Index
001 Verwaltungsrecht allgemeinNorm
AVG §37Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator sowie den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision der A P in S, vertreten durch Elisabeth Groß, LL.M., Rechtsanwältin in 1010 Wien, Plankengasse 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juli 2022, Zl. W141 2256328-1/4E, betreffend Entschädigung nach dem Impfschadengesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 1.1. Die Revisionswerberin stellte einen am 29. Juni 2021 bei der belangten Behörde eingelangten Antrag auf Leistungen nach dem Impfschadengesetz wegen einer am 18. Februar 2021 erfolgten Impfung mit einem näher genannten COVID-19-Impfstoff. Bereits am selben Abend seien eine Tachykardie sowie leichte Übelkeit, Kopfschmerzen und erhöhte Körpertemperatur aufgetreten. Am nächsten Tag sei eine vollständige Parese des linken Armes aufgetreten, welche bis 22. Februar 2021 angehalten und sich danach gebessert habe und Anfang März 2022 vollständig genesen sei. Die Tachykardien seien anhaltend und träten aktuell ein bis zweimal pro Woche auf.
2 In einem vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen eingeholten nervenfachärztlichen und allgemeinmedizinischen Gutachten vom 8. Februar 2022 eines Facharztes für Neurologie und Arztes für Allgemeinmedizin gelangte dieser zusammenfassend zum Ergebnis, dass das Auftreten von leichten Kopfschmerzen und leicht erhöhter Körpertemperatur als leichte Impfreaktionen bei der zweiten Auffrischungsimpfung mit dem genannten Impfstoff möglich seien, jedoch keine negativen Dauerfolgen nach sich zögen. Das Auftreten eines sensomotorischen Defizits scheine in den aktuellen Zusammenstellungen der unerwünschten Impfreaktionen nicht auf und sei aus neurologischer Sicht im Rahmen einer Impfreaktion nicht klar und eindeutig erklärbar. Es läge kein ärztlicher Befundbericht im Sinne eines neurologischen Status zur Aufklärung der Ätiologie der auftretenden Beschwerde vor. Es bestehe kein sicherer Zusammenhang mit der gegenständlichen Impfung. Dauerfolgen seien nicht ableitbar. Herzrhythmusstörungen wie die von der Revisionswerberin geschilderten könnten im Rahmen der sehr seltenen Nebenwirkung einer Myokarditis (Herzmuskelentzündung) nach mRNA-Impfung auftreten. Diese Fälle seien insbesondere bei jüngeren Menschen und hier bei Männern zu verzeichnen. Bezüglich des zeitlichen Verlaufes seien die von der Revisionswerberin geschilderten Beschwerden (Tachykardien) mit den bisher vorliegenden Daten des Auftretens einer Myokarditis nach Impfung nicht in Einklang zu bringen. Es lägen auch hier keine Dokumentation und Befunde vor. Eine maßgebliche körperliche Einschränkung liege nicht vor. Es bestehe kein sicherer Zusammenhang mit der gegenständlichen Impfung. Dauerschäden seien nicht ableitbar. Dazu wird im Rahmen der Anamnese im Gutachten ausgeführt, die Tachykardie hätte bis in den Oktober 2021 angehalten.
3 Zusammenfassend gelangte das Gutachten zum Ergebnis, dass kein wahrscheinlicher Zusammenhang bestehe. Eine Gesundheitsschädigung sei nicht ableitbar. Es bestünden keine maßgeblichen Funktionsbeeinträchtigungen, eine bleibende Schädigung bzw. zumindest über drei Monate anhaltende Dauerfolgen seien nicht vorhanden.
4 1.2. Mit Bescheid vom 16. Mai 2020 wies die belangte Behörde den Antrag der Revisionswerberin gemäß §§ 1b und 3 Impfschadengesetz ab.
5 Begründend gelangte die belangte Behörde, nach Wiedergabe der Ergebnisse des medizinischen Sachverständigengutachtens, zum Ergebnis, dass kein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der vorgenommenen Impfung und dem vorliegenden Leidenszustand festgestellt worden sei.
6 1.3. Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin eine (selbstverfasste) Beschwerde, in welcher sie ua. vorbrachte, dass ihr Ehemann weder bei der Untersuchung durch den medizinischen Sachverständigen habe anwesend sein dürfen noch seine Wahrnehmungen als Zeuge habe darlegen können. Weiters brachte die Revisionswerberin vor, der medizinische Sachverständige habe keine alternative Ursache für ihre Gesundheitsstörungen festgestellt.
7 1.4. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde der Revisionswerberin ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
8 Das Verwaltungsgericht stellte, soweit hier wesentlich, fest, es hätten keine Schäden auf Grund der COVID-19-Impfung festgestellt werden können.
9 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht zu den behaupteten Tachykardien aus, es lägen keine medizinischen Nachweise in Form von Befunden oder einer Dokumentation vor. Es sei „zum Entscheidungszeitpunkt“ daher nicht mehr möglich, das Vorliegen dieses Leidens und dessen Schweregrad festzustellen. Dazu verwies das Verwaltungsgericht auf das medizinische Sachverständigengutachten und die Stellungnahme einer namentlich genannten „Leitenden Ärztin“ der belangten Behörde, dass Tachykardien allein nicht ausreichend seien, um eine durchgemachte Myokarditis wahrscheinlich anzunehmen.
10 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, Anspruchsvoraussetzung für eine Entschädigung nach dem Impfschadengesetz sei das Vorliegen eines Schadens, welcher durch eine Schutzimpfung auf Grund der Verordnung über empfohlene Impfungen verursacht worden sei. Die gegenständliche Impfung mit einem COVID-19-Impfstoff sei gemäß § 1 Z 1 dieser Verordnung eine solche Impfung.
11 Die von der Revisionswerberin vorgebrachte vollständige Lähmung ihres linken Armes, welche erst Anfang März 2021 vollständig abgeklungen sei, und die Tachykardien seien befundmäßig nicht belegt und somit nicht objektivierbar. Sie könnten dem Verfahren nicht zu Grunde gelegt werden.
12 Habe eine Schädigung Dauerfolgen nicht bewirkt, gebühre gemäß § 2a Abs. 1 Impfschadengesetz eine Entschädigung iSd. § 2 Abs. 1 lit. a und b nur, wenn durch die Impfung eine schwere Körperverletzung iSd. § 84 Abs. 1 StGB bewirkt worden sei. Das Taubheitsgefühl im linken Arm sei keine schwere Körperverletzung und nach den Angaben der Revisionswerberin bereits Anfang März 2021, sohin etwa zwei Wochen nach der Impfung, abgeklungen.
13 Für die behaupteten anhaltenden Tachykardien lägen keine Nachweise vor. Eine länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder eine an sich schwere Körperverletzung seien nicht belegt und könne daher nicht von Dauerfolgen oder einer schweren Körperverletzung gemäß § 84 StGB ausgegangen werden.
14 Da bereits die vorgebrachten Gesundheitsschädigungen nicht befundmäßig belegt seien und auch die genaue Schwere der etwaigen Leiden nicht feststellbar sei, sei bereits das Vorliegen von Gesundheitseinschränkungen zu verneinen. Eine Kausalitätsbeurteilung habe daher unterbleiben können.
15 Von einer mündlichen Verhandlung habe abgesehen werden können, da der von der belangten Behörde in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren festgestellte Sachverhalt hinreichend geklärt und diesem in der Beschwerde nicht substantiiert entgegengetreten worden sei.
16 1.5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision.
17 Der Verwaltungsgerichtshof hat das Vorverfahren durchgeführt, in welchem die belangte Behörde keine Revisionsbeantwortung erstattete.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
18 2. Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen.
19 3.1. Das Impfschadengesetz, BGBl. Nr. 371/1973 in der Fassung BGBl. I Nr. 5/2022, lautet (auszugsweise):
„§ 1b. (1) Der Bund hat ferner für Schäden nach Maßgabe dieses Bundesgesetzes Entschädigung zu leisten, die durch eine Impfung verursacht worden sind, die nach einer gemäß Abs. 2 erlassenen Verordnung zur Abwehr einer Gefahr für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung im Interesse der Volksgesundheit empfohlen ist.
(2) Der Bundesminister für Gesundheit, Sport und Konsumentenschutz hat durch Verordnung jene Impfungen zu bezeichnen, die nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft zur Abwehr einer Gefahr für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung im Interesse der Volksgesundheit empfohlen sind.
...
§ 2. (1) Als Entschädigung sind zu leisten:
a) Übernahme der Kosten für die Behandlung zur Besserung oder Heilung des Impfschadens:
1. ärztliche Hilfe;
2. Versorgung mit den notwendigen Arznei-, Verband- und Heilmitteln;
3. Versorgung mit orthopädischen Behelfen;
4. Pflege und Behandlung in Krankenanstalten und Kuranstalten in der allgemeinen Pflegegebührenklasse;
5. die mit der Behandlung verbundenen unvermeidlichen Reise- und Transportkosten, erforderlichenfalls auch für eine Begleitperson;
b) Übernahme der Kosten für Maßnahmen zur Rehabilitation unter sinngemäßer Anwendung der lit. a Z 1 bis 5;
...
§ 2a. (1) Hat die Schädigung Dauerfolgen nicht bewirkt, gebührt eine Entschädigung im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. a und b nur, wenn durch die Impfung eine schwere Körperverletzung im Sinne des § 84 Abs. 1 StGB bewirkt worden ist.
...“
20 3.2. Die Verordnung über empfohlene Impfungen, BGBl. II Nr. 526/2006 in der Fassung BGBl. II Nr. 284/2022, lautet (auszugsweise):
„§ 1.Impfungen im Sinne des § 1b Abs. 2 des Impfschadengesetzes sind Impfungen - auch in Kombination - gegen
1. COVID-19,
...“
21 4. Die Revision ist auch begründet.
22 4.1. Die belangte Behörde verneinte den Anspruch nach dem Impfschadengesetz, weil keine Kausalität zwischen den geltend gemachten Schädigungen und der Impfung bestehe. Das Verwaltungsgericht verneinte den Anspruch hingegen schon deswegen, weil keine Schädigung vorliege.
23 4.2. Im Verfahren steht außer Streit, dass die Revisionswerberin keine Dauerfolgen als Schädigung geltend gemacht hat.
24 Daher gebührt gemäß § 2a Abs. 1 Impfschadengesetz eine Entschädigung iSd. § 2 Abs. 1 lit. a und b nur, wenn durch die Impfung eine schwere Körperverletzung iSd. § 84 Abs. 1 StGB bewirkt worden ist.
25 Gemäß § 84 Abs. 1 StGB ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen, wer einen anderen am Körper misshandelt und dadurch fahrlässig eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit oder eine an sich schwere Verletzung oder Gesundheitsschädigung zufügt.
26 Die Frage, ob iSd. § 2a Abs. 1 Impfschadengesetz durch die Impfung eine schwere Körperverletzung iSd. § 84 Abs. 1 StGB bewirkt worden ist, setzt klare Feststellungen voraus, welcher Art und Intensität die geltend gemachten Schädigungen sind (vgl. zu dieser Anspruchsvoraussetzung im VOG, welches insoweit als Vorbild des § 2a Abs. 1 Impfschadengesetzes diente [RV 105 BlgNR 18. GP 5], VwGH 14.12.2015, Ro 2014/11/0017).
27 4.3. Die Revisionswerberin hat als Schädigung nach der Impfung am 18. Februar 2021 zum einen eine Parese des linken Armes geltend gemacht, von welcher sie ihren eigenen Angaben zufolge jedoch bereits Anfang März 2021 vollständig genesen gewesen war. Eine mehr als 24-tägige Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit kommt somit nicht in Betracht. Eine an sich schwere Verletzung oder Gesundheitsschädigung scheidet ebenfalls aus (vgl. zu den Voraussetzungen einer solchen Burgstaller/Schütz in WK2 § 84 StGB, Rn. 18 ff.). Auf die Parese wird in der Revision als anspruchsbegründende Schädigung auch nicht mehr zurückgekommen.
28 Zum anderen machte die Revisionswerberin Tachykardien geltend, welche im Zeitpunkt ihrer Antragstellung Ende Juni 2021 (nach wie vor) ein bis zweimal pro Woche aufgetreten seien. Diese hätten, so die Anamnese des - insoweit von der Revisionswerberin unwidersprochenen - medizinischen Sachverständigengutachtens vom 8. Februar 2022, bis in den Oktober 2021 angehalten. Hinsichtlich dieses Vorbringens erscheint eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung und somit eine schwere Körperverletzung iSd. § 84 Abs. 1 StGB nicht von vornherein ausgeschlossen (vgl. zum Begriff der Gesundheitsschädigung iSd. §§ 83 und 84 StGB Burgstaller/Schütz in WK2 § 83 StGB, Rn. 9 ff., § 84 StGB Rn. 6). Es ist daher angesichts der maßgeblichen Rechtslage irrelevant, wenn das Verwaltungsgericht ausführt, es sei nicht nachweis- und feststellbar, dass die Revisionswerberin im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts (22. Juli 2022) noch an einer Herzrhythmusstörung leide (vgl. Erkenntnis Seiten 5 f. und 11).
29 Die Revisionswerberin hat in ihrer Stellungnahme vom 24. März 2022 zum medizinischen Sachverständigengutachten vom 8. Februar 2022 ausdrücklich bestritten, dass die Impfung „komplikationslos“ verlaufen und die von ihr geltend gemachten Schädigungen nicht (als Folge der Impfung) aufgetreten seien. Sie hat in dieser Stellungnahme und erkennbar auch in ihrer (selbstverfassten) Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde das Unterlassen der Einvernahme ihres Ehemannes als Zeugen zu diesen Fragen gerügt und damit - implizit - eine mündliche Verhandlung beantragt.
30 4.4. Ein Verwaltungsgericht hat (selbst bei anwaltlich vertretenen Personen) auch ohne Antrag von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es dies für erforderlich hält, wobei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung ohne Parteiantrag nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichtes selbst steht. Dies ist etwa dann anzunehmen, wenn die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde substantiiert bekämpft und/oder ein konkretes sachverhaltsbezogenes Vorbringen erstattet wird. Bei einer widersprüchlichen Beweislage hat das Verwaltungsgericht derart grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal bei dieser die widersprüchlichen Beweisergebnisse unmittelbar geklärt werden können. Das Verwaltungsgericht hat auch rechtliches Gehör grundsätzlich im Rahmen einer Verhandlung einzuräumen. Bei konkretem sachverhaltsbezogenen Vorbringen ist jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. VwGH 6.7.2022, Ra 2020/11/0003, mwN).
31 Vor diesem Hintergrund hätte das Verwaltungsgericht zur Frage, ob die behaupteten Tachykardien vorgelegen und - bejahendenfalls - zur Frage, ob durch die Impfung iSd. § 2a Abs. 1 Impfschadengesetz eine schwere Körperverletzung iSd. 84 Abs. 1 StGB bewirkt worden ist, nicht davon ausgehen dürfen, dass der Sachverhalt geklärt war und folglich nicht von einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.
32 5. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben.
33 6. Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff. VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. Februar 2023
Schlagworte
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022110144.L00Im RIS seit
21.03.2023Zuletzt aktualisiert am
21.03.2023