TE Vwgh Erkenntnis 2023/2/21 Ra 2022/01/0128

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Veröffentlicht am 21.02.2023
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

AVG §37
AVG §37 Abs1
AVG §39 Abs2
VwGVG 2014 §24

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision des M S in L, vertreten durch Mag. Lothar Korn, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Hessenplatz 8, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 7. Dezember 2021, Zl. LVwG-751726/2/MZ/NIF, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Oberösterreichische Landesregierung), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Oberösterreich hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Dem Revisionswerber, einem vormals tunesischen Staatsangehörigen, wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 16. Oktober 2009 mit Wirksamkeit vom 19. Oktober 2009 „nach § 11a Abs. 1 des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985“ die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Der Revisionswerber war zum Verleihungszeitpunkt (seit 2002) mit der österreichischen Staatsbürgerin Mag. S verheiratet.

2        Mit Bescheid der belangten Behörde vom 24. August 2021 wurde das Verfahren zur Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an den Revisionswerber gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm § 69 Abs. 3 AVG und „§ 11a des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 in der Fassung BGBl. I Nr. 162/2021“ von Amts wegen „mit der Wirkung wiederaufgenommen, dass es sich in dem Stand vor Erlassung des Verleihungsbescheides vom 19. Oktober 2009, ..., befindet.“

3        Begründend führte die belangte Behörde aus, der Revisionswerber habe verschwiegen, dass die eheliche Lebensgemeinschaft mit Mag. S bereits vor der Verleihung der Staatsbürgerschaft aufgehoben gewesen sei; er habe dadurch den Verleihungsbescheid erschlichen.

4        In der dagegen erhobenen Beschwerde machte der Revisionswerber - unter Bezugnahme auf die hg. Rechtsprechung („insbesondere VwGH 2011/01/0219“) bzw. die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache „Rottmann“ - geltend, die belangte Behörde habe die unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht durchgeführt, und beantragte u.a. die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht.

5        Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich (Verwaltungsgericht) wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen (I.) und eine Revision für unzulässig erklärt (II).

6        Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe im Zuge der Verleihung der Staatsbürgerschaft niederschriftlich erklärt, dass die Ehe mit Mag. S immer noch aufrecht sei, sie im gemeinsamen Haushalt lebten und kein Ehescheidungsverfahren anhängig sei.

7        Die Ehe sei mit rechtskräftigem Beschluss des Bezirksgerichts Traun vom 8. Februar 2010 einvernehmlich geschieden worden. Dabei hätten der Revisionswerber und Mag. S niederschriftlich bestätigt, dass ihre Ehe seit mindestens sechs Monaten vor dem rechtskräftigen Scheidungsbeschluss - sohin seit mindestens 8. August 2009 - unheilbar zerrüttet sei.

8        Der Revisionswerber habe bereits seit Juli 2009 nicht mehr in einem gemeinsamen Haushalt mit Mag. S. gelebt. Letztere habe im Rahmen der Einvernahme vor der belangten Behörde schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass sie die Beziehung mit dem Revisionswerber beendet habe, zumal sie von dessen außerehelicher Beziehung mit einer tunesischen Staatsangehörigen erfahren habe, und dass der Revisionswerber schließlich im Juli 2009 „endgültig ausgezogen“ sei. Diese Schilderung stehe insbesondere mit der übereinstimmenden Erklärung der beiden Ex-Ehegatten im Rahmen des Scheidungsverfahrens in Einklang, wonach die Ehe bereits seit zumindest einem halben Jahr unheilbar zerrüttet sei.

9        In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber habe im Verleihungsverfahren gegenüber der belangten Behörde schuldhaft verschwiegen, dass er im Verleihungszeitpunkt nicht mehr mit seiner Gattin in einem Haushalt gelebt habe. Das wissentliche Verschweigen dieses Umstandes sei kausal für die Entscheidung der belangten Behörde gewesen, dem Revisionswerber die Staatsbürgerschaft zu verleihen, zumal die belangte Behörde fälschlicherweise davon ausgegangen sei, dass die Verleihungsvoraussetzung des § 11a Abs. 1 Z 1 StbG im Falle des Revisionswerbers erfüllt sei.

10       Das Verleihungsverfahren sei demnach im Sinne des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG wiederaufzunehmen.

11       Zur unterbliebenen Verhandlung verwies das Verwaltungsgericht auf die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 iVm Abs. 4 VwGVG; dass dem Entfall der Verhandlung Art. 6 EMRK oder Art. 47 der „EU-Charta“ entgegenstünde, „vermag nicht erkannt zu werden.“

12       Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluss vom 1. März 2022, E 161/2022-7, die dagegen vom Revisionswerber erhobene Beschwerde ab und trat diese gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zur Entscheidung ab.

13       Sodann erhob der Revisionswerber die gegenständliche außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit insbesondere vorgebracht wird, das Verwaltungsgericht habe weder die beantragte mündliche Verhandlung durchgeführt noch die unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen; es sei dadurch von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattete, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

14       Die Revision ist zulässig und berechtigt.

15       Die im Revisionsfall maßgebliche Bestimmung des § 11a Staatsbürgerschaftsgesetz 1985, BGBl. Nr. 311, lautete in der im Hinblick auf den Verleihungszeitpunkt hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 4/2008 (im Folgenden: StbG aF) auszugsweise:

„§ 11a. (1) Einem Fremden ist nach einem rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt von mindestens sechs Jahren im Bundesgebiet und unter den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Z 2 bis 8, Abs. 2 und 3 die Staatsbürgerschaft zu verleihen, wenn

1.   sein Ehegatte Staatsbürger ist und bei fünfjähriger aufrechter Ehe im gemeinsamen Haushalt mit ihm lebt;

2.   die Ehe weder von Tisch und Bett noch sonst ohne Auflösung des Ehebandes gerichtlich geschieden und

3.   er nicht infolge der Entziehung der Staatsbürgerschaft nach § 33 Fremder ist.

...“

16       Gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 AVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist. Gemäß Abs. 3 leg. cit. kann unter den Voraussetzungen des Abs. 1 die Wiederaufnahme des Verfahrens auch von Amts wegen verfügt werden.

17       Das Verwaltungsgericht hat - unter Ignorieren des diesbezüglichen Beschwerdebegehrens bzw. -vorbringens sowie ohne jegliche Bezugnahme auf die nachstehend angeführte, maßgebliche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - sowohl die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als auch die Vornahme der unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlassen.

I. Mündliche Verhandlung

18       Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegensteht.

Eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist daher durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinne des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Bei einem rechtswidrigen Unterlassen der nach Art. 6 EMRK (bzw. Art. 47 GRC) erforderlichen mündlichen Verhandlung ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen.

Die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht ist Teil des Ermittlungsverfahrens (vgl. § 39 Abs. 2 AVG), dessen Zweck es ist, den für die Erledigung einer Verwaltungssache (Rechtssache) maßgebenden Sachverhalt festzustellen und den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben (§ 37 Abs. 1 AVG; vgl. zum Ganzen etwa VwGH 29.6.2017, Ra 2017/04/0036, mit weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung und Gesetzesmaterialien).

19       Im Revisionsfall hat das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung der vom Revisionswerber beantragten mündlichen Verhandlung - die Annahme der Erschleichungsabsicht (Erschleichen des Verleihungstatbestandes) auf ein Täuschen des Revisionswerbers über den Umstand, dass er im Verleihungszeitpunkt nicht mehr mit seiner Ehefrau im gemeinsamen Haushalt gelebt habe, gestützt (während die belangte Behörde von einem Täuschen aufgrund des Verschweigens der nicht mehr bestehenden „ehelichen Lebensgemeinschaft“ ausgegangen ist). Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung insofern auf neue Tatsachen gestützt (zum Unterschied zwischen „ehelicher Lebensgemeinschaft“ und „Leben im gemeinsamen Haushalt“ und den daraus sich für das Ermittlungsverfahren ergebenden Konsequenzen vgl. grundlegend VwGH 17.5.2011, 2007/01/1144, mwN; zur Neufassung der Z 2 des § 11a Abs. 1 StbG durch Verankerung der Wortfolge: „2. die eheliche Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht aufgehoben ist und“ vgl. im Übrigen Art. 6 des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009, BGBl. I Nr. 122). Die diesbezüglichen Feststellungen (zur Frage, ob der Revisionswerber im Zeitpunkt der Verleihung mit seiner damaligen Ehefrau noch im gemeinsamen Haushalt iSd § 11a Abs. 1 Z 1 StbG aF lebte) hätten jedoch nur auf der Grundlage einer mündlichen Verhandlung getroffen werden dürfen, zumal insofern nicht von einem nach der Aktenlage geklärten Sachverhalt auszugehen war und dem Revisionswerber auch Parteiengehör im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu gewähren gewesen wäre.

20       Darüber hinaus wird durch die Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens auch in die unionsrechtlich geschützte Sphäre des Revisionswerbers eingegriffen (vgl. unten Pkt. II.), weshalb die Durchführung der mündlichen Verhandlung auch nach Art. 47 GRC geboten gewesen wäre.

21       Durch das Unterlassen der mündlichen Verhandlung hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis sohin mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.

II. Unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung

22       Der Verwaltungsgerichtshof geht - dem EuGH folgend - in Fällen, in denen die Verleihung der Staatsbürgerschaft erschlichen wurde, von der Erwägung aus, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft nach Maßgabe des § 69 Abs. 1 Z 1 (iVm Abs. 3) AVG grundsätzlich zulässig ist. Die Staatsbürgerschaftsbehörde hat in derartigen Fällen jedoch zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist; bei dieser Prüfung ist der Behörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, wobei es Sache des Verleihungswerbers ist, konkret darzulegen, dass die Behörde diesen Beurteilungsspielraum überschritten hat (vgl. etwa VwGH 30.9.2019, Ra 2019/01/0281, und 19.5.2021, Ra 2019/01/0343, jeweils mwH, unter anderem auf EuGH 2.3.2010, C-135/08, Rottmann, und EuGH 12.3.2019, C-221/17, Tjebbes u.a.; vgl. weiters VwGH 23.4.2020, Ro 2020/01/0004, sowie 20.7.2022, Ra 2022/01/0170, jeweils mwN).

23       Das Verwaltungsgericht hat - wie bereits die belangte Behörde im erstinstanzlichen Bescheid - nicht geprüft, ob im Sinne der angeführten Rechtsprechung fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft des Revisionswerbers ausnahmsweise unverhältnismäßig ist.

24       Es hat dadurch das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet (vgl. bereits die - unmittelbar im Gefolge des „Rottmann“-Urteils des EuGH ergangenen - zahlreichen Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zur Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens im Zusammenhang mit dem Verschweigen eines nicht (mehr) bestehenden gemeinsamen Haushaltes; neben dem bereits in der Beschwerde erwähnten hg. Erkenntnis vom 29.11.2012, 2011/01/0219, etwa VwGH 16.2.2012, 2010/01/0031; 16.2.2012, 2010/01/0063; 31.5.2012, 2011/01/0145; 11.10.2012, 2011/01/0246; 27.2.2013, 2011/01/0199; 26.6.2013, 2011/01/0251).

III. Ergebnis

25       Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen (der prävalierenden) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

26       Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Februar 2023

Schlagworte

Parteiengehör Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022010128.L00

Im RIS seit

21.03.2023

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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