Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §13Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr.in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des J R, vertreten durch Mag. Katrin Blecha-Ehrbar, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Dorotheergasse 6-8, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Juli 2022, G313 2240880-2/2E, betreffend Zurückweisung des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist in einer fremdenrechtlichen Angelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 23. Februar 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber, einen slowakischen Staatsangehörigen, wegen dessen Straffälligkeit gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und sprach aus, dass gemäß § 70 Abs. 3 FPG ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilt werde.
2 In Bezug auf diesen Bescheid, der dem Revisionswerber am 24. Februar 2021 durch persönliche Übergabe in der Strafhaft zugestellt worden war, verfasste seine frühere Lebensgefährtin eine per E-Mail am 10. März 2021 an die Fremdenpolizei gerichtete und von dieser am nächsten Tag dem BFA übermittelte Eingabe, in der sie darum bat, ihr, „der Mutter seiner Tochter, Gehör zu schenken“, wobei sie in der Folge insbesondere die nachteiligen Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes für den Revisionswerber in persönlicher und familiärer Hinsicht hervorhob, die Daten eines den Revisionswerber „wahrscheinlich“ vertretenden Rechtsanwaltes bekannt gab, äußerte, „vielleicht wäre eine Anhörung möglich“ und - erkennbar gerichtet an den Referenten der Behörde - ersuchte, er möge „uns doch noch eine Chance geben“.
3 Am 29. März 2021 legte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Eingabe vom 10. März 2021 als Beschwerde gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 samt Verwaltungsakt vor.
4 Am 15. April 2021 langte beim BVwG eine mit 22. März 2021 datierte, vom Revisionswerber der BBU GmbH erteilte Vollmacht zur Vertretung in diesem Beschwerdeverfahren ein. Unter Berufung auf diese Vollmacht brachte die BBU GmbH schließlich am 29. April 2021 eine „Beschwerdeergänzung“ beim BVwG ein, in der einleitend auf eine nicht näher bezeichnete, fristgerechte Beschwerde des Revisionswerbers gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 und auf einen von seiner „Ex-Freundin“ geschriebenen „Brief mit einer Beschwerde gegen diese Entscheidung“ (offenbar gemeint: die Eingabe vom 10. März 2021) Bezug genommen wurde. Anschließend wurden Verfahrensmängel und die inhaltliche Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 23. Februar 2021 geltend gemacht sowie nach ausführlicher Begründung insbesondere die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die (ersatzlose) Behebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Zurückverweisung der Rechtssache oder Kürzung der Dauer des Aufenthaltsverbotes beantragt.
5 In der Folge stellte das BVwG mit dem in Rechtskraft erwachsenen Beschluss vom 9. September 2021 das Beschwerdeverfahren gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 „gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG iVm § 31 Abs. 1 VwGVG“ im Wesentlichen mit der Begründung ein, im gegenständlichen Fall sei vom Revisionswerber keine Beschwerde eingebracht worden, zumal das Schreiben der nicht beschwerdelegitimierten Lebensgefährtin vom BFA irrtümlich als Beschwerde gewertet worden sei. Mangels Beschwerde bestehe kein Erledigungsanspruch, weshalb „das vom BFA durch die ‚Akten- und Beschwerdevorlage‘ am 29.03.2021 beim BVwG eingeleitete Beschwerdeverfahren einzustellen war“. Dieser Beschluss wurde der BBU GmbH als Vertreterin des Revisionswerbers im Wege des ERV mit Wirksamkeit vom 16. September 2021 zugestellt.
6 Daraufhin stellte der Revisionswerber, vertreten durch die BBU GmbH, mit Schriftsatz vom 29. September 2021 einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (erkennbar) gegen die Versäumung der Beschwerdefrist samt Antrag auf aufschiebende Wirkung und legte den bereits am 29. April 2021 eingebrachten, als „Beschwerdeergänzung“ titulierten Schriftsatz - nunmehr offenbar als Beschwerde - erneut vor. In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, der Revisionswerber habe am 22. März 2021 infolge eines Rechtsberatungsgespräches in der Strafhaft die BBU GmbH mit der Rechtsvertretung beauftragt und bevollmächtigt, weshalb noch am selben Tag mit dem BFA telefonisch Kontakt aufgenommen worden sei. Neben dem Datum der Bescheidzustellung am 24. Februar 2021 habe das BFA dem Rechtsberater bekannt gegeben, dass das Verfahren beim BVwG anhängig sei, weil die „Freundin“ des Revisionswerbers eine Beschwerde eingebracht habe. Deshalb - so ist das weitere Antragsvorbringen zu verstehen - habe der Rechtsberater zunächst von der Einbringung einer Beschwerde für den Revisionswerber abgesehen und erst am 29. April 2021 die Beschwerdeergänzung eingebracht. Dass die Auskunft des BFA nicht richtig gewesen sei, habe der Revisionswerber erst am 16. September 2021 durch die Zustellung des Beschlusses vom 9. September 2021 über die Einstellung des Beschwerdeverfahrens erfahren. Ein Verschulden, das der Revisionswerber zu verantworten habe, sei nicht erkennbar.
7 Mit dem angefochtenen Beschluss vom 20. Juli 2022 wies das BVwG den Wiedereinsetzungsantrag einschließlich des Antrages auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung „gemäß § 33 VwGVG als unzulässig“ zurück und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision nicht zulässig sei.
8 Der teilweise widersprüchlichen und kaum nachvollziehbaren Begründung des angefochtenen Beschlusses lässt sich doch die tragende und im Einklang mit der Begründung des Beschlusses vom 9. September 2021 stehende Annahme des BVwG entnehmen, dass die von der früheren Lebensgefährtin des Revisionswerbers verfasste Eingabe vom 10. März 2021 nicht als Beschwerde zu werten sei. Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung habe das BVwG gemäß § 33 Abs. 4 dritter Satz VwGVG „ab Vorlage der Beschwerde“ zu entscheiden. „Folglich“ - so das BVwG unmittelbar daran anschließend wörtlich - „war im gegenständlichen Fall der Antrag auf Wiedereinsetzung des mangels eingebrachter ‚Beschwerde‘ nie bestandenen Verfahrens über eine Beschwerde gegen den in der Sprucheinleitung angeführten Bescheid als unzulässig zurückzuweisen, ebenso der zusammen mit dem Wiedereinsetzungsantrag gestellte Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung.“ Diese Passage ist vor dem Hintergrund der zuvor genannten Zuständigkeitsbestimmung des § 33 Abs. 4 VwGVG dahin zu verstehen, dass nach Meinung des BVwG im vorliegenden Fall keine „Vorlage der Beschwerde“ iSd dritten Satzes dieser Norm erfolgt und daher der Wiedereinsetzungsantrag „als unzulässig“ - der Sache nach: wegen Unzuständigkeit des BVwG - zurückzuweisen sei.
9 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
10 Die Revision erweist sich - entgegen dem den Verwaltungsgerichtshof gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG nach § 25a Abs. 1 VwGG - als zulässig und auch als berechtigt.
11 Gemäß § 33 Abs. 4 VwGVG hat über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bis zur Vorlage der Beschwerde die Behörde mit Bescheid und ab Vorlage der Beschwerde das Verwaltungsgericht mit Beschluss zu entscheiden.
12 Im vorliegenden Fall legte das BFA am 29. März 2021 dem BVwG die Eingabe vom 10. März 2021 unbestritten als Beschwerde gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 samt Verwaltungsakt vor. Zwar ging das BVwG davon aus, dass es sich bei der Eingabe vom 10. März 2021 nicht um eine Beschwerde gehandelt habe, weshalb es das Beschwerdeverfahren gegen den Bescheid vom 23. Februar 2021 mit dem rechtskräftigen Beschluss vom 9. September 2021 einstellte. In diesem Beschluss ließ das BVwG jedoch die am 29. April 2021 beim BVwG eingelangte „Beschwerdeergänzung“ des Revisionswerbers unbeachtet.
13 Nach ständiger Rechtsprechung kommt es bei der Auslegung von Parteianbringen auf das aus diesen erkenn- und erschließbare Ziel des Einschreiters an; Parteierklärungen und damit auch Anbringen sind ausschließlich nach ihrem objektiven Erklärungswert auszulegen (vgl. etwa VwGH 16.4.2020, Ra 2019/22/0035, Rn. 11, mwN). Da die Eingabe vom 10. März 2021 nach Ansicht des BVwG keine Beschwerde darstellte, musste der Schriftsatz vom 29. April 2021 demzufolge trotz seiner Bezeichnung als „Beschwerdeergänzung“ inhaltlich als eine - wenn auch verspätete - Beschwerde gewertet werden. Diese Beschwerde war allerdings (ebenso wie die mit dem zurückgewiesenen Wiedereinsetzungsantrag zur Nachholung der versäumten Prozesshandlung neuerlich vorgelegte „Beschwerdeergänzung“) vom BVwG nicht wegen Fristversäumnis zurückgewiesen worden. Nach ständiger Rechtsprechung besteht jedoch ein Erledigungsanspruch grundsätzlich unabhängig vom Inhalt der zu treffenden Entscheidung und ist demgemäß unabhängig davon, ob die Erledigung eine meritorische, also eine (stattgebende oder ablehnende) Sachentscheidung zu sein hat, oder bloß in einer verfahrensrechtlichen Entscheidung, etwa einer Zurückweisung (hier: der „Beschwerdeergänzung“ als verspätete Beschwerde), besteht (vgl. etwa VwGH 5.10.2021, Ra 2020/03/0120, Rn. 52, mwN). Somit war im Zeitpunkt der Einbringung des Wiedereinsetzungsantrages aufgrund der „Beschwerdeergänzung“ jedenfalls ein Verfahren über eine - unter den hier gegebenen besonderen Umständen auch als dem BVwG „vorgelegt“ anzusehende - Beschwerde des Revisionswerbers nach wie vor beim BVwG anhängig.
14 Davon, dass das BVwG mangels Vorlage einer Beschwerde iSd dritten Satzes des § 33 Abs. 4 VwGVG zur Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung nicht zuständig gewesen sei, kann daher jedenfalls - und zwar selbst dann, wenn die Meinung des BVwG über den mangelnden Zuständigkeitsübergang durch die Vorlage der Eingabe vom 10. März 2021 zuträfe - keine Rede sein. Daran ändert auch der Einstellungsbeschluss vom 9. September 2021 nichts, weil er sich seinem Inhalt nach - die Beschwerdeergänzung wurde gar nicht erwähnt - nur auf das Verfahren über die vom BVwG nicht als Beschwerde angesehene Eingabe vom 10. März 2021 bezog. Nur diesbezüglich vertrat das BVwG die Meinung, dass kein Erledigungsanspruch bestehe und daher mit einer bloßen Verfahrenseinstellung vorgegangen werden könne.
15 Im Ergebnis war daher der in der Revision vertretene Standpunkt, dass das BVwG für die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag zuständig gewesen wäre, zutreffend. Da das BVwG somit den Wiedereinsetzungsantrag nicht wegen Unzuständigkeit „als unzulässig“ hätte zurückweisen dürfen, war der angefochtene Beschluss wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
16 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG bei der Beurteilung der inhaltlichen Berechtigung des Wiedereinsetzungsantrages zu prüfen haben, ob die Versäumung der Beschwerdefrist - dem Antragsvorbringen entsprechend - auf eine irreführende, am 22. März 2021 erteilte Auskunft des BFA über eine bereits beim BVwG anhängige Beschwerde zurückzuführen war und ob insoweit ein über den minderen Grad des Versehens hinausgehendes, dem Revisionswerber zurechenbares Verschulden des Rechtsberaters vorlag. Sollte sich die letztgenannte Frage überhaupt stellen, dann wäre auf das mit Prüfungsbeschluss VfGH 13.12.2022, E 3608/2021-28, eingeleitete Verfahren Bedacht zu nehmen.
17 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 2. März 2023
Schlagworte
Individuelle Normen und Parteienrechte Auslegung von Bescheiden und von Parteierklärungen VwRallg9/1 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2 Inhalt der Berufungsentscheidung Voraussetzungen der meritorischen Erledigung Zurückweisung (siehe auch §63 Abs1, 3 und 5 AVG) Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Parteivorbringen Erforschung des ParteiwillensEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022210152.L00Im RIS seit
04.04.2023Zuletzt aktualisiert am
04.04.2023