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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Beachte
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revisionen der revisionswerbenden Parteien 1. Z O, 2. A O und 3. A O, alle vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr und Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. September 2022, W293 2255144-1/9E, W293 2255143-1/9E, W293 2255141-1/9E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 3.319,20, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien, alle syrische Staatsangehörige, sind Geschwister, die im September 2021 - damals alle noch minderjährig - unbegleitet nach Österreich gelangten und um internationalen Schutz ansuchten. Ihre Flucht begründeten sie u.a. damit, wegen regimekritischer Aktivitäten ihres ins Ausland geflohenen Vaters Verfolgung durch das syrische Regime zu befürchten.
2 Mit Bescheiden jeweils vom 21. April 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab, gewährte den revisionswerbenden Parteien aber gleichzeitig subsidiären Schutz und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.
3 Gegen die Abweisung ihrer Asylanträge erhoben die revisionswerbenden Parteien eine gemeinsame Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), die mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet abgewiesen wurde. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
4 Begründend schenkte das BVwG dem Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien keinen Glauben. Ihnen drohe in Syrien keine Verfolgung. Insbesondere habe nicht festgestellt werden können, dass ihnen eine „Reflexverfolgung aufgrund einer etwaigen Verfolgung ihres Vaters“ drohe. Der von ihnen geschilderte Vorfall, bei dem das Militär in das Haus der Großmutter eingedrungen und die revisionswerbenden Parteien bedroht haben solle, sei nicht glaubhaft. Selbst wenn dem Vater „eine gewisse Verfolgung drohen würde“, vermöge dies nicht zwingend etwas an der Situation der revisionswerbenden Parteien zu ändern. Daraus, dass „unter Umständen der Vater einer Verfolgung ausgesetzt“ sei, lasse sich keine aktuelle, wahrscheinliche Verfolgungsgefahr konkret für die revisionswerbenden Parteien ableiten, insbesondere auch, da andere Familienangehörige der revisionswerbenden Parteien, wie etwa die Großmutter, die sich noch in Syrien aufhalte, keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt sei.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache u.a. geltend macht, das angefochtene Erkenntnis weise mehrfache Begründungsmängel auf, insbesondere habe das BVwG die drohende Verfolgung der revisionswerbenden Parteien aufgrund der politischen Aktivitäten ihres Vaters unrichtig beurteilt. Das BVwG treffe zur vorgebrachten Verfolgung des Vaters keine Feststellungen. Es setze sich in seiner Beweiswürdigung zu Lasten der revisionswerbenden Parteien mit einem aktenkundigen Brief des Vaters der revisionswerbenden Parteien auch nicht hinreichend auseinander. In diesem Brief habe der Vater seine regimekritischen Aktivitäten, die bis zu seiner Zeit als Student Anfang der 1990er Jahre zurückgingen, und die gegen ihn gesetzten Maßnahmen des syrischen Regimes geschildert. Der Brief enthalte darüber hinaus genaue Angaben über seine erste Flucht aus Syrien im Jahr 2008, die Umstände seiner Rückkehr im Jahr 2010, seiner Festnahme und der dabei erlebten Folter durch syrische Sicherheitskräfte im Jahr 2011 und er schildere die anschließende neuerliche Flucht aus dem Herkunftsstaat. Der Vater habe darin auch die Beweggründe für seine Entscheidung erläutert, seine Kinder (die revisionswerbenden Parteien) im Jahr 2021 nach Syrien zurückzuschicken.
6 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist im Sinne des dargestellten Zulassungsvorbringens zulässig und begründet.
9 Nach den vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen verfolgen das syrische Regime und ihr Sicherheitsapparat immer wieder Personen, die sich abweichend oder oppositionell geäußert haben, unter anderem durch willkürliche Inhaftierung, Folter und Schikanen gegen Kritiker und ihre Angehörigen (Seite 27 des angefochtenen Erkenntnisses).
10 Zu Recht weist die Revision auch auf die einschlägigen UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (6. Fassung, März 2021, Seite 108), hin, wonach tatsächliche oder vermeintliche regierungskritische Haltung einer Person häufig auch Menschen in ihrem Umfeld zugeschrieben werden, einschließlich Familienmitgliedern. Für Familienangehörige bestehe die Gefahr, dass sie zwecks Vergeltung und/oder mit dem Ziel, tatsächliche oder vermeintliche Regierungskritiker zum Schweigen zu bringen, bedroht, schikaniert, willkürlich verhaftet, gefoltert, zwangsverschleppt und zum Verschwinden gebracht würden.
11 Es sei nur ergänzt, dass auch die Länderrichtlinien der EUAA, denen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - wie jenen des UNHCR - besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“ - vgl. etwa VwGH 7.6.2022, Ra 2020/18/0439, mwN), eine ähnliche Einschätzung vorgenommen haben (vgl. die zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung maßgebliche Country Guidance Syria, November 2021) bzw. vornehmen (vgl. die aktuelle Country Guidance Syria, Februar 2023).
12 Ungeachtet dessen sieht das BVwG keine Verfolgungsgefahr für die revisionswerbenden Parteien. Es trifft in der angefochtenen Entscheidung keine Feststellungen über die behaupteten regimekritischen Aktivitäten des Vaters der revisionswerbenden Parteien und der Reaktionen des syrischen Regimes darauf, sodass sich nicht abschließend beurteilen lässt, ob und in welchem Ausmaß das syrische Regime den Vater der revisionswerbenden Parteien als regimekritischen Oppositionellen ansieht und möglicherweise deshalb auch seine Angehörigen (die revisionswerbenden Parteien) verfolgt.
13 Gleichzeitig geht das BVwG allerdings davon aus, dass dem Vater „eine gewisse Verfolgung“ drohen könnte, ohne diese Relativierung näher zu begründen. Weshalb diese Verfolgungsgefahr - trotz der zitierten Berichtslage und Erwägungen des UNHCR und der EUAA - nicht auf die revisionswerbenden Parteien durchschlagen soll, wird vom BVwG nicht nachvollziehbar dargestellt.
14 Dass die Großmutter, wie das BVwG in der rechtlichen Beurteilung vermeint, keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt sei, ist im Übrigen eine Einschätzung, für die es in den Feststellungen und in der Beweiswürdigung keine Anhaltspunkte gibt. In der Beweiswürdigung wird lediglich angeführt, es sei „nicht plausibel, dass die Großmutter ... weiterhin in Syrien verweilt, obwohl sie als Mutter des Vaters der [revisionswerbenden Parteien], sollte dieser wirklich verfolgt sein, sodann ebenfalls einer großen Gefahr ausgesetzt wäre.“ (Seite 39 des Erkenntnisses). Dem bloßen Umstand, dass die Großmutter der revisionswerbenden Parteien noch in Syrien lebt und aus dem Land nicht geflohen ist, kommt freilich ohne Kenntnis ihrer Motivation und Gründe dafür kein Beweiswert zu.
15 Zutreffend führt die Revision auch aus, dass sich das BVwG mit dem aktenkundigen Brief des Vaters und den daraus für die Beweiswürdigung ableitbaren Schlüssen nicht hinreichend beschäftigt hat.
16 Das BVwG behandelt diesen Brief lediglich in einem kurzen Absatz der Entscheidungsbegründung (Seite 40 des Erkenntnisses) und führt zunächst aus, das Schreiben sei in Maschinenschrift verfasst und könne nicht auf seine Urheberschaft überprüft werden. Die Revision weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das BVwG im Verfahren keine Zweifel an der Authentizität des Schreibens geäußert habe. Bei Bekanntgabe allfälliger Zweifel hätte dies durch näher bezeichnete ergänzende Informationen beseitigt werden können. Dem ist insoweit zuzustimmen, als das BVwG nach der Aktenlage die Urheberschaft des Vaters als Schreiber des Briefes nicht angezweifelt hat, sondern in der mündlichen Verhandlung unter Vorhalt dieses Briefes offensichtlich von dessen Authentizität ausgegangen ist. Sollten beim BVwG nachträglich noch Zweifel entstanden sein, wäre im Sinne des Revisionsvorbringens zu erwarten gewesen, diese mit den Parteien zu erörtern, um ihnen Gelegenheit zur Aufklärung zu geben und sie insoweit nicht zu überraschen.
17 Im Übrigen vermeint das BVwG, dem Schreiben seien größtenteils nur notorische Tatsachen zur Lage in Syrien zu entnehmen, aus denen eine asylrelevante Verfolgung nicht abgeleitet werden könne. Der Beweiswert des Schreibens sei auch durch einen näher bezeichneten Widerspruch relativiert. Diesbezüglich legt die Revision hinreichend dar, dass der angebliche Widerspruch im Verfahren nicht erörtert worden sei und, wie näher ausgeführt wird, widerlegbar gewesen wäre. Das Schreiben enthält außerdem, wie dem BVwG erwidert werden muss, nicht bloß notorische Informationen zur Lage in Syrien, sondern es legt die (behaupteten) politischen Aktivitäten des Vaters der revisionswerbenden Parteien, seine Erlebnisse im Zuge von Inhaftierungen, seine Flucht und die Gründe für die Rückkehr der revisionswerbenden Parteien nach Syrien sowie die ihm bekannten weiteren Geschehnisse näher dar. Das BVwG hätte sich bei vollständiger Würdigung der vorhandenen - relevanten - Beweismittel mit alledem näher beschäftigen müssen, was zu Unrecht unterblieben ist.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf weiteres Revisionsvorbringen (etwa zur drohenden Zwangsrekrutierung des Drittrevisionswerbers oder der behaupteten Bedrohung der Erst- und Zweitrevisionswerberinnen aufgrund ihres weiblichen Geschlechts) näher eingegangen werden müsste.
19 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 7. März 2023
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022180290.L00Im RIS seit
04.04.2023Zuletzt aktualisiert am
04.04.2023