findet hingegen weder im Gesetz noch in der Systematik des mit der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 geschaffenen Verfahrensrechts Deckung. Für eine Übertragung der Rechtsprechung zu § 36 Abs. 2 VwGG aF auf § 16 VwGVG bleibt daher kein Raum. Nach ersatzloser Behebung eines Bescheides gemäß § 27 VwGVG infolge einer behördlichen Entscheidung nach Ablauf der dreimonatigen Nachholfrist ist das Verwaltungsgericht weder für die Einstellung des Säumnisbeschwerdeverfahrens zuständig noch ist die Zuständigkeit zur Entscheidung über den verfahrenseinleitenden Antrag in der Verwaltungsangelegenheit auf die Behörde „zurückgefallen“ (siehe zu all dem grundlegend VwGH 19.9.2017, Ro 2017/20/0001; vgl. dazu auch VwGH 10.9.2018, Ra 2018/19/0390; weiters Frank, § 16 VwGVG, in: Köhler/Brandtner/Schmelz [Hrsg.], Kommentar zum Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz [2021] Rz 28; Köhler, § 28 VwGVG: in: Köhler/Brandtner/Schmelz Hrsg.], Kommentar zum Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz [2021] Rz 212; demgegenüber VwGH 20.12.2017, Ro 2017/03/0019, Rz 15, wonach die – nach Ablauf der Nachfrist nach § 16 Abs. 1 VwGVG erfolgte – Erlassung eines Bescheides nicht dazu führe, dass das Verwaltungsgericht nach Aufhebung dieses Bescheides wegen Unzuständigkeit der außerhalb der Nachfrist entscheidenden Behörde wieder zuständig geworden wäre, aufgrund der Säumnisbeschwerde in der Sache selbst anstelle der Verwaltungsbehörde zu entscheiden; ebenso Dworschak/Raschauer/Wessely, § 16 VwGVG, in: Raschauer/Wessely [Hrsg.] Kommentar zum VwGVG [2018] Rz 9).
Daraus folgt (insbesondere mit Blick auf VwGH 19.9.2017, Ro 2017/20/0001) für den vorliegenden Fall, dass das Verwaltungsgericht Wien auch nach ersatzloser Behebung des Spruchpunktes 2)b) des angefochtenen Bescheides vom 22.7.2022 dafür zuständig ist, über die betriebene Verwaltungsangelegenheit zu entscheiden.
Zum (nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützten) Verlängerungsantrag vom 20.9.2018:
Die (formal bestehende) Ehe zwischen der BF und Herrn E. wurde aufgrund des Beschlusses des Beschlusses des Bezirksgerichtes F. vom 11.5.2021 einvernehmlich (rechtskräftig) geschieden. Diesen Umstand gab die BF der belangten Behörde gemäß § 27 Abs. 4 NAG (verspätet) bekannt.
Die Vorschriften des § 27 NAG 2005 (ErläutRV 330 BlgNR 24. GP 46) eröffnen einem ausländischen Ehepartner den Übergang von einem ehegattenbezogenen akzessorischen zu einem verselbstständigten Aufenthaltsrecht. Die Eigenständigkeit des Niederlassungsrechts für Familienangehörige hat zur Folge, dass es auf das Vorliegen der Voraussetzungen für den Familiennachzug nicht ankommt. Liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor, ist also die familiäre Lebensgemeinschaft nicht mehr gewahrt, hat der sich in Österreich aufhaltende Angehörige einen eigenständigen Rechtsanspruch auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels mit dem bisher gewährten Aufenthaltszweck, wenn die in § 27 NAG genannten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. VwGH 28.7.2021, Ra 2019/22/0025).
Auch im Fall einer Scheidung sieht § 27 NAG unter bestimmten Voraussetzungen ein vom bisherigen Aufenthaltszweck (unmittelbar) abgeleitetes Aufenthaltsrecht des (geschiedenen) Familienangehörigen vor (VwGH 27.4.2017, Ro 2016/22/0014). Jedenfalls kann ein auf § 27 NAG gestütztes Aufenthaltsrecht nur im Falle des Vorliegens eines in § 27 Abs. 1 NAG taxativ (vgl. VwGH 16.8.2022, Ra 2021/21/0227) genannten Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, 4, 5 und 8 NAG erteilt werden.
Die Beschwerde gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG aufgrund des (Erst-)Antrages vom 4.9.2017 wies das Verwaltungsgericht Wien, nachdem es die Beschwerde gegen die Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens abgewiesen hatte (Spruchpunkt I.), aufgrund fehlender Familienangehörigeneigenschaft als unbegründet ab (Spruchpunkt II.). Die BF verfügt daher über keinen Aufenthaltstitel, der einer Verlängerung gemäß § 24 NAG zugänglich ist, bzw. über keinen in § 27 Abs. 1 NAG genannten Aufenthaltstitel, aus dem ein Niederlassungsrecht nach § 27 NAG abgeleitet werden kann (vgl. VwGH 27.9.2021, Ra 2021/22/0140; 22.3.2022, Ra 2022/22/0009). Aufgrund Fehlens dieser besonderen Erteilungsvoraussetzungen ist der (nach einvernehmlicher Scheidung auf § 27 NAG gestützte) Verlängerungsantrag vom 20.9.2018 abzuweisen, wobei eine Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK bei Fehlen besonderer Erteilungsvoraussetzungen nicht vorzunehmen ist (siehe VwGH 22.3.2022, Ra 2022/22/0009).
5. Zu Spruchpunkt V.
Die Revision ist im Hinblick auf Spruchpunkt IV. dieses Erkenntnisses gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig. Das Verwaltungsgericht Wien hat seine Zuständigkeit, über den Verlängerungsantrag nach ersatzloser Behebung des Spruchpunktes 2)b) des angefochtenen Bescheides aufgrund der Säumnisbeschwerde zu entscheiden, aufgrund des – nach seiner Auffassung in Bezug auf den zugrunde liegenden Sachverhalt mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren – Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 19.9.2017, Ro 2017/20/0001, bejaht. Im Lichte der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 20.12.2017, Ro 2017/03/0019, Rz 15, erachtet das Verwaltungsgericht Wien aber auch das gegenteilige Ergebnis (keine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtes, in der Sache zu entscheiden) für denkbar, weshalb es in dieser Hinsicht von einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung ausgeht. Im Übrigen, also hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. des vorliegenden Erkenntnisses, liegt keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vor, wie dies insb. die an den jeweiligen Stellen zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes belegt.
H i n w e i s
Gemäß § 29 Abs. 5 VwGVG kann das Erkenntnis in gekürzter Form ausgefertigt werden, wenn von den Parteien auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof verzichtet oder nicht binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG eine Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG von mindestens einem der hiezu Berechtigten beantragt wird. Die gekürzte Ausfertigung hat den Spruch sowie einen Hinweis auf den Verzicht oder darauf, dass eine Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG nicht beantragt wurde, zu enthalten.
Das Verwaltungsgericht Wien hat am 28.11.2022, 16.1.2023 und 16.2.2023 in den gegenständlichen Beschwerdesachen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchgeführt und sodann das Erkenntnis mit den wesentlichen Entscheidungsgründen verkündet.
Die in der mündlichen Verhandlung angefertigte Niederschrift, der eine Belehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG angeschlossen war, wurde der Beschwerdeführerin unmittelbar ausgefolgt bzw. der belangten Behörde und dem Bundesminister für Inneres am 16.2.2023 zugestellt. Somit wurde die Niederschrift sämtlichen zur Erhebung einer Revision beim Verwaltungsgerichtshof oder einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof legitimierten Parteien und Organen ausgefolgt oder zugestellt.
Keine zur