TE Vfgh Erkenntnis 2023/3/15 E2424/2022 ua

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 15.03.2023
beobachten
merken

Index

10/07 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit

Norm

B-VG

Leitsatz

Auswertung in Arbeit

Spruch

I. 1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Erlassung eines auf drei Jahre befristeten Einreiseverbotes nur insofern stattgegeben wird, als dessen Dauer auf 18 Monate herabgesetzt wird, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Die Beschwerde wird dem Verwaltungsgerichtshof insoweit zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

1. Die Beschwerdeführer sind indische Staatsangehörige. Die von ihnen 2015 gestellten Erstanträge auf internationalen Schutz wurden rechtskräftig als unbegründet abgewiesen und Rückkehrentscheidungen gegen die Beschwerdeführer erlassen. Die von den Beschwerdeführern 2017 gestellten Folgeanträge wurden rechtskräftig wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art8 EMRK vom 29. April 2019 wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß §55 AsylG 2005 abgewiesen, jeweils eine Rückkehrentscheidung erlassen, jeweils festgestellt, dass die Abschiebung nach Indien zulässig ist sowie jeweils eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise festgelegt. Der von den Beschwerdeführern gestellte Antrag auf "Mängelheilung" vom 30. Jänner 2022 (betreffend die Nichtvorlage von Dokumenten) wurde gemäß "§4 Abs1 Z Zusatz iVm §8 AsylG-DV 2005" abgewiesen. Gegen den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurde jeweils ein auf "§53 Absatz 1 iVm Absatz 2 Ziffer 6 Fremdenpolizeigesetz" gestütztes und auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.

2. Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 4. August 2022 insofern als unbegründet ab, als sich diese gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art8 EMRK, die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, die jeweilige Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung nach Indien und die jeweilige Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise richteten. Soweit sich die Beschwerden gegen die Abweisung von Anträgen auf "Mängelheilung" richteten, wurden diese mit Maßgabe einer Spruchkorrektur als unbegründet abgewiesen. Den – sich gegen die Erlassung eines auf drei Jahre befristeten Einreiseverbotes richtenden – Beschwerden des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin wurde insofern stattgegeben, als dessen Dauer auf 18 Monate herabgesetzt wurde. Die – ausschließlich auf §53 Abs2 Z6 FPG gestützten – Einreiseverbote begründet das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zu Recht davon ausgegangen sei, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin im Bundesgebiet keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und ihren Unterhalt nur durch Unterstützung der Caritas finanzieren würden. Sie würden zwar in einer Eigentumswohnung von Verwandten leben, ein diesbezüglicher Rechtsanspruch auf Unterstützung oder die Einräumung eines Wohnrechtes seien allerdings weder behauptet noch nachgewiesen worden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin würden zudem weder über Barmittel noch Ersparnisse verfügen, weshalb die Gefahr bestünde, dass ihr Aufenthalt zu einer finanziellen Belastung der Gebietskörperschaft führen könnte. Da das vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Ausmaß von drei Jahren verhängte Einreiseverbot unverhältnismäßig sei, habe das Bundesverwaltungsgericht die Dauer des Einreiseverbotes in angemessener Weise auf 18 Monate herabzusetzen.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

4. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Erlassung von Einreiseverboten gegen den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin richtet, ist sie auch begründet:

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 6. Dezember 2022, G264/2022, §53 Abs2 Z6 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 87/2012 als verfassungswidrig aufgehoben und verfügt, dass diese Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.

Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist daher die aufgehobene Gesetzesbestimmung nicht nur im Anlassfall, sondern ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (VfSlg 15.401/1999, 19.419/2011).

Das Bundesverwaltungsgericht wendete bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin nachteilig war. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit ihrer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Erlassung eines auf drei Jahre befristeten Einreiseverbotes nur insofern stattgegeben wird, als dessen Dauer auf 18 Monate herabgesetzt wird, wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt.

Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.

5. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art8 EMRK, der Erlassung von Rückkehrentscheidungen, der jeweiligen Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung, des jeweiligen Ausspruches der Frist für die freiwillige Ausreise sowie der Abweisung von Anträgen auf "Mängelheilung" richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten.

Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, 14.038/88, Soering; 30.10.1991, 13.163/87 ua, Fall Vilvarajah; 6.3.2001, 45-276/99, Hilal) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden in welcher Form immer außer Landes zu schaffen, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er gebracht werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (vgl VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995, 14.998/1997).

Das Bundesverwaltungsgericht hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005; zu den krankheitsbedingten Gründen vgl auch VfSlg 18.407/2008 und 19.086/2010). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).

Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage der Gefährdung der beschwerdeführenden Partei in ihren Rechten auseinandergesetzt. Ihm kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art8 EMRK überwiegt (vgl VfSlg 19.086/2010).

Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung in jeder Hinsicht rechtmäßig begründet hat, nicht anzustellen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 und Z4 VfGG ohne weiteres Verfahren und ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden, da die vorliegende Rechtsfrage durch die bisherige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bereits genügend klargestellt ist.

7. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten. Da die Beschwerdeführer gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag zuzusprechen. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.

8. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2023:E2424.2022

Zuletzt aktualisiert am

03.04.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten