TE Vwgh Erkenntnis 2023/3/7 Ra 2022/18/0284

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Veröffentlicht am 07.03.2023
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
49/01 Flüchtlinge

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Dr. Hinterwirth als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision der H B, vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2, gegen das am 12. Mai 2022 mündlich verkündete und am 9. August 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgericht, W122 2208880-1/20E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von
EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin, eine iranische Staatsangehörige, stellte am 31. Juli 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie zusammengefasst damit begründete, sie habe als Lehrerin einer Privatschule ihren Schülerinnen gestattet, Kopftuch und Mantel abzulegen. Auch sie selbst habe die vorgeschriebene Kleidung nicht getragen. Außerdem habe sie den Kindern erlaubt, frei zu entscheiden, ob sie an religiösen Pflichtveranstaltungen teilnehmen wollten oder nicht. Deshalb sei sie kurz vor ihrer Ausreise über Beschwerden religiöser Eltern gekündigt worden, und sie habe eine Vorladung zur iranischen Geheimpolizei erhalten, der sie nicht entsprochen habe. Sie habe sich versteckt und anschließend das Land verlassen. Bei Rückkehr fürchte sie Verfolgung.

2        Im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) brachte die Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung erstmals vor, auch mit ihrem Ehemann Probleme gehabt zu haben und weiterhin zu haben. Sie sei mit ihm zwangsverheiratet worden, er habe sie jahrelang unter Druck gesetzt, geschlagen und schlecht behandelt. Sie lebten zwar seit 13 Jahren getrennt, er verweigere ihr jedoch die Scheidung. Im Hinblick darauf beantragte die Rechtsvertreterin der Revisionswerberin, dass die (weitere) Einvernahme der Revisionswerberin ausschließlich durch Personen weiblichen Geschlechts erfolgen solle. Diesem Antrag wurde vom (männlichen) erkennenden Richter nicht entsprochen und es wurde der fortgesetzten Verhandlung auch ein männlicher Dolmetscher beigezogen.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG den Antrag der Revisionswerberin auf internationalen Schutz - in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - zur Gänze ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Iran zulässig sei, und legte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

4        Das BVwG stellte fest, der Revisionswerberin drohe im Iran keine Verfolgung aufgrund (unterstellter) oppositioneller Gesinnung oder ihrer religiösen Einstellung. Sie bezeichne sich als konfessionslos, trete aber nicht spezifisch gegen den Islam oder gegen Religion generell auf. Auch von nicht-staatlichen Personen gehe für die Revisionswerberin keine Bedrohung aus.

5        Beweiswürdigend hielt das BVwG zum Fluchtvorbringen u.a. fest, ihr Vorbringen, sie habe ihren Schülerinnen als Lehrerin gestattet, das Kopftuch abzulegen und auch selbst keine Verschleierung getragen, sei nicht in einen Konnex zu ihrer Ausreise aus dem Iran zu stellen. Es sei nicht plausibel, dass sie tatsächlich im Visier des iranischen Geheimdienstes gewesen sei und eine Vorladung erhalten und missachtet habe. Insgesamt sei der Eindruck einer „konstruierten Bedrohungslage“ bzw. einer „konstruierten Fluchtgeschichte“ entstanden. Das BVwG gehe nicht davon aus, dass die Revisionswerberin im Iran aufgrund ihres Verhaltens als Lehrerin ins Visier des iranischen Geheimdienstes geraten sei, dort behördlich gesucht worden sei oder werde und ihr im Fall einer Rückkehr in den Iran eine Verfolgung drohe. Selbst bei Wahrunterstellung ihres Vorbringens, nämlich, dass sie tatsächlich eine Vorladung erhalten habe, sei nicht von Aktivitäten der Revisionswerberin auf einem derart hohen Niveau auszugehen, dass sie durch iranische Sicherheitsbehörden mit maßgebender Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Bedrohung identifiziert und qualifiziert worden wäre und ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates bestehe. Die Revisionswerberin sei kein religionspolitisch agierender Mensch, der etwa andere Menschen gegen den Islam aufbringen wolle, und es hätten sich ihre Aktivitäten im Iran nach ihrem eigenen Vorbringen im Wesentlichen darauf beschränkt, dass sie als Lehrerin ihren Schülerinnen erlaubt habe, Kopftuch und Mantel abzulegen, und dies auch selbst so praktiziert habe. Ansonsten sei sie nicht öffentlich gegen das Kopftuchverbot oder gegen den Islam oder sonst regimekritisch aufgetreten.

6        Die behauptete Bedrohung durch ihren Ehemann sei als „asyltaktische Steigerung des Fluchtvorbringens“ zu werten. Aber selbst bei Wahrunterstellung des Vorbringens, nämlich, dass sie von ihrem Ehemann misshandelt worden sei, sei nicht davon auszugehen, dass ihr im Falle einer Rückkehr durch diesen Gefahr drohe, weil sie nach eigenen Angaben bereits über ein Jahrzehnt (und weiträumig) getrennt von ihm gelebt habe und zu ihm kein Kontakt bestehe.

7        Im Zusammenhang mit der Nichtgewährung subsidiären Schutzes führte das BVwG unter anderem aus, die Revisionswerberin leide an keinen physischen oder psychischen (schweren oder lebensbedrohlichen) Erkrankungen. Sie nehme seit 20 Jahren Medikamente gegen Rheuma (Cortison). Diese medizinische Versorgung sei auch im Iran sichergestellt.

8        Zur Rückkehrentscheidung hielt das BVwG unter anderem fest, die Revisionswerberin habe in Österreich zwei volljährige Söhne, die bereits österreichische Staatsbürger seien, eine volljährige Tochter, die in Österreich asylberechtigt sei, sowie ein zehnjähriges Enkelkind. Sie lebe an der gleichen Adresse wie einer ihrer Söhne in einer daneben liegenden Wohnung und werde von den Kindern finanziell unterstützt. Im Iran lebten nach wie vor eine weitere Tochter der Revisionswerberin, vier Schwestern und fünf Brüder. Auf dieser Grundlage führte das BVwG aus, die Revisionswerberin habe zwar zu den in Österreich lebenden Angehörigen eine „gewisse Nahebeziehung“. Sie werde von ihren Kindern finanziell unterstützt und mit dem Auto überall hingefahren. Sie führe den Haushalt ihres Sohnes und übernehme gelegentlich die Betreuung ihres Enkelkindes. Ungeachtet dessen habe sich in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht der Eindruck eines intensiven Familienlebens ergeben. Ein schützenswertes Familienleben der Revisionswerberin in Österreich sei daher zu verneinen. Zum Schutz des Privatlebens der Revisionswerberin nahm das BVwG abschließend eine näher begründete Abwägung der für und gegen den Verbleib der Revisionswerberin in Österreich sprechenden Interessen vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Rückkehrentscheidung keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben der Revisionswerberin darstelle.

9        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, der erkennende Richter sei befangen gewesen. Er habe entgegen dem Antrag der Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung für das fortgesetzte Verfahren nicht zumindest eine weibliche Dolmetscherin bestellt. Außerdem habe er in der Befragung der Revisionswerberin Äußerungen getätigt, die seine Unvoreingenommenheit in Zweifel zögen. So habe er auf die Äußerung der Revisionswerberin, sie könne „nicht so richtig sagen, was sie meine“, gefragt, ob sie nicht eine ausgebildete Lehrerin sei. Des weiteren habe er es als bemerkenswert bezeichnet, dass die Revisionswerberin nach vier Jahren in Österreich immer noch im iranischen Kalender denke. Er habe geäußert, dass sie eine gebildete Frau sei und sie, soweit er den Akt kenne, keinerlei geistige Einschränkungen habe. Die Äußerung der Revisionswerberin, dass sie immer an Gott geglaubt habe, habe er mit der Antwort quittiert, ob dies auch schon als Baby zugetroffen habe, als sie noch nicht lesen und schreiben habe können. Abgesehen davon habe das BVwG veraltete Länderberichte (vom 22. Dezember 2021) herangezogen, da es im Entscheidungszeitpunkt bereits „die Version vom 23. Mai 2022“ gegeben habe. Es hätte feststellen müssen, dass die Revisionswerberin aufgrund ihrer Einstellung zu der im Iran herrschenden Kopftuchpflicht und ihrer Ablehnung, sich nach den religiösen Vorschriften zu kleiden, was sie als Lehrerin öffentlich praktiziert und ihre Schülerinnen zu Gleichem animiert habe, empfindliche und unverhältnismäßige Strafen zu erwarten habe. Ferner habe das BVwG die aktuelle Lage im Iran bezüglich der medizinischen Versorgung anhand der erwähnten aktuellen Länderberichte nicht beachtet. Danach hätte das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis kommen müssen, dass aktuell die notwendige medizinische Behandlung der Revisionswerberin im Iran nicht gesichert sei. Das BVwG habe seine amtswegigen Ermittlungspflichten auch insoweit verletzt, als es die Familienangehörigen der Revisionswerberin nicht einvernommen habe. Diese hätten darlegen können, dass die Revisionswerberin von ihnen überall mit dem Pkw hingebracht werde und die Familie bei der Betreuung des Enkelkindes unterstütze. Betreffend die Integration der Revisionswerberin sei außer Acht gelassen worden, dass sie eine 62jährige Person sei, sodass es nach der allgemeinen Lebenserfahrung naheliege, dass es gewisse Probleme beim Erlernen einer neuen Sprache gebe. Die Revisionswerberin sei aktenkundig über den Dienstleistungsscheck erwerbstätig und in einer Kirchengemeinde außerordentlich engagiert.

10       Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

11       Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12       Die Revision ist zulässig und (im Ergebnis) begründet.

13       Soweit die Revision eine Befangenheit des erkennenden Richters geltend macht, ist ihr nicht zu folgen. Die Revision bezieht sich auf den Ausschlussgrund nach § 7 Abs. 1 Z 3 AVG iVm den §§ 6 und 17 VwGVG. Danach haben sich Richter als befangen zu erklären und ihres Amtes zu enthalten, wenn (sonstige) wichtige Gründe vorliegen, die geeignet sind, ihre volle Unabhängigkeit in Zweifel zu ziehen.

14       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besteht das Wesen der Befangenheit grundsätzlich in der Hemmung einer unparteiischen Entscheidung durch unsachliche psychologische Motive. Dabei genügt es, dass eine Befangenheit mit Grund befürchtet werden muss, auch wenn der Entscheidungsträger tatsächlich unbefangen sein sollte, oder dass bei objektiver Betrachtungsweise auch nur der Anschein einer Voreingenommenheit entstehen könnte. Für die Beurteilung, ob eine Befangenheit in diesem Sinne vorliegt, ist maßgebend, ob eine am Verfahren beteiligte Person bei vernünftiger Würdigung aller konkreten Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Organwalters zu zweifeln (vgl. dazu etwa VwGH 17.5.2022, Ra 2021/19/0064, mwN).

15       Im gegenständlichen Fall leitet die Revision die behauptete Befangenheit des erkennenden Richters aus einzelnen seiner Fragen und Kommentare im Zuge der Einvernahme der Revisionswerberin bzw. daraus ab, dass er entgegen dem Antrag der Revisionswerberin nicht zumindest eine weibliche Dolmetscherin beigezogen habe.

16       In Bezug auf das letztgenannte Vorbringen gesteht die Revision allerdings zu, dass ein gesetzlicher Anspruch auf die gewünschte Vorgangsweise (nach § 20 Abs. 2 AsylG 2005) nicht bestand. Ihre implizite Behauptung, die Beiziehung einer weiblichen Dolmetscherin in der mündlichen Verhandlung sei aus unsachlichen Motiven des erkennenden Richters nicht erfolgt, bleibt unbelegt und spekulativ. Auch die von der Revision kritisierten Fragen und Kommentare des Verhandlungsrichters gegenüber der Revisionswerberin zeigen nicht, dass er an einer unvoreingenommenen Beurteilung des gegenständlichen Falles gehindert gewesen wäre, auch wenn diese zum Teil eine zu Recht kritisierte unangebrachte Ironie aufgewiesen haben.

17       Keine Berechtigung kommt auch dem Vorbringen der Revision zu, das BVwG habe die (neuere) Version 5 des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 23. Mai 2022 nicht beachtet, übersieht sie dabei doch, dass das angefochtene Erkenntnis bereits mit seiner Verkündung am 12. Mai 2022 erlassen wurde und zu diesem Zeitpunkt das neue Länderinformationsblatt noch nicht vorlag.

18       Ungeachtet dessen ist sie mit ihrem Vorbringen im Ergebnis insoweit im Recht, als sich aus der angefochtenen Entscheidung nicht abschließend beurteilen lässt, ob die Revisionswerberin bei Rückkehr in den Iran asylrelevante Verfolgung erfahren könnte.

19       Der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses ist zweifelsfrei lediglich zu entnehmen, dass das BVwG die behauptete Vorladung der Revisionswerberin durch den iranischen Geheimdienst für nicht glaubhaft erachtete. Keine Feststellungen traf das BVwG aber dazu, ob die Revisionswerberin, wie von ihr vorgebracht, ihren Schülerinnen gestattet hat, Kopftuch und Mantel entgegen den iranischen Vorschriften abzulegen, ob sie selbst gegen diese Vorschriften verstoßen hat, ob sie den Schulkindern erlaubt hat, religiöse Pflichtveranstaltungen nach freier Wahl zu besuchen, und ob sie deshalb aus dem Schuldienst - aufgrund von Beschwerden religiöser Eltern - gekündigt worden ist.

20       Dass diese Feststellungen für die Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz von Bedeutung sein können, erhellt - entgegen der Alternativbegründung des BVwG, wonach selbst bei Wahrunterstellung ihres Vorbringens kein anderes Ergebnis möglich sei - aus den getroffenen Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis. Danach müssten alle Frauen im Iran ab einem Alter von neun Jahren die islamischen Bekleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit einhalten. Das Kopftuch sei zwingend vorgeschrieben. Seit Ende Dezember 2017 forderten immer mehr iranische Frauen eine Abschaffung der Kopftuchpflicht. Allerdings seien zahlreiche Frauen, die öffentlich „ihren Schleier“ abgenommen hätten, in Haft genommen und zu Peitschenhieben verurteilt worden. In einigen Fällen seien auch besonders harte Haftstrafen verhängt worden. Die Sittenpolizei und Bürgerwehren gingen massiv gegen Frauen und Mädchen vor, um den Kopftuchzwang durchzusetzen, der gesetzlich vorgeschrieben sei.

21       Bei dieser Sachlage hätte sich das BVwG mit dem oben dargestellten Vorbringen der Revisionswerberin und den zu erwartenden Folgen bei Rückkehr in den Iran mehr als bisher auseinandersetzen müssen.

22       Für die Asylgewährung kommt es nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nämlich auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Asylstatus zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche „Vorverfolgung“ für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung (hier: des BVwG) bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 21.12.2022, Ra 2021/18/0411, mwN).

23       Selbst wenn die Revisionswerberin, wie das BVwG feststellte, bislang vom iranischen Geheimdienst keine Vorladung erhalten haben sollte, wäre zu überprüfen, ob ihr wegen der behaupteten Vorfälle bei Rückkehr Verfolgung drohen könnte. Dazu bedürfte es aber konkreter Feststellungen über das Verhalten der Revisionswerberin als Lehrerin und der behaupteten Kündigung durch die Schulbehörde aufgrund von Beschwerden religiöser Eltern.

24       Dass sich diese erübrigt, weil der Revisionswerberin selbst bei Wahrunterstellung ihres Vorbringens keine Verfolgung drohe, hat das BVwG nicht nachvollziehbar begründet. Zum einen hat es die zitierten Länderfeststellungen in seine Erwägungen nicht erkennbar einbezogen, zum anderen erweist sich seine Beurteilung, die Revisionswerberin habe ihre islamkritische Haltung nicht öffentlich gemacht bzw. sei „kein religionspolitisch agierender Mensch“, angesichts der behaupteten (und nicht beweisgewürdigten) Vorfälle in der Schule für unzureichend begründet.

25       Das angefochtene Erkenntnis weist daher wesentliche Begründungsmängel auf, die eine abschließende Beurteilung des Falles nicht erlauben, weshalb es zur Gänze keinen Bestand haben kann.

26       Zur Vermeidung allfälliger Rechtswidrigkeiten im fortzusetzenden Verfahren ist abschließend festzuhalten, dass auch die Beurteilung der Schutzwürdigkeit des Familienlebens der Revisionswerberin mit ihren in Österreich lebenden (aufenthaltsberechtigten) nahen Angehörigen Begründungsmängel aufweist. Schon die getroffenen Feststellungen (die Revisionswerberin wird von ihren Kindern finanziell unterstützt und „mit dem Auto überall hingefahren“) deuten auf mögliche Abhängigkeiten insbesondere der Revisionswerberin von ihren Angehörigen hin; die räumliche Nähe ihres Wohnortes zu einem ihrer Söhne (die Revisionswerberin wohnt an derselben Adresse) steht in einem unaufgeklärten Spannungsverhältnis zu der Auffassung des BVwG, es habe in der mündlichen Verhandlung den Eindruck eines nicht intensiven Familienlebens gewonnen (vgl. zu den maßgeblichen Kriterien im Zusammenhang mit dem Schutz des Familienlebens unter Erwachsenen etwa VwGH 4.3.2020, Ra 2020/18/0065, mwN).

27       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

28       Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abzusehen.

29       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 7. März 2023

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022180284.L00

Im RIS seit

04.04.2023

Zuletzt aktualisiert am

04.04.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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