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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art10Leitsatz
Verletzung im Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit durch Verhängung einer Geldstrafe nach dem Anti-GesichtsverhüllungsG bei einer für die Milchwirtschaft werbenden Veranstaltung; kein Verstoß gegen das Verhüllungsverbot wegen des Tragens einer Tiermaske mit der Intention, auf das mit den Produktionsbedingungen von Milchprodukten verbundene Tierleid hinzuweisenRechtssatz
Das inkriminierte Verhalten des Beschwerdeführers (Tragen eines Kuhkostüms samt Kuhmaske bei der Veranstaltung "NÖM Milchstraße") ist jedenfalls eine Kommunikationsform, die im Zusammenhang mit der Intention des Beschwerdeführers steht, kritisch über die Bedingungen der Milchproduktion, auch durch Verteilen von Flugblättern zu diesem Thema, zu informieren. Die Verkleidung als Kuh dient dabei als Stilmittel, die Aufmerksamkeit der Personen auf sich zu ziehen und diese vom Standpunkt des Beschwerdeführers, dass Milchproduktion Tierleid erzeugt, zu überzeugen. Die angefochtene Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich (LVwG), die eine Bestrafung nach §2 Anti-GesichtsverhüllungsG (AGesVG) bestätigt, greift in die durch Art10 EMRK geschützte Meinungsäußerungsfreiheit ein. Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit sind nach Art10 Abs2 EMRK zulässig, sie müssen jedoch im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, gesetzlich vorgesehen und notwendig sein.
Der VfGH teilt die Auffassung des VwGH, wonach §2 AGesVG vor dem Hintergrund der Judikatur des EGMR, der dem Umstand, dass ein Verhüllungsverbot nicht ausdrücklich auf der religiösen Konnotation der umstrittenen Kleidung beruht, sondern nur auf der Tatsache, dass sie das Gesicht verhüllt, Bedeutung beimisst, einen "neutralen" Ansatz verfolge, indem die Verhüllung bzw das Verbergen der Gesichtszüge in der Öffentlichkeit allgemein und nicht bloß in religiösem Zusammenhang untersagt werde und Ausnahmen für bestimmte näher definierte Bereiche gemacht würden (vgl VwGH 18.06.2020, Ro 2020/01/0006).
§2 Abs2 AGesVG definiert Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot, Gesichtszüge in der Öffentlichkeit zu verhüllen oder zu verbergen, aber erlaubt dem Bundes- oder Landesgesetzgeber darüber hinaus weitere Ausnahmen - insoweit eine Zuständigkeit vorliegt - zu normieren. Dies macht deutlich, dass §2 Abs2 AGesVG bzw die darin enthaltene Aufzählung der Ausnahmen nach dem Willen des Gesetzgebers jedenfalls nicht als taxative Aufzählung bzw abschließende Regelung zu bewerten ist.
Aus der Rsp des EGMR sowie des VfGH ist ableitbar, dass in Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung auch das Einsetzen von Stilmitteln erlaubt sein muss. Vor diesem Hintergrund ist - und dies ist verfassungsrechtlich geboten - der Abs2 des §2 AGesVG dahin zu verstehen, dass eine Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot so wie bei den Tatbeständen "im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen" auch die Verwendung eines Stilmittels (hier: Tiermaske) im Rahmen "der freien Meinungsäußerung" erlaubt sein muss. Davon unberührt bleiben freilich sicherheitsbehördliche Befugnisse sowie damit im Zusammenhang stehende Mitwirkungs- und Duldungspflichten insbesondere im Hinblick auf die Identitätsfeststellung gemäß §35 Abs3 zweiter Satz SPG.
Ausgehend von diesem Verständnis des §2 Abs2 AGesVG und dem Umstand, dass der Beschwerdeführer die Kuhmaske und das Kuhkostüm eingesetzt hat, um im Umfeld einer die Milchwirtschaft bewerbenden Veranstaltung auf die Produktionsbedingungen von Milchprodukten und das nach Auffassung des Maskenträgers damit verbundene Tierleid aufmerksam zu machen, ist der VfGH der Auffassung, dass dies von der Ausnahme des §2 Abs2 AGesVG gedeckt ist.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Meinungsäußerungsfreiheit, Entscheidungsbegründung, TierhaltungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E4697.2019Zuletzt aktualisiert am
28.03.2023