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62 ArbeitsmarktverwaltungNorm
B-VG Art7 Abs1 / GesetzLeitsatz
Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung des AlVG betreffend den Ausschluss mehrfach geringfügig Beschäftigter –, deren Einkommen die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet – von der Arbeitslosenversicherungspflicht; Unsachlichkeit des Ausschlusses von der Gruppe abhängig Beschäftigter wegen gleicher Schutzbedürftigkeit bei Wegfall des ErwerbseinkommensRechtssatz
Aufhebung der Wort- und Zeichenfolge "Abs2" in §1 Abs4 erster Satz des AlVG idF BGBl I 139/1997. Inkrafttreten der Aufhebung mit Ablauf des 31.03.2024 in Kraft. Im Übrigen: Abweisung des Antrags des BVwG.
Die Arbeitslosenversicherung bildet jenen Versicherungszweig der sozialen Sicherheit, der den Schutz vor dem Risiko des Verlustes der Beschäftigung und des damit einhergehenden Verlustes der Unterhaltsmittel zum Gegenstand hat. Im Hinblick auf das Ziel der Arbeitslosenversicherung, die Folgen einer Arbeitslosigkeit abzumildern, sowie im Hinblick auf die Schutzbedürftigkeit innerhalb der Gruppe abhängig beschäftigter Personen besteht jedoch kein wesentlicher Unterschied zwischen Dienstnehmern, deren Entgelt die monatliche Geringfügigkeitsgrenze bereits auf Grund eines Beschäftigungsverhältnisses überschreitet, und jenen, deren Entgelt die Geringfügigkeitsgrenze auf Grund mehrerer geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse überschreitet. Dass geringfügige Beschäftigungsverhältnisse typischerweise nicht eingegangen werden, um ein existenzsicherndes Einkommen zu erwerben, trifft gerade nicht auf Beschäftigte zu, die mehreren geringfügigen Beschäftigungen nachgehen und deren Entgelt zusammengerechnet sehr wohl die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet. Wenn innerhalb der Gruppe der Dienstnehmer mit einem nicht bloß geringfügigen Entgelt unterschieden, und (nur) ein Teil der Gruppe von der Arbeitslosenversicherungspflicht des §1 Abs1 lita AlVG ausgenommen wird, bedarf es hiefür sachlicher Gründe.
Für den VfGH ist nicht erkennbar, weshalb mehrfach geringfügig Beschäftigte aus verwaltungsökonomischen und legistischen Gründen nicht in die Arbeitslosenversicherung, sehr wohl aber in die Vollversicherung des ASVG - also in andere Zweige der Sozialversicherung - einbezogen werden können. Denn das Versicherungs- und Leistungsrecht des AlVG ist bereits in seiner derzeitigen Form eng mit der Krankenversicherung des ASVG verzahnt. Nicht tragfähig ist weiters der Einwand, dass bei einer Arbeitslosenversicherungspflicht mehrfach geringfügig beschäftigter Personen unklar sei, ob der Versicherungsfall erst bei Wegfall aller Beschäftigungsverhältnisse oder bereits bei Unterschreiten der Geringfügigkeitsgrenze eintrete. Gemäß §12 Abs6 lita AlVG gilt nämlich nur derjenige als arbeitslos, der aus einer oder mehreren Beschäftigungen ein Entgelt erzielt, das die Geringfügigkeitsgrenze nicht übersteigt. §19a ASVG idF bis zum Inkrafttreten des ASRÄG 1997 sah eine Selbstversicherung bei mehrfacher (geringfügiger) Beschäftigung vor, an die eine Arbeitslosenversicherungspflicht gemäß §1 Abs1 AlVG idF vor Inkrafttreten des ASRÄG 1997 knüpfte. Im Übrigen ist der Gesetzgeber nicht gehindert, Begleitregelungen für den Versicherungsfall mehrfach geringfügig Beschäftigter zu schaffen, um allenfalls bestehenden Unklarheiten zu beseitigen und eine taugliche Bemessungsgrundlage festzulegen.
Vor dem Hintergrund des Zieles der Arbeitslosenversicherung, die Folgen einer Arbeitslosigkeit abzumildern, kommt dem Schutzbedürfnis mehrfach geringfügig beschäftigter Dienstnehmer, bei Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze in die Arbeitslosenversicherung einbezogen zu werden, somit mehr Gewicht zu als dem damit verbundenen administrativen Mehraufwand im Versicherungs- und Leistungsrecht des AlVG. Es kann auch nicht von bloßen Härtefällen die Rede sein: Die ungeachtet der Entgelthöhe geltende Ausnahme mehrfach geringfügig beschäftigter Dienstnehmer von der Arbeitslosenversicherungspflicht ist nämlich nicht nur die zufällige Folge einer an sich sachlichen Regelung bloß in einem Härtefall, sondern in der Regelung des §1 Abs2 litd iVm Abs4 erster Satz AlVG angelegt.
Die vom BVwG abgeleitete Versicherungsfreiheit mehrfach geringfügig beschäftigter Dienstnehmer erscheint nicht zwingend. Eine verfassungskonforme Interpretation scheidet jedoch aus, weil ein Vollzug der Versicherungspflicht von mehrfach geringfügig beschäftigten Dienstnehmern im derzeitigen Versicherungs- und Leistungsrecht des AlVG mit Schwierigkeiten verbunden wäre, die einer gesetzlichen Regelung bedürfen.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Arbeitslosenversicherung, Sozialversicherung, Pflichtversicherung, Rechtspolitik, Auslegung systematische, Verwaltungsökonomie, Auslegung verfassungskonforme, VfGH / Verwerfungsumfang, VfGH / Fristsetzung, VfGH / Bedenken, Sozialpolitik, VfGH / GerichtsantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2023:G296.2022Zuletzt aktualisiert am
29.03.2023