TE Vfgh Erkenntnis 2021/2/26 E4697/2019

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Veröffentlicht am 26.02.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art10
Anti-GesichtsverhüllungsG §2 Abs1
VStG §50, §64
VfGG §7 Abs1
  1. VStG § 50 heute
  2. VStG § 50 gültig ab 01.01.2019 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 57/2018
  3. VStG § 50 gültig von 01.07.2013 bis 31.12.2018 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  4. VStG § 50 gültig von 01.01.2011 bis 30.06.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 111/2010
  5. VStG § 50 gültig von 01.08.2002 bis 31.12.2010 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 117/2002
  6. VStG § 50 gültig von 01.01.2002 bis 31.07.2002 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 137/2001
  7. VStG § 50 gültig von 01.01.1999 bis 31.12.2001 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 158/1998
  8. VStG § 50 gültig von 01.01.1993 bis 31.12.1998 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 867/1992
  9. VStG § 50 gültig von 01.02.1991 bis 31.12.1992
  1. VfGG § 7 heute
  2. VfGG § 7 gültig ab 22.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 16/2020
  3. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 21.03.2020 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 101/2014
  4. VfGG § 7 gültig von 01.01.2015 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 92/2014
  5. VfGG § 7 gültig von 01.03.2013 bis 31.12.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  6. VfGG § 7 gültig von 01.07.2008 bis 28.02.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  7. VfGG § 7 gültig von 01.01.2004 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2003
  8. VfGG § 7 gültig von 01.10.2002 bis 31.12.2003 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 123/2002
  9. VfGG § 7 gültig von 01.01.1991 bis 30.09.2002 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 329/1990
  10. VfGG § 7 gültig von 01.07.1976 bis 31.12.1990 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 311/1976

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Geldstrafe nach dem Anti-GesichtsverhüllungsG bei einer für die Milchwirtschaft werbenden Veranstaltung; kein Verstoß gegen das Verhüllungsverbot wegen des Tragens einer Tiermaske mit der Intention, auf das mit den Produktionsbedingungen von Milchprodukten verbundene Tierleid hinzuweisen

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer engagiert sich für eine Tierschutzorganisation und möchte kritisch über die Bedingungen der Milchwirtschaft in Österreich und das seiner Meinung nach damit verbundene Tierleid informieren. Am Nachmittag des 9. Juni 2018 verteilte der Beschwerdeführer bei der Veranstaltung "NÖM Milchstraße" in Baden Flyer, wobei er ein Kuhkostüm samt Kuhmaske trug. Auch nach mehrfacher Aufforderung der daraufhin einschreitenden Beamten der Polizeiinspektion Baden setzte der Beschwerdeführer die Maske nicht ab und wurde aus diesen Gründen festgenommen.

2. Mit Straferkenntnis vom 25. Oktober 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Baden über den Beschwerdeführer gestützt auf §2 Abs1 des Anti-Gesichtsverhüllungsgesetzes (AGesVG) eine Geldstrafe in Höhe von € 150,–, im Falle der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 336 Stunden, nebst Kostenbeitrag gemäß §64 Abs2 VStG in Höhe von € 15,–, da er sich am 9. Juni 2018 um 17.02 Uhr im Gemeindegebiet Baden, ************* am Eingang der Fußgängerzone gegenüber der dortigen Filiale der *********, aufgehalten und seine Gesichtszüge durch das Tragen des Kuhkostüms samt Kuhmaske so verborgen habe, dass er nicht mehr erkennbar gewesen sei.

3. Der gegen das Straferkenntnis vom 25. Oktober 2018 erhobenen Beschwerde gab das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich mit Erkenntnis vom 8. November 2019 im Wesentlichen unter Bestätigung des behördlich festgestellten Sachverhalts insofern statt, als es die festgesetzte Geldstrafe auf € 70,– und die festgesetzte Ersatzfreiheitsstrafe auf 48 Stunden herabsetzte und den Kostenbeitrag mit € 10,– neu festsetzte. Zum Strafgrund führte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass eine Verwaltungsübertretung als erwiesen angesehen werden könne, da die Voraussetzungen des §2 Abs1 AGesVG erfüllt seien und eine Ausnahme gemäß §2 Abs2 AGesVG nicht vorliege; insbesondere bestünde kein Zusammenhang mit einer künstlerischen Darbietung.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung, sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer die Absicht gehabt habe, auf eine bestimmte aktionistische Weise seine politische Meinung kundzumachen. Er habe die Verkleidung als Kuh gewählt, um damit auf das seiner Meinung nach unverhältnismäßige Tierleid hinzuweisen, das mit der Milchproduktion verbunden sei, und zu diesem Thema Flugblätter zu verteilen. Die Bezirkshauptmannschaft Baden bzw das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hätten mit ihren Entscheidungen "unmittelbar diese Manifestation seiner politischen Ideen" sanktioniert.

5. Die Bezirkshauptmannschaft Baden und das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich haben die Verwaltungs- bzw Gerichtsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Rechtslage

Die im vorliegenden Fall maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:

1. Art10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), BGBl 210/1958, idF BGBl III 30/1998 lautet:

"Artikel 10 – Freiheit der Meinungsäußerung

(1) Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen.

(2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten."

2. Das Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit (Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz – AGesVG) in der in Geltung stehenden Stammfassung BGBl I 68/2017 lautet:

"Ziel

§1. Ziele dieses Bundesgesetzes sind die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich. Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, dessen Gelingen von der Mitwirkung aller in Österreich lebenden Menschen abhängt und auf persönlicher Interaktion beruht.

Verhüllungsverbot

§2. (1) Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen. Die Verwaltungsübertretung kann durch Organstrafverfügung gemäß §50 VStG in der Höhe von bis zu 150 Euro geahndet werden. Öffentliche Orte oder öffentliche Gebäude sind Orte, die von einem nicht von vornherein beschränkten Personenkreis ständig oder zu bestimmten Zeiten betreten werden können, einschließlich der nicht ortsfesten Einrichtungen des öffentlichen und privaten Bus-, Schienen-, Flug- und Schiffsverkehrs.

(2) Ein Verstoß gegen das Verhüllungsverbot gemäß Abs1 liegt nicht vor, wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat.

Zuständigkeit

§3. Die Durchführung des Verwaltungsstrafverfahrens wegen eines Verstoßes gegen §2 obliegt den Bezirksverwaltungsbehörden, im Gebiet einer Gemeinde, für das die Landespolizeidirektion zugleich Sicherheitsbehörde erster Instanz ist, dieser. §86 Abs2 Sicherheitspolizeigesetz (SPG), BGBl Nr 566/1991, gilt sinngemäß.

Vollziehung

§4. Mit der Vollziehung dieses Bundesgesetzes ist der Bundesminister für Inneres betraut.

Inkrafttreten

§5. Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Oktober 2017 in Kraft."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach Art10 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen sowie Werbemaßnahmen erfasst. Auch die Mitteilung von Tatsachen unterfällt daher dem Schutzbereich des Art10 EMRK (vgl VfSlg 19.091/2010 mwN).

Die "Mitteilung von Nachrichten oder Ideen" im Sinne des Art10 Abs1 EMRK kann dabei nicht nur sprachlich (auch durch Plakate – VfSlg 18.652/2008 – oder Aufdrucke – VfSlg 19.159/2010), sondern auch durch andere Formen der Kommunikation wie beispielsweise Symbole (vgl etwa EGMR 8.7.2008, Fall Vajnai, Appl 33.629/06; 3.11.2011, Fall Fratanoló, Appl 29.459/10, sowie bereits VfSlg 1207/1929; vgl auch VfSlg 19.662/2012), künstlerische Ausdrucksformen (VfSlg 18.893/2009) oder sonstige Verhaltensweisen erfolgen, wenn und insoweit diesen gegenüber Dritten ein kommunikativer Gehalt zukommt (vgl VfSlg 19.662/2012; zu Akten nonverbaler Kommunikation vgl weiters EGMR 23.9.1998, Fall Steel, Appl 24.838/94, Z92). Dass derartige Mitteilungen als belästigend, ja unter Umständen auch als störend oder schockierend empfunden werden, ändert ebenso wenig etwas am grundsätzlichen Schutz derartiger kommunikativer Verhaltensweisen durch Art10 EMRK (EGMR 7.12.1976, Fall Handyside, Appl 5493/72, Z43 ff.; 24.5.1988, Fall Müller, Appl 10.737/84, Z27 ff.; VfSlg 10.700/1985) wie der Umstand, dass diese primär aus finanziellen Antrieben gesetzt werden (EGMR 24.2.1994, Fall Casado Coca, Appl 15.450/89, Z35).

Das inkriminierte Verhalten des Beschwerdeführers (Tragen eines Kuhkostüms samt Kuhmaske) ist jedenfalls eine Kommunikationsform, die im Zusammenhang mit der Intention des Beschwerdeführers steht, kritisch über die Bedingungen der Milchproduktion, auch durch Verteilen von Flugblättern zu diesem Thema, zu informieren. Die Verkleidung als Kuh dient dabei als Stilmittel, die Aufmerksamkeit der Personen auf sich zu ziehen und diese vom Standpunkt, dass Milchproduktion Tierleid erzeugt, zu überzeugen. Die angefochtene Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich, die eine Bestrafung nach §2 AGesVG bestätigt, greift in die durch Art10 EMRK geschützte Meinungsäußerungsfreiheit ein.

3. Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit sind nach Art10 Abs2 EMRK zulässig, sie müssen jedoch im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sein (vgl nur EGMR 26.4.1979, Fall Sunday Times, Appl 6538/74, EuGRZ1979, 386 [390]; 24.2.1994, Fall Casado Coca, Appl 15.450/89, sowie VfSlg 12.886/1991, 14.218/1995, 14.899/1997, 16.555/2002).

3.1. Das AGesVG ist – wie auch das Integrationsgesetz (IntG) – einhergehend mit Änderungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 (StbG) sowie der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO) erlassen worden (sogenanntes "Integrationspaket"). Es ist am 16. Mai 2017 vom Nationalrat beschlossen und am 8. Juni 2017 im Bundesgesetzblatt (Teil I) verlautbart worden; in Kraft getreten ist es am 1. Oktober 2017.

3.2. §1 AGesVG nennt als Ziele ebendieses Bundesgesetzes die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich und hebt dabei die Bedeutung von Integration als gesamtgesellschaftlichen Prozess hervor.

§2 Abs1 erster Satz AGesVG verbietet, an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise zu verhüllen oder zu verbergen, dass sie nicht mehr erkennbar sind.

Ein Verstoß gegen dieses Verhüllungsverbot liegt gemäß §2 Abs2 AGesVG jedoch nicht vor, wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat.

3.3. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat auf Grund des Verhaltens des Beschwerdeführers eine Übertretung des §2 Abs1 erster Satz AGesVG als erwiesen angesehen und dabei auch eine zulässige Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge gemäß §2 Abs2 AGesVG verneint. Auf diese Weise hat das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich §2 AGesVG fälschlich einen verfassungswidrigen, die besonderen Schranken des Art10 ERMK missachtenden Inhalt unterstellt:

3.3.1. Der Verfassungsgerichtshof teilt zunächst die Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach §2 AGesVG vor dem Hintergrund der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der dem Umstand, dass ein Verhüllungsverbot nicht ausdrücklich auf der religiösen Konnotation der umstrittenen Kleidung beruht, sondern nur auf der Tatsache, dass sie das Gesicht verhüllt, Bedeutung beimisst (vgl EGMR 1.7.2014, Fall S.A.S., Appl 43.835/11, Rz 151 sowie 11.12.2017, Fall Dakir, Appl 4619/12, Rz 58), einen "neutralen" Ansatz verfolge, indem die Verhüllung bzw das Verbergen der Gesichtszüge in der Öffentlichkeit allgemein und nicht bloß in religiösem Zusammenhang untersagt werde und Ausnahmen für bestimmte näher definierte Bereiche gemacht würden (vgl VwGH 18.6.2020, Ro 2020/01/0006).

3.3.2. §2 Abs2 AGesVG definiert Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot, Gesichtszüge in der Öffentlichkeit zu verhüllen oder zu verbergen, aber erlaubt dem Bundes- oder Landesgesetzgeber darüber hinaus weitere Ausnahmen – insoweit eine Zuständigkeit vorliegt – zu normieren. Dies macht deutlich, dass §2 Abs2 AGesVG bzw die darin enthaltene Aufzählung der Ausnahmen nach dem Willen des Gesetzgebers jedenfalls nicht als taxative Aufzählung bzw abschließende Regelung zu bewerten ist (vgl auch die Erläuterungen zur RV 1586 BlgNR, 25. GP, 12, wonach die Ausnahmeregelung auch dann greifen soll, wenn sie im zeitlichen Zusammenhang zu einer gesetzlich vorgesehenen Verhüllung steht; auch die mehrfache Verwendung des Begriffs "etwa" verdeutlicht den beispielhaften Charakter der Ausnahmetatbestände).

Eine eben solche Konstellation liegt hier vor: Wie bereits oben näher dargestellt, ist aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl zB EGMR 28.10.2014, Fall Gough, Appl 49.327/11) sowie des Verfassungsgerichtshofes (vgl zB VfSlg 19.961/2015 zur Untersagung einer als "Tierkreuzzug" bezeichneten Versammlung, in deren Rahmen auch Tiermasken verwendet wurden, um Aufmerksamkeit zu erzeugen) nämlich ableitbar, dass in Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung auch das Einsetzen von Stilmitteln erlaubt sein muss. Vor diesem Hintergrund ist – und dies ist verfassungsrechtlich geboten – der Abs2 des §2 AGesVG dahin zu verstehen, dass als Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot so wie bei den Tatbeständen "im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen" auch die Verwendung eines Stilmittels (hier: Tiermaske) im Rahmen "der freien Meinungsäußerung" erlaubt sein muss.

Davon unberührt bleiben freilich sicherheitsbehördliche Befugnisse sowie damit im Zusammenhang stehende Mitwirkungs- und Duldungspflichten insbesondere im Hinblick auf die Identitätsfeststellung gemäß §35 Abs3 zweiter Satz SPG.

3.3.3. Ausgehend von diesem Verständnis des §2 Abs2 AGesVG und dem Umstand, dass der Beschwerdeführer die Kuhmaske und das Kuhkostüm eingesetzt hat, um im Umfeld einer die Milchwirtschaft bewerbenden Veranstaltung auf die Produktionsbedingungen bei Milchprodukten und das nach Auffassung des Maskenträgers damit verbundene Tierleid aufmerksam zu machen, ist der Verfassungsgerichtshof der Auffassung, dass dies von der Ausnahme des §2 Abs2 AGesVG gedeckt ist.

3.3.4. Da es dem Beschwerdeführer mit dieser Intention eben nicht von vornherein bloß um die Vereitelung oder Erschwerung der Feststellung seiner Identität ging – in solchen Fällen steht Art10 EMRK einer Bestrafung wegen Verstoßes gegen §2 AGesVG nicht entgegen –, ist der schlichte Hinweis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich in seiner Entscheidung darauf, dass eine Verwaltungsübertretung im Hinblick auf §2 AGesVG "als erwiesen angesehen werden" könne, nicht geeignet, die Entscheidung zu tragen.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Meinungsäußerungsfreiheit, Entscheidungsbegründung, Tierhaltung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E4697.2019

Zuletzt aktualisiert am

28.03.2023
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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