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001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
BFA-VG 2014 §9Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des A A, vertreten durch Dr. Karl-Heinz Plankel, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Bartensteingasse 16/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 2021, W280 2221479-2/14E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen sowie eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der im Jahr 2000 geborene Revisionswerber, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 2006 mit seiner Familie ins Bundesgebiet ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 7. April 2008 wurde dem Revisionswerber Asyl gewährt und unter einem festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
2 Von November 2012 bis Mai 2014 lebte der Revisionswerber gemeinsam mit seiner Schwester und einem Halbbruder bei seiner Großmutter väterlicherseits in der Ukraine, wobei dieser Halbbruder und die Großmutter inzwischen wieder nach Tschetschenien zurückgekehrt sind und gemeinsam in der Nähe von Grosny in einer der Großmutter gehörigen 3-Zimmer-Wohnung leben.
3 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. Dezember 2017 wurde der Revisionswerber wegen des als Jugendlicher begangenen versuchten Raubes nach §§ 15, 142 Abs. 1 StGB, der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs. 1 Z 7 StGB und des Betruges nach § 146 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Revisionswerber gemeinsam mit einem Mittäter versuchte, einer Person eine Armbanduhr wegzunehmen, indem er sie am Arm gepackt, den Arm umgedreht und ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hat. Darüber hinaus hat er mit drei weiteren Mittätern die Glasfassade eines Gebäudes mit Eisenstangen und Fahrradsätteln beschädigt bzw. zerstört, wodurch ein Schaden in der Höhe von 7.500 € entstand. Ferner hat der Revisionswerber eine Person zur Herausgabe einer Armbanduhr verleitet und diese nicht mehr zurückgegeben.
4 Mit dem im Beschwerdeweg ergangenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 23. Oktober 2020 wurde dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten aberkannt, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt. Das BVwG stellte darüber hinaus fest, dass gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, und es erteilte dem Revisionswerber gemäß § 58 Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 und § 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten.
5 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 18. März 2021 wurde der Revisionswerber als junger Erwachsener neuerlich wegen Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB und Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten verurteilt, wobei die Strafe im Ausmaß von zwölf Monaten bedingt nachgesehen wurde. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Revisionswerber im Juli 2020 gemeinsam mit einem Mittäter einem Dritten einen Faustschlag ins Gesicht versetzte, wodurch das Opfer zu Boden gestürzt ist, die beiden Täter dessen Autoschlüssel an sich genommen haben und mit dem Fahrzeug des Opfers davongefahren sind. Darüber hinaus hat der Revisionswerber ein fremdes Auto durch Springen auf die Motorhaube und das Dach beschädigt.
6 Mit Bescheid vom 2. Juni 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber im Hinblick auf seine Straffälligkeit gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers (evident gemeint: in die Russische Föderation) zulässig sei. Gemäß § 55 FPG bestimmte es eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.
7 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. Oktober 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit dem Beschluss VfGH 15.12.2021, E 4312/2021-7, ablehnte und sie unter einem dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
9 Die in der Folge rechtzeitig ausgeführte außerordentliche Revision - in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet - erweist sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig.
10 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
12 Unter diesem Gesichtspunkt wendet sich die Revision ausschließlich gegen die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG und verweist zusammengefasst auf den seit 2006 bestehenden rechtmäßigen und - mit Ausnahme einer ungefähr eineinhalbjährigen in der Ukraine verbrachten Abwesenheit - ununterbrochenen Aufenthalt des „von klein auf“ in Österreich aufgewachsenen und „perfekt“ Deutsch sprechenden Revisionswerbers, dessen gesamte Kernfamilie und Freundeskreis sich im Bundesgebiet befinde. Zum Herkunftsstaat habe er - außer zu seiner betagten Großmutter, die ihn wenige Male in Österreich besucht habe - „schlichtweg“ keinerlei Bezugspunkte mehr.
13 Vorauszuschicken ist, dass die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. aus der ständigen Judikatur etwa VwGH 22.3.2021, Ra 2020/21/0403, Rn. 14, und VwGH 2.9.2021, Ra 2021/21/0089, Rn. 12, jeweils mwN).
14 Ein solcher Fall liegt hier angesichts der gravierenden und von einem einschlägigen Rückfall gekennzeichneten Straftaten des Revisionswerbers vor. Entgegen dem Revisionsvorbringen berücksichtigte das BVwG ausreichend die familiäre Situation, den langjährigen Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich, seine Deutschkenntnisse und die finanzielle Abhängigkeit des Revisionswerbers von seiner im Bundesgebiet lebenden Kernfamilie. Aufgrund des gravierenden Verbrechens des zweifachen Raubes und des erst kurzen Zeitraums seit der Haftentlassung im April 2021, der noch keine Beurteilung des Gesinnungswandels zuließ (vgl. dazu etwa VwGH 5.8.2021, Ra 2021/21/0188, Rn. 14, mwN), durfte das BVwG vertretbar annehmen, vom Revisionswerber gehe ein derart großes Gefährdungspotenzial aus, dass das persönliche Interesse des im Übrigen bisher weitgehend erwerbslosen Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet nicht das aus den Straftaten resultierende große öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegt. Dabei fiel besonders schwer ins Gewicht, dass die zweite Verurteilung des Revisionswerbers auf einem strafrechtlichen Fehlverhalten beruhte, das er während des im Beschwerdestadium befindlichen Asylaberkennungsverfahrens und noch offener Probezeit aus der ersten Verurteilung begangen und zu dem er überdies in der im vorliegenden Verfahren durchgeführten Beschwerdeverhandlung kein Unrechtsbewusstsein gezeigt hat.
15 Allfällige Schwierigkeiten beim Aufbau einer Existenz im Herkunftsstaat - wo der Revisionswerber durch seine Großmutter und seinen Halbbruder auch über familiäre Anknüpfungspunkte für eine Reintegration verfügt - sind vor dem Hintergrund des vom Revisionswerber ausgehenden Gefährdungspotenzials im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen.
16 Die vom Revisionswerber der Sache nach angesprochene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach gegenüber Personen, die „von klein auf“ in Österreich aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen sind, aufenthaltsbeendende Maßnahmen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen zulässig ist, zumal die diesbezüglichen Wertungen des ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestandes des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA-VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG nämlich weiterhin beachtlich sind (vgl. etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, mwN), ist auf den Revisionswerber, der erst im Alter von fünf Jahren nach Österreich kam, nicht anwendbar (zum Verständnis der Wendung „von klein auf im Inland aufgewachsen“ siehe grundlegend zur im Wesentlichen inhaltsgleichen Regelung des § 38 Abs. 1 Z 4 FrG 1997 schon den Beschluss VwGH 17.9.1998, 96/18/0150, Punkt 2.2.). Angesichts des von November 2012 bis Mai 2014 in der Ukraine verbrachten Zeitraums kam im Übrigen auch eine Aufenthaltsverfestigung iSd § 9 Abs. 4 Z 1 BFA-VG idF vor dem FrÄG 2018 nicht in Betracht.
17 Zusammengefasst gelingt es der Revision somit nicht, eine Unvertretbarkeit der - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung unter Verwertung des persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber - vorgenommenen Interessenabwägung darzutun (siehe zur Maßgeblichkeit des Vertretbarkeitskalküls für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Art. 133 Abs. 4 B-VG schon oben in Rn. 13).
18 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
19 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 2. März 2023
Schlagworte
Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022210027.L00Im RIS seit
04.04.2023Zuletzt aktualisiert am
04.04.2023