TE Vwgh Erkenntnis 2023/2/2 Ra 2022/18/0164

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Veröffentlicht am 02.02.2023
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3R E19104000
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §5
EURallg
MRK Art8
32013R0604 Dublin-III Art17
32013R0604 Dublin-III Art17 Abs1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision der A, vertreten durch Mag. Bianca Holzer, Rechtsanwältin in 1090 Wien, Ferstelgasse 1/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2022, W185 2254366-1/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Syriens, reiste im Jahr 2020 nach Griechenland, wo sie am 21. Oktober 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Am 10. November 2021 schloss sie dort mit einem in Österreich asylberechtigten syrischen Staatsangehörigen die Ehe nach islamischem Ritus. Im Jahr 2022 reiste sie nach Deutschland ein und beantragte dort am 5. Jänner 2022 internationalen Schutz.

2        In weiterer Folge reiste die Revisionswerberin nach Österreich und stellte am 7. Februar 2022 einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), ohne in die Sache einzutreten, gemäß § 5 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurückwies. Es sprach aus, dass für die Prüfung des Asylantrages gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. a Dublin III-Verordnung (Dublin III-VO) Deutschland zuständig sei, ordnete die Außerlandesbringung der Revisionswerberin an und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Deutschland zulässig sei.

3        Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und brachte unter anderem vor, schwanger zu sein. Vor dem Hintergrund ihrer Schwangerschaft ersuche sie, ihr Verfahren in Österreich zu führen und ihr ein Familienleben mit ihrem Ehemann in Österreich zu ermöglichen.

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde der Revisionswerberin ohne Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

5        Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass in Deutschland der Zugang zu medizinischer Grundversorgung ausreichend gewährleistet sei und sich dort eine Schwester und ein Bruder der Revisionswerberin aufhielten. In Österreich halte sich der seit 2017 asylberechtigte Lebensgefährte der Revisionswerberin auf, der über einen Konventionsreisepass verfüge und mit dem seit dem 29. April 2022 ein gemeinsamer Wohnsitz bestehe. Eine finanzielle oder sonstige wechselseitige Abhängigkeit könne ebenso wenig festgestellt werden wie ein Pflegebedarf. Hinsichtlich der Schwangerschaft bestünden keine Bedenken gegen eine Rückkehr nach Deutschland. Die Revisionswerberin könne dort ihr Kind zum errechneten Geburtstermin am 6. Dezember 2022 problemlos zur Welt bringen. Der Eingriff in das Familienleben der Revisionswerberin im Sinne von Art. 8 EMRK sei zulässig; das Interesse an der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremden- und Asylwesens sowie am wirtschaftlichen Wohl des Landes würden überwiegen.

6        Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit u.a. geltend macht, das BVwG hätte vom Selbsteintrittsrecht iSd Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch machen müssen, um eine Verletzung von Art. 8 EMRK zu vermeiden.

7        Die Revision ist zulässig und begründet.

8        Zur Beziehung der Revisionswerberin mit ihrem Lebensgefährten hielt das BVwG näher fest, dass sich die beiden im Dezember 2020 in Griechenland persönlich getroffen hätten, wo die Hochzeit nach islamischem Ritus im November 2021 stattgefunden habe. Eine Heiratsurkunde sei bis dato nicht vorgelegt worden. Seit dem 29. April 2022 bestehe erstmals ein gemeinsamer Haushalt. Im Zeitpunkt der Antragstellung hätte beiden der bloß vorläufige Aufenthaltsstatus der Revisionswerberin bewusst gewesen sein müssen. Die Revisionswerberin habe unter diesen Umständen zu keiner Zeit vernünftigerweise erwarten können, ihr Familienleben aufgrund des hier gestellten Antrags fortführen zu können. Es bestünden keine wechselseitigen Abhängigkeiten; ihr Lebensgefährte könne sie in Deutschland besuchen, wodurch auch der Kontakt zwischen Vater und Kind in gewissem Umfang gewährleistet werden könne. Dass das in Deutschland zur Welt kommende gemeinsame Kind überwiegend von der Kindsmutter versorgt werde, hätten die Revisionswerberin und ihr Lebensgefährte in Kauf genommen und selbst zu verantworten. Es sei außerdem davon auszugehen, dass die Revisionswerberin nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erneut bei ihren Geschwistern Unterkunft nehmen und von diesen - auch im Hinblick auf die bestehende Schwangerschaft und die Zeit nach der Geburt des Kindes - Unterstützung erfahren könne.

9        Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei Entscheidungen gemäß § 5 AsylG 2005 auch Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Bei einer drohenden Verletzung dieser Vorschrift ist das im Dublin-System vorgesehene Selbsteintrittsrecht auszuüben. Dies gilt auch im Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (vgl. VwGH 18.11.2015, Ra 2014/18/0139, und VwGH 22.4.2021, Ra 2021/18/0096, jeweils mwN).

10       Ausgangspunkt für die Überlegung, ob die Asylbehörde eine Zurückweisung nach § 5 AsylG 2005 vornehmen darf oder eine Entscheidung in der Sache vorzunehmen hat, ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zunächst die Frage, ob mit einer Zurückweisung nach § 5 AsylG 2005 ein Eingriff in das Privat- und Familienleben der asylwerbenden Partei verbunden wäre. Bejahendenfalls ist nach Art. 8 Abs. 2 EMRK durch eine Interessenabwägung die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs zu prüfen (vgl. etwa VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0279, mwN).

11       Dass im vorliegenden Fall die Wahrnehmung der Zuständigkeit Deutschlands im Dublin-System zu einem Eingriff in das Familienleben der Revisionswerberin mit ihrem in Österreich aufhältigen Lebensgefährten führen würde, steht außer Frage. Die Revision macht nun geltend, dass dieser Eingriff im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht verhältnismäßig sei. Bei der Beurteilung, ob dies zutrifft, ist eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nimmt. Die dabei anzustellende Interessenabwägung ist als Einzelfallbeurteilung im Allgemeinen nicht revisibel, wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen worden ist (vgl. VwGH 24.11.2022, Ra 2022/18/0163, mwN).

12       Zweifellos stellt das Funktionieren der asylrechtlichen Zuständigkeitsordnung in der Europäischen Union, wie sie durch die Dublin III-VO sichergestellt werden soll, ein gewichtiges öffentliches Interesse dar. Gleichzeitig darf die Anwendung der VO aber nicht dazu führen, dass legitime private Interessen der schutzsuchenden Personen in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt werden. Schon Erwägungsgrund 14 der Dublin III-VO betont, dass die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein soll. Dementsprechend hält Erwägungsgrund 17 auch fest, dass die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können sollen, um Familienangehörige zusammenzuführen und deren Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in der Dublin III-VO festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind.

13       Im vorliegenden Fall haben die Revisionswerberin und der in Österreich asylberechtigte Lebensgefährte bereits eine traditionelle Ehe geschlossen; die Revisionswerberin erwartet von ihrem Lebensgefährten, wie dem BVwG bei seiner Entscheidung bekannt war, ein Kind. Sie trotzdem nach Deutschland zu verweisen, wo sie nach Auffassung des BVwG das gemeinsame Kind zur Welt bringen und - abgesehen von gelegentlichen Besuchen - ohne den Kindesvater versorgen solle, erweist sich als massiver Eingriff in die privaten Interessen der (künftigen) Familie. Selbst wenn dem BVwG zuzubilligen ist, dass die Revisionswerberin und ihr Lebensgefährte diese Unsicherheit in Kauf genommen haben, ist die bevorstehende Geburt des gemeinsamen Kindes im Blick zu behalten. Anders gewendet ist es fallbezogen nicht verhältnismäßig, die schwangere Revisionswerberin vom Kindesvater zu trennen und diesen auf bloße Besuchskontakte zu seinem (künftigen) Kind zu verweisen, um die Dublin-Zuständigkeitsordnung zu effektuieren.

14       Da das BVwG diese rechtlichen Grundsätze in seiner Entscheidung nicht beachtet hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 2. Februar 2023

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Verordnung EURallg5

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022180164.L00

Im RIS seit

21.03.2023

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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