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L1000 GemeindeordnungNorm
B-VG Art117 Abs4Leitsatz
Aufhebung des Bebauungsplans und Ergänzenden Bebauungsplans einer Tiroler Gemeinde wegen gesetzwidrigen Ausschlusses der Öffentlichkeit von der gesamten Sitzung des Gemeinderates auf Grund der COVID-19 Pandemie; Zulässigkeit der Teilnahme von Bürgern an Gemeinderatssitzungen nach der COVID-19-NotmaßnahmenV mangels Erlassung von – die Öffentlichkeit ausschließenden – verkehrsbeschränkenden MaßnahmenRechtssatz
Gesetzwidrigkeit des Bebauungsplans und Ergänzenden Bebauungsplans B22 Dorfstraße/Hintere Gasse - Bauwerk der Gemeinde Kematen in Tirol vom 27.11.2020.
Der Bebauungsplan und Ergänzende Bebauungsplan B22 Dorfstraße/Hintere Gasse - Bauwerk wurde vom Gemeinderat der Gemeinde Kematen in Tirol in dessen Sitzung am 27.11.2020 beschlossen. Die Öffentlichkeit war für diese Sitzung des Gemeinderates kraft eines Beschlusses des Gemeinderates ausgeschlossen. An diesem Tag galt zwar gemäß §1 Abs1 COVID-19-Notmaßnahmenverordnung idF BGBl II 585/2020 eine verkehrsbeschränkende Maßnahme in Gestalt einer Ausgangsregelung, nach der das "Verlassen des eigenen privaten Wohnbereichs und der Aufenthalt außerhalb des eigenen privaten Wohnbereichs" nur zu bestimmten, in dieser Vorschrift genannten Zwecken zulässig war. Ausdrücklich erlaubt war auf Grund Z6 leg cit jedoch das Verlassen des privaten Wohnbereiches und der Aufenthalt außerhalb von diesem "zur Wahrnehmung von unaufschiebbaren behördlichen oder gerichtlichen Wegen, einschließlich der Teilnahme an öffentlichen Sitzungen der allgemeinen Vertretungskörper und an mündlichen Verhandlungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit".
Der Ausschluss der Öffentlichkeit gemäß §36 Abs3 erster Satz TGO ist auf jene Personen beschränkt, die auf Grund einer verkehrsbeschränkenden Maßnahme einer Sitzung des Gemeinderates nicht beiwohnen dürfen. Die Tiroler Landesregierung weist jedoch darauf hin, dass §1 Abs1 Z6 COVID-19-Notmaßnahmenverordnung "zum damaligen Zeitpunkt - nach Abstimmung mit dem Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz - von den Gesundheitsbehörden differenziert [so] ausgelegt" worden sei, dass nur im Fall der Behandlung jener Angelegenheiten, in denen nach Art117 Abs4 B-VG ein "absolutes Verbot des Ausschlusses der Öffentlichkeit" besteht (Haushaltsvoranschlag, Rechnungsabschluss), die Teilnahme der Öffentlichkeit an einer Sitzung des Gemeinderates zwingend zu garantieren und demnach nicht vom generellen Ausgangsverbot umfasst gewesen sei.
Einer solchen Auslegung des §1 Abs1 Z6 COVID-19-Notmaßnahmenverordnung steht jedoch (schon) der eindeutige Wortlaut dieser Bestimmung entgegen. Das Verlassen des privaten Wohnbereiches und der Aufenthalt außerhalb von diesem war "zur Wahrnehmung von unaufschiebbaren behördlichen oder gerichtlichen Wegen, einschließlich der Teilnahme an öffentlichen Sitzungen der allgemeinen Vertretungskörper [...] zur Wahrung des Grundsatzes der Öffentlichkeit" ausdrücklich erlaubt. Eine Einschränkung der Möglichkeit der Bürger zur Teilnahme an Gemeinderatssitzungen auf jene Angelegenheiten, bei denen nach Art117 Abs4 B-VG die Öffentlichkeit unter keinen Umständen ausgeschlossen werden darf, ergibt sich aus dieser Bestimmung nicht.
§36 Abs3 erster Satz TGO trifft für den Fall von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Auftreten von nach dem Epidemiegesetz 1950 anzeigepflichtigen Krankheiten, darunter COVID-19, eine spezielle Regelung. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit ist im Lichte des Öffentlichkeitsgebotes des Art117 Abs4 B VG, dem der Wortlaut des §36 Abs3 erster Satz TGO ("soweit") Rechnung trägt, auf jene Personen beschränkt, die auf Grund einer verkehrsbeschränkenden Maßnahme einer Sitzung des Gemeinderates nicht beiwohnen dürfen. Demgegenüber bietet, die allgemeine Bestimmung des §36 Abs3 zweiter Satz TGO keine Grundlage für einen weitergehenden, nicht durch eine verkehrsbeschränkende Maßnahme begründeten Ausschluss der Öffentlichkeit aus Anlass des Auftretens einer nach dem Epidemiegesetz 1950 anzeigepflichtigen Krankheit.
Auch im Lichte des Öffentlichkeitsgebotes des Art117 Abs4 B-VG erlaubt allein das Auftreten einer der Anzeigepflicht nach dem Epidemiegesetz 1950 unterliegenden Krankheit nicht die Annahme einer Ausnahme im Sinne des §36 Abs3 zweiter Satz TGO, die den Ausschluss der Öffentlichkeit rechtfertigen könnte, soweit dieses Auftreten, wie im vorliegenden Fall, keinen Anlass für verkehrsbeschränkende Maßnahmen, die der Teilnahme der Öffentlichkeit entgegenstehen, gegeben hat.
Dem Geschehen im Gemeinderat selbst kommt eine unmittelbar über die Mitglieder des Gemeinderates hinausgehende, potentiell alle Gemeindebürger betreffende Bedeutung zu. Das Öffentlichkeitsgebot des Art117 Abs4 B-VG dient der Transparenz der Beratungen und Abstimmungen des Gemeinderates und erfüllt damit eine demokratische Legitimation stiftende Funktion. Es ist demnach für die Wahrung des Öffentlichkeitsgebotes nicht von Relevanz, ob die Gemeindebürger bereits bei der Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen im Vorfeld eines Beschlusses des Gemeinderates einzubinden sind, wie dies im Planungsverfahren regelmäßig der Fall ist.
Ein nicht dem Gesetz entsprechender Ausschluss der Öffentlichkeit von einer Sitzung des Gemeinderates stellt einen beachtlichen Verfahrensmangel dar der die Gesetzwidrigkeit der Verordnung bewirkt. Da der Gemeinderat der Gemeinde Kematen in Tirol für die gesamte Sitzung den Ausschluss der Öffentlichkeit allein wegen des Auftretens von COVID-19 und damit ohne Vorliegen der Voraussetzungen nach §36 Abs3 TGO verfügt hat, ist die in dieser Sitzung beschlossene Verordnung gesetzwidrig.
Die Gesetzwidrigkeit der Verordnungserlassung beschränkt sich im vorliegenden Fall nicht auf den in Prüfung gezogenen präjudiziellen Teil der Verordnung (ein bestimmtes Grundstück), sondern betrifft die gesamte Verordnung. Art139 Abs3 B-VG soll nach der Rsp den Verfassungsgerichtshof in die Lage zu versetzen, in all jenen Fällen, in denen die festgestellte Gesetzwidrigkeit der präjudiziellen Verordnungsstelle offenkundig auch alle übrigen Verordnungsbestimmungen erfasst, die ganze Verordnung als gesetzwidrig aufzuheben. Eine am Zweck des Gesetzes orientierte Auslegung ergibt, dass der im vorliegenden Verfahren festgestellte Mangel den im Art139 Abs3 Z1 bis 3 B-VG ausdrücklich genannten Fällen gleichzuhalten ist.
(Anlassfall E3866/2021, E v 09.03.2023; Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses).
Entscheidungstexte
Schlagworte
Bebauungsplan, COVID (Corona), Verordnungserlassung, Öffentlichkeitsprinzip, Gemeinderat, Auslegung teleologische, VfGH / VerwerfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2023:V1.2023Zuletzt aktualisiert am
30.03.2023