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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
AnhO 1999 §7 Abs3Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision der I E, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das am 22. September 2022 mündlich verkündete und am 25. November 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 22. September 2022, Zl. VGW-102/013/3277/2022, betreffend Maßnahmenbeschwerde in einer Angelegenheit nach dem SPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Wien), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien (Verwaltungsgericht) wurde die Beschwerde der Revisionswerberin wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt „durch den bei ihrer Festnahme angewendeten Transportgriff und die im Zuge der Anhaltung im Polizeianhaltezentrum an sie gestellte Aufforderung sich zu entkleiden sowie sich wiegen und messen zu lassen“ am 1. Februar 2022 in Wien gegen die Landespolizeidirektion Wien als belangte Behörde (im Folgenden: LPD) als unbegründet abgewiesen (Spruchpunkt I.). Die Revisionswerberin wurde zu näher bezeichneten Aufwandersatz an den Bund verpflichtet (Spruchpunkt II.) und eine Revision für unzulässig erklärt (Spruchpunkt III.).
2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin habe in ihrer Maßnahmenbeschwerde unter anderem vorgebracht, sie habe sich an den Protesten gegen die Errichtung der Lobau-Autobahn beteiligt. Bei der Räumung des Protestcamps nahe einer näher bezeichneten U-Bahn-Station in Wien sei die Revisionswerberin von zwei Beamten in ein Polizeifahrzeug verbracht worden. Bei diesem Abführen sei nach dem Vorbringen der Revisionswerberin „offenbar gezielt“ eine Technik angewendet worden, die starke Schmerzen hervorrufe. Nach Verbringung in das Polizeianhaltezentrum (PAZ) sei die Revisionswerberin aufgefordert worden, sich zu entkleiden, und gegen ihren Willen gewogen und gemessen worden. Es habe nach dem Vorbringen der Revisionswerberin keinerlei Grund dafür bestanden, sie zum vollständigen Ausziehen aufzufordern und ihren unbekleideten Körper zu besichtigen. Auch das Abwiegen und Abmessen sei ohne Rechtsgrundlage erfolgt und daher rechtswidrig.
3 Als maßgeblichen Sachverhalt stellte das Verwaltungsgericht fest, die Revisionswerberin habe sich an der Besetzung „der Baustelle der sogenannten Stadtstraße“ beteiligt. Diese Versammlung sei bereits im Dezember 2021 aufgelöst worden. Am Morgen des 1. Februar 2022 sei durch einen Vertreter der LPD nochmals mit Megaphon verkündet worden, dass die Versammlung seit Dezember aufgelöst sei und die Teilnehmer nunmehr die Versammlung zu verlassen hätten, widrigenfalls die Räumung mit Zwangsgewalt durchgesetzt werde. Die Revisionswerberin sei dieser Aufforderung nicht nachgekommen. Sie sei zwar mit zwei näher bezeichneten Beamten, welche sie hinaus begleiten hätten wollen, zunächst ein Stück mitgegangen, habe dann aber begonnen, sich gegen ihre Entfernung vom Versammlungsort zu sträuben, sodass sie unter Anwendung von Zwang, nämlich durch Ergreifen ihrer Oberarme, gegen ihren passiven Widerstand weiter abgeführt habe werden müssen. Bevor sie den Beamten der LPD Oberösterreich übergeben worden sei, die sie zum Transportfahrzeug hätte bringen sollen, habe sie sich laut schreiend gegen ihre Abführung beschwert. Die Beamten, denen sie übergeben worden sei, hätten es aufgrund dieses Verhaltens für notwendig gehalten, die in der Ausbildungsvorschrift „Einsatztechniken“ des Bundesministeriums für Inneres angeführten Transporttechnik der „beidseitigen Handfesselsperre“ anzuwenden. Bei dieser hänge es vom Verhalten des Betroffenen ab, ob und in welchem Maße diese Transporttechnik eine schmerzhafte Wirkung habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass die Beamten der LPD Oberösterreich diese Technik angewendet hätten, um der Revisionswerberin gezielt Schmerzen zuzufügen. Nach dem Eintreffen im PAZ sei die Revisionswerberin nicht in unbekleidetem Zustand gewogen und gemessen worden, sondern vor ihrer Durchsuchung lediglich aufgefordert worden, sich wiegen und messen zu lassen. Erst im Anschluss sei sie zur Entkleidung aufgefordert worden, wobei sie sich in einer Kabine befunden habe und sich nicht gänzlich, sondern nur bis auf die Unterwäsche entkleiden habe müssen, damit ihre Oberbekleidung geröntgt habe werden können. Dabei sei die Revisionswerberin kurzfristig den Blicken einer weiblichen Beamtin ausgesetzt worden.
4 Nach beweiswürdigenden Ausführungen zum festgestellten Sachverhalt führte das Verwaltungsgericht in rechtlicher Hinsicht aus, die Annahme der einschreitenden Beamten, auf Grund des bisherigen Verhaltens der Revisionswerberin sei es notwendig gewesen, die Transporttechnik der „beidseitigen Handfesselsperre“ anzuwenden, sei jedenfalls vertretbar gewesen. Die Anwendung dieser Transporttechnik sei auch nicht unverhältnismäßig gewesen, da diese Transporttechnik nicht von vornherein mit Schmerzen für den Betroffenen verbunden sei, sondern in erster Linie dann, wenn er sich gegen die Verbringung zur Wehr setze. Der bloße Umstand, dass die Revisionswerberin sich dagegen schreiend beschwert habe, habe die Beamten nicht dazu bringen müssen, von dieser Transporttechnik abzulassen, habe sich die Revisionswerberin doch auch schreiend gegen den zwangsweisen Transport davor beschwert, bei dem durch die Beamten nur ihre Oberarme ergriffen worden seien.
5 Es sei auch in rechtlicher Hinsicht unbedenklich, wenn angehaltene Personen im bekleideten Umstand aufgefordert würden, sich einer Gewichtsmessung und Größenmessung zu unterziehen, bilde dies doch eine Grundlage für die Feststellung der Haftfähigkeit gemäß § 7 Abs. 3 der Anhalteordnung, BGBl. II Nr. 128/1999 idF BGBl. II Nr. 439/2005 (AnhO). Dabei sei es irrelevant, ob die Revisionswerberin dies persönlich als Befehl oder bloß als Hinweis auf die verordnungsgemäße Verpflichtung aufgefasst habe, welche als Konsequenz einer Weigerung lediglich vorsehe, dass diesfalls von der Haftfähigkeit auszugehen sei. Abgesehen davon wäre eine zwangsweise Abwaage und Größenmessung ohnehin nicht „realistisch darstellbar“ gewesen.
6 Schon aufgrund der möglichen Selbstgefährdung festgenommener Personen bestünden keine rechtlichen Bedenken dahingehend, die abgelegte Oberkleidung, sei sie händisch oder durch Röntgen, zu untersuchen. Dass die Revisionswerberin dabei von der amtshandelnden Beamtin in ihrer Unterwäsche kurz erblickt worden sei, stelle keine Verletzung des Art. 3 EMRK dar, sondern sei in dem Zusammenhang als notwendig und verhältnismäßig zu qualifizieren.
7 Die Maßnahmenbeschwerde sei daher in allen drei Punkten als unbegründet abzuweisen gewesen.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
9 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
10 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
11 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
12 Die Revisionswerberin erachtet sich durch das angefochtene Erkenntnis in ihrem Recht auf Feststellung, dass die angefochtenen Verwaltungsakte („Zwangsgewalt in Form von Schmerzgriffen im Zusammenhang mit dem Abführen der RW, die Aufforderung, sich für die Durchsuchung vollständig zu entkleiden sowie die Aufforderung, sich Wiegen und Messen zu lassen“) für rechtswidrig erklärt werden, da diese gegen „§ 29, 40 und 50 SPG“ verstoßen (vgl. zum subjektiv-öffentlichen Recht eines Maßnahmenbeschwerdeführers etwa VwGH 25.8.2022, Ra 2021/01/0299, mwN).
13 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen vor, das Verwaltungsgericht sei von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungs- sowie Ermittlungspflicht abgewichen, weil es zur Verhältnismäßigkeit der angewendeten „Handfesselsperre“ keine ausreichenden Ermittlungen angestellt bzw. Feststellungen getroffen habe. Sodann wendet sich die Revision im Einzelnen gegen die zur Feststellung des Verwaltungsgerichtes im Hinblick auf die Anwendung dieser „Handfesselsperre“ führende Beweiswürdigung.
14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes soll sich das Revisionsmodell nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers an der Revision nach den §§ 500 ff ZPO orientieren (vgl. ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP 16). Ausgehend davon ist der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig, zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Auch kann einer Rechtsfrage nur dann grundsätzliche Bedeutung zukommen, wenn sie über den konkreten Einzelfall hinaus Bedeutung besitzt. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 12.12.2022, Ra 2020/01/0074, mwN). Die Frage, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht weitere Ermittlungsschritte setzen muss, unterliegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einer einzelfallbezogenen Beurteilung. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge insoweit nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre (vgl. etwa VwGH 7.12.2022, Ra 2021/20/0387, mwN). Derartiges zeigt die Revision nicht auf.
15 Die Revision bringt in der Zulässigkeitsbegründung weiter vor, das Verwaltungsgericht sei von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur subjektiven Wahrnehmung von Zwang als Voraussetzung zur Beurteilung, ob ein mit einer Maßnahmenbeschwerde zu bekämpfender Befehl vorliege, abgewichen. Das Verwaltungsgericht hätte nach Auffassung der Revision zum Ergebnis gelangen müssen, dass die Revisionswerberin im Falle ihrer Weigerung mit der Anwendung von Zwang rechnen habe müssen, weshalb ein Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt vorgelegen sei. Da die AnhO für den Fall der Weigerung, sich wiegen und messen zu lassen, unstrittig nicht die Anwendung von Zwang, sondern lediglich die Annahme der Haftfähigkeit vorsehe, hätte das Verwaltungsgericht die bekämpfte Amtshandlung für rechtswidrig erklären müssen.
16 Ob es sich um eine Ausübung unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gehandelt hat, unterliegt einer einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes (vgl. etwa VwGH 13.6.2022, Ra 2022/01/0085, mwN). Dass die einzelfallbezogene Beurteilung des Verwaltungsgerichtes im vorliegenden Fall krass fehlerhaft ist, vermag die Revision nicht aufzuzeigen. Die in der Revision vertretene Auffassung übersieht im Übrigen, dass die Häftlinge gemäß § 7 Abs. 3 zweiter Satz AnhO die für die Beurteilung der Haftfähigkeit erforderlichen ärztlichen Untersuchungen zu dulden haben und eine Weigerung nach § 7 Abs. 3 dritter Satz AnhO fallbezogen nicht festgestellt wurde (vgl. zur Bedeutung einer Prüfung der Haftfähigkeit nach § 7 AnhO etwa VwGH 30.8.2007, 2006/21/0054, sowie VwGH 30.4.2009, 2007/21/0418, jeweils mwN).
17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 14. Februar 2023
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023010022.L00Im RIS seit
21.03.2023Zuletzt aktualisiert am
21.03.2023