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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr.in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des N B, vertreten durch Dr.in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das am 5. Februar 2021 mündlich verkündete und mit 28. April 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W251 2238223-2/17E, betreffend Feststellung der Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein marokkanischer Staatsangehöriger, gegen den im Rahmen eines erfolglosen Asylverfahrens eine rechtskräftige Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot erlassen worden war, befand sich bis 9. September 2020 in Strafhaft.
2 Mit Bescheid vom 4. September 2020 ordnete das BFA über ihn gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung seiner Abschiebung an. Dieser Bescheid wurde nach der Entlassung des Revisionswerbers aus der Strafhaft am 9. September 2020 in Vollzug gesetzt.
3 Vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wurden nach § 22a Abs. 4 BFA-VG periodische Überprüfungen der weiteren Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft vorgenommen. Mit dem ersten Erkenntnis vom 8. Jänner 2021 wurde nach einer Schubhaftdauer von vier Monaten festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und dass die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei.
4 Am 26. Jänner 2021 legte das BFA die Akten gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG dem BVwG neuerlich zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft vor.
5 Daraufhin beraumte das BVwG eine mündliche Verhandlung für den 3. Februar 2021 an, zu der es den Revisionswerber und eine Dolmetscherin lud, sowie dem BFA die Teilnahme an der Verhandlung freistellte. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung informierte das BVwG den Revisionswerber in einem Merkblatt unter Anführung der Rechtsgrundlage des § 52 Abs. 2 BFA-VG darüber, dass die BBU GmbH für seine Rechtsberatung zuständig sei und, sollte der Revisionswerber die Teilnahme eines Rechtsberaters an der Beschwerdeverhandlung wünschen, er mit der BBU GmbH Kontakt aufnehmen möge. Die Ladung des Revisionswerbers wurde auch der BBU GmbH „nachrichtlich“ zugestellt.
6 In der Verhandlung am 3. Februar 2021 war kein Rechtsberater für den Revisionswerber anwesend. Über Frage der Richterin ersuchte der Revisionswerber um Beigebung eines Rechtsberaters und teilte mit, dass er die Verhandlung nicht ohne einen Rechtsberater durchführen möchte. In dieser Verhandlung wurde die Erklärung des Revisionswerbers protokolliert, er beauftrage und bevollmächtige die BBU GmbH, ihn in seinem Schubhaftverfahren zu vertreten und sämtliche Zustellungen für ihn entgegen zu nehmen. Die Richterin vertagte die Verhandlung zur Beiziehung eines Rechtsberaters auf den 5. Februar 2021, zu der sie auch die BBU GmbH als Vertreterin des Revisionswerbers unter Anschluss des Protokolls über die Verhandlung am 3. Februar 2021 lud.
7 Am 5. Februar 2021 teilte die BBU GmbH gegenüber der zuständigen Richterin (laut einem Aktenvermerk) telefonisch mit, „keinen Auftrag für Vertretungen nach § 22a Abs. 4 BFA-VG zu haben“.
8 In der Verhandlung vom 5. Februar 2021 belehrte die Richterin den Revisionswerber sodann darüber, dass sich die BBU GmbH weigere, ihn im Verfahren über die amtswegige Haftprüfung gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG zu vertreten, er aber bei Erhebung einer (allerdings mit Kostenrisiko behafteten) Schubhaftbeschwerde von der BBU GmbH vertreten würde. Für diesen Fall würde das amtswegige Verfahren eingestellt und über die Schubhaftbeschwerde bei einem neuen Termin am 9. Februar 2021 verhandelt werden. Der Revisionswerber gab an, keine Erhebung einer Schubhaftbeschwerde zu wünschen. Einen Antrag auf Verfahrenshilfe stellte der Revisionswerber nicht.
9 Mit dem nunmehr angefochtenen, am 5. Februar 2021 am Ende der Verhandlung mündlich verkündeten und mit 28. April 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis stellte das BVwG neuerlich gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen und die Aufrechterhaltung der Schubhaft verhältnismäßig sei.
10 Zur Weigerung der BBU GmbH, den Revisionswerber in diesem Verfahren und in der Verhandlung vom 5. Februar 2021 zu vertreten, führte das BVwG aus, dass es durch die Vertagung der Verhandlung und Ladung der BBU GmbH als Vertreterin des Revisionswerbers darauf hingewirkt habe, dass ein Rechtsberater an der Verhandlung teilnehme. Eine weitere Vertagung habe aufgrund des Ablaufs der Entscheidungsfrist über die amtswegige Haftprüfung am 5. Februar 2021 nicht erfolgen können. Es sei vom Revisionswerber trotz Belehrung und Manuduktion durch das BVwG keine Schubhaftbeschwerde erhoben worden. Es sei auch kein rechtzeitiger Antrag auf Verfahrenshilfe gestellt worden. Dies stehe dem Vorliegen eines relevanten Verfahrensmangels entgegen.
11 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG (unter anderem) deshalb zulässig sei, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, ob ein Drittstaatsangehöriger gemäß § 52 BFA-VG Anspruch auf Beigebung eines Rechtsberaters in einer Verhandlung über eine Haftprüfung gemäß § 22a Abs. 4 BFA-VG habe und das Fernbleiben des Rechtsberaters trotz Ladung zur Verhandlung zu einem relevanten Verfahrensmangel führe, obwohl der Revisionswerber keinen (rechtzeitigen) Verfahrenshilfeantrag gestellt und die Einbringung einer Schubhaftbeschwerde abgelehnt habe.
12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision. Das BVwG hat das Vorverfahren durchgeführt, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
14 Die Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung (unter anderem) die vom BVwG auch aufgeworfene Frage der Beigebung eines Rechtsberaters gemäß § 52 BFA-VG für das nach § 22a Abs. 4 BFA-VG vom BVwG durchzuführende Schubhaftprüfungsverfahren releviert wird, erweist sich schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
15 Mit der angesprochenen Frage hat sich der Verwaltungsgerichtshof mittlerweile im Erkenntnis VwGH 24.2.2022, Ra 2020/21/0492, ausführlich auseinandergesetzt, wobei gemäß § 43 Abs. 2 VwGG des Näheren auf dessen Entscheidungsgründe (siehe Rn. 10 ff, insbesondere Rn. 25/26) verwiesen wird. Dort kam der Verwaltungsgerichtshof mit ausführlicher Begründung zu der durch den Gesetzeswortlaut gedeckten Auslegung des § 52 BFA-VG, dass der Rechtsberater (die BBU GmbH) den Schubhäftling auch in dem nach § 22a Abs. 4 BFA-VG geführten Verfahren vor dem BVwG zur periodischen Überprüfung der weiteren Anhaltung in Schubhaft zu unterstützen und zu beraten sowie auf sein Ersuchen auch - „einschließlich einer mündlichen Verhandlung“ - zu vertreten hat.
16 Die Unterlassung der Beiziehung des Rechtsberaters in einem solchen Verfahren bewirkt einen relevanten Verfahrensmangel, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das BVwG bei dessen Vermeidung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (vgl. im Anschluss an VwGH 24.2.2022, Ra 2020/21/0492, Rn. 27, etwa VwGH 2.3.2023, Ra 2021/21/0137, Rn. 14). Das gilt auch im vorliegenden Fall, weil die durch das BVwG zwar versuchte Beiziehung des Rechtsberaters, aber von der BBU GmbH rechtswidrig verweigerte Vertretung des Revisionswerbers schon mangels Zustandekommens eines Vertretungsverhältnisses nicht diesem zuzurechnen ist (vgl. dazu im Übrigen auch den Prüfungsbeschluss VfGH 13.12.2022, E 3608/2021, u.a., Rn. 57 und 67, wonach der Verfassungsgerichtshof vorläufig annimmt, die Aufgabe der Rechtsberatung und -vertretung vor dem BVwG gemäß § 52 BFA-VG, wie sie gemäß § 2 Abs. 1 Z 2 lit. b BBU-G der BBU GmbH übertragen ist, dürfte der staatlichen Verwaltung zuzurechnen sein). Am Vorliegen eines zur Aufhebung führenden wesentlichen Verfahrensmangels ändert - entgegen der Meinung des BVwG - nichts, dass es der Revisionswerber abgelehnt hatte, mit Unterstützung des Rechtsberaters eine Schubhaftbeschwerde einzubringen, weil ihm dies wegen des damit verbundenen Kostenrisikos nicht zumutbar ist (vgl. neuerlich VwGH 24.2.2022, Ra 2020/21/0492, nunmehr Rn. 25 am Ende). Auf einen Verfahrenshilfeantrag durfte der Revisionswerber aber deshalb nicht verwiesen werden, weil dieser erfolglos hätte bleiben müssen (vgl. neuerlich VwGH 24.2.2022, Ra 2020/21/0492, Rn. 25 iVm Rn. 19).
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus den genannten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Angesichts dessen kommt es auf die vom BVwG auch noch als die Zulässigkeit einer ordentlichen Revision begründende, näher ausformulierte Frage zu § 80 Abs. 4 Z 4 FPG (siehe dazu grundlegend VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0404) fallbezogen nicht an.
18 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 2. März 2023
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Bindung an den Wortlaut des Gesetzes VwRallg3/2/1 Besondere Rechtsgebiete Parteiengehör Parteiengehör Unmittelbarkeit Teilnahme an Beweisaufnahmen Parteiengehör Verletzung des Parteiengehörs Verfahrensmangel "zu einem anderen Bescheid"European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RO2021210007.J00Im RIS seit
04.04.2023Zuletzt aktualisiert am
04.04.2023