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44/01 ZivildienstNorm
B-VG Art9a, Art79, Art140 Abs1 Z1 lita, Art140 Abs1 Z1 litbLeitsatz
Verfassungswidrigkeit der Zuständigkeit des Heerespersonalamtes – einer dem Bundesminister für militärische Angelegenheiten organisatorisch untergeordneten Behörde – zur Erlassung von Bescheiden betreffend die Pauschalentschädigung und den Verdienstentgang außerordentlicher Zivildienstleistender; keine Besorgung der im Zusammenhang mit dem Zivildienst stehenden Verwaltungsaufgaben durch – dem Bundesminister für Landesverteidigung unterstehenden – Behörden auf Grund der verfassungsgesetzlichen Trennung der Systeme von ziviler und militärischer GewaltRechtssatz
Aufhebung der Zeichenfolge "51 Abs1," in §34b Abs2 ZDG, BGBl 679/1986 (WV) idF BGBl I 16/2020, mit Ablauf des 31.08.2022 (Anträge des Bundesverwaltungsgerichts - BVwG und des VwGH).
Keine Unzulässigkeit des Antrages des BVwG wegen irrtümlicher Anfechtung einer nicht existierenden Zeichenfolge sowie Nennung einer falschen Bundesgesetzblattnummer, weil die angefochtene Bestimmung richtig wiedergeben ist und kein Zweifel besteht, dass die Aufhebung der im Beschluss des VfGH in Prüfung gezogenen Zeichenfolge begehrt wird. Hinreichende Darlegung der Bedenken im Einzelnen iSd §62 Abs1 zweiter Satz VfGG durch das BVwG und den VwGH durch Hinweis auf den Beschluss des VfGH sowie der zustimmende Wiedergabe der darin enthaltenen Bedenken iSd der stRsp des VfGH zur bloßen Verweisung auf E des VfGH, weil Identität der vom VfGH in Prüfung gezogenen und nunmehr vom BVwG und vom VwGH bekämpften Bestimmung sowie der den Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalte vorliegt.
Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, §1 ZDG enthalte über den Schutz gegen die Verpflichtung zur Gewaltanwendung und über die Gewährleistung, den Zivildienst außerhalb des Bundesheeres zu leisten, hinaus keinerlei Regelung über die Vollziehung der mit dem Zivildienst im engeren Sinne verbundenen Aufgaben. Nach Ansicht des VfGH lässt sich jedoch §1 ZDG angesichts der historischen Entwicklung des Zivildienstgesetzes und seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen nicht auf eine dermaßen begrenzte Bedeutung beschränken.
§3 Abs1 ZDG ordnet an, dass der Zivildienstpflichtige zu Dienstleistungen heranzuziehen ist, die der zivilen Landesverteidigung oder sonst dem allgemeinen Besten dienen. Die in der Staatszielbestimmung des Art9a B-VG vorgesehene, strukturelle Aufzählung der militärischen, geistigen, zivilen und wirtschaftlichen Landesverteidigung verdeutlicht die verfassungsrechtlich gebotene Gliederung und Gestaltungsnotwendigkeit der umfassenden Landesverteidigung. Der (Verfassungs-)Gesetzgeber wollte mit der Erlassung des Zivildienstgesetzes 1974, BGBl 187, und nachfolgend mit der Novelle 1994, BGBl 187, nicht - wie im Wehrgesetz 1955 - punktuelle Regelungen für den Wehrersatzdienst treffen, sondern zwei grundsätzlich voneinander getrennte Systeme schaffen. Dieser gesetzgeberische Wille spiegelt sich auch in den Materialien zum Zivildienstgesetz 1974, wider. Die Entflechtung von Personen, die den Dienst mit der Waffe ablehnen, vom sonstigen Apparat des Bundesheeres wurde seit der Einführung des Zivildienstes im Jahr 1974 auf einfachgesetzlicher Ebene umfassend umgesetzt. Die Vollziehung des Zivildienstgesetzes wurde nahezu gänzlich der Zuständigkeit des Bundesministers für Landesverteidigung entzogen.
Die österreichische Bundesverfassung trennt den Bereich der zivilen Gewalt und jenen der militärischen Gewalt strikt voneinander. Aus der expliziten Anordnung des §1 Abs5 ZDG, wonach der Zivildienst außerhalb des Bundesheeres zu leisten ist, sowie aus dem in §1 Abs1 ZDG verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht folge die Zuordnung des Zivildienstes zur zivilen Gewalt. Eine Verknüpfung der beiden grundsätzlich getrennten Systeme, die sich nicht schon aus der Wehrpflicht ergebe (insbesondere Stellungsverfahren und Antrag auf Befreiung von der Wehrpflicht), komme daher nur in engen Grenzen in Betracht.
Der (Verfassungs-)Gesetzgeber hat somit zwei grundsätzlich getrennte Systeme geschaffen, die jeweils unterschiedlichen Gewalten zuzurechnen sind - der militärischen und der zivilen Gewalt.
Nach Ansicht des VfGH wird der angestrebten Trennung der beiden Systeme mit einer Interpretation von §1 ZDG, wie sie die Bundesregierung vornimmt, nicht Genüge getan. Mit der Vollziehung von Verwaltungsangelegenheiten im Bereich des Zivildienstes durch eine dem Bundesminister für militärische Angelegenheiten organisatorisch untergeordnete Behörde wird den Zielen des (Verfassungs-)Gesetzgebers nicht Rechnung getragen, zumal diese Behörde funktionell den Zwecken des Bundesheeres dient.
Der VfGH geht vor diesem Hintergrund nach wie vor davon aus, dass angesichts des vom Verfassungsgesetzgeber vorgefundenen und zugrunde gelegten Systems der seit der ZDG-Novelle 1994, BGBl 187, im Verfassungsrang bestehenden Norm des §1 Abs5 ZDG die Bedeutung beizumessen ist, dass (auch) sämtliche im Zusammenhang mit dem Zivildienst stehende Verwaltungsaufgaben nicht von Behörden besorgt werden dürfen, die - wie das Heerespersonalamt - organisatorisch dem Bundesminister für militärische Landesverteidigung unterstehen, zumal diese Behörde funktionell den Zwecken des Bundesheeres dient.
(Anlassfall E3310/2020 ua, E v 24.06.2021; Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse; Quasi-Anlassfall E847/2021 ua, E v 24.06.2021).
Entscheidungstexte
Schlagworte
Zivildienst, Zuständigkeit, Behördenzuständigkeit, Auslegung historische, VfGH / Gerichtsantrag, Bundesheer, VfGH / FristsetzungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:G47.2021Zuletzt aktualisiert am
28.03.2023