TE Vwgh Erkenntnis 2023/2/23 Ra 2021/18/0078

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 23.02.2023
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
  1. AsylG 2005 § 8 heute
  2. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.11.2017 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 84/2017
  3. AsylG 2005 § 8 gültig ab 01.11.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 145/2017
  4. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2014 bis 31.10.2017 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 68/2013
  5. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2014 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 87/2012
  6. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2010 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 122/2009
  7. AsylG 2005 § 8 gültig von 01.01.2006 bis 31.12.2009
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990
  1. VwGG § 42 heute
  2. VwGG § 42 gültig ab 01.01.2014 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 33/2013
  3. VwGG § 42 gültig von 01.07.2012 bis 31.12.2013 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 51/2012
  4. VwGG § 42 gültig von 01.07.2008 bis 30.06.2012 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 4/2008
  5. VwGG § 42 gültig von 01.01.1991 bis 30.06.2008 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 330/1990
  6. VwGG § 42 gültig von 05.01.1985 bis 31.12.1990

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2021/18/0079
Ra 2021/18/0080
Ra 2021/18/0081
Ra 2021/18/0082

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision 1. des H G, 2. der N A, 3. des M G, 4. der M G, und 5. des L G, alle in S und vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Jänner 2021, 1. L529 2158206-1/17E, 2. L529 2158217-1/13E, 3. L529 2158214-1/12E, 4. L529 2158210-1/12E und 5. L529 2208492-1/11E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten und die Eltern der minderjährigen dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien. Sie alle sind irakische Staatsangehörige und muslimischen Glaubens. Der Erstrevisionswerber ist Sunnit, die Zweitrevisionswerberin ist Schiitin. Die Familie stammt aus der Provinz Diyala.

2        Die erst- bis viertrevisionswerbenden Parteien stellten am 16. August 2015 und der bereits in Österreich geborene Fünftrevisionswerber (vertreten durch die Zweitrevisionswerberin) am 29. August 2018 Anträge auf internationalen Schutz, die sie im Wesentlichen mit Bedrohungen aufgrund der Mischehe der erst- und zweitrevisionswerbenden Parteien sowie mit einer Entführung des Erstrevisionswerbers durch schiitische Milizen begründeten.

3        Mit Bescheiden vom 28. April 2017 beziehungsweise vom 27. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge ab, erteilte keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.

4        Die gegen diese Bescheide von den revisionswerbenden Parteien erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

5        Begründend führte das BVwG (soweit aufgrund des eingeschränkten Anfechtungsumfanges der Revision relevant) aus, es könne nicht erkannt werden, dass eine Rückkehr der revisionswerbenden Parteien in den Irak eine reale Gefahr einer Verletzung der durch Art. 2 oder 3 EMRK geschützten Rechte mit sich bringen würde. Aufgrund der fundierten Ausbildung des Erstrevisionswerbers als Elektrotechniker, seiner qualifizierten Berufserfahrung als Teamleiter in einem Bauunternehmen sowie der universitären Ausbildung der Zweitrevisionswerberin im Agrarwesen sei eine „ungleich bessere Rückkehrperspektive“ gegeben. Eine Rückkehr in die über den Flughafen Bagdad sicher erreichbare Herkunftsregion sei zumutbar. Zwar zähle Diyala zu den Regionen mit den meisten sicherheitsrelevanten Vorfällen im Irak, gelte als gewalttätigste des ganzen Landes und als Kerngebiet des Islamischen Staates (IS), es zeichne sich jedoch ein Abwärtstrend bei den zu Tode gekommenen Zivilisten ab. Die Sicherheitslage habe sich insgesamt seit 2017, als die irakische Regierung den Sieg über den IS ausgerufen habe, erheblich verbessert. Die revisionswerbenden Parteien gehörten keiner Personengruppe mit speziellem Risikoprofil an. Sofern in der Beschwerde des Fünftrevisionswerbers darauf hingewiesen worden sei, dass er aufgrund seiner Minderjährigkeit und der Geburt in Österreich bei Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten würde, sei dies nicht hinreichend konkretisiert worden. In der Herkunftsregion herrsche keine derartige Gefährdungslage, dass gleichsam jede Person, die sich dort aufhalte, einer unmittelbaren Gefährdung ihrer nach Art. 2 oder Art. 3 EMRK geschützten Rechte ausgesetzt sei. Eine generelle Verletzung von Kinderrechten im Falle einer Rückkehr sei nicht ersichtlich.

6        Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich gegen dieses Erkenntnis nur insoweit, als damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und gegen die darauf aufbauenden Spruchpunkte abgewiesen wurden. Zur Zulässigkeit und in der Sache bringt die Revision vor, entgegen näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes habe das BVwG die besondere Vulnerabilität der revisionswerbenden Parteien bei der Beurteilung, ob ihnen eine Rückkehr in ihre Herkunftsprovinz Diyala zumutbar sei, nicht ausreichend berücksichtigt. Die dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien entstammten einer sunnitisch-schiitischen Mischehe. Die Zweitrevisionswerberin sei als Schiitin häuslicher Gewalt durch ihre sunnitische Schwiegerfamilie ausgesetzt gewesen und leide an einer Autoimmunerkrankung. Das BVwG hätte auf die Rückkehrschwierigkeiten gemischt-religiöser Paare mit Kindern eingehen müssen, um die Gefahrensituation ganzheitlich beurteilen zu können.

7        Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9        Die Revision ist zulässig und begründet.

10       Vorauszuschicken ist, dass das BVwG im angefochtenen Erkenntnis unter Bezugnahme auf die UNHCR-Richtlinien vom Mai 2019 zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak geflüchtet sind, festhielt, dass die revisionswerbenden Parteien keiner Personengruppe mit besonderem Risikoprofil angehören würden.

11       Bei den revisionswerbenden Parteien handelt es sich jedoch um eine Familie mit drei minderjährigen Kindern und somit nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes schon deshalb um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien - fallbezogen im Irak - tatsächlich vorfinden (vgl. dazu etwa VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0303, mwN).

12       Diesem Erfordernis wird das BVwG im vorliegenden Erkenntnis nicht gerecht.

13       Das BVwG stellte fest, zwischen dem Erstrevisionswerber und der Zweitrevisionswerberin bestehe eine sunnitisch-schiitische „Mischehe“ und es sei nicht ausgeschlossen, dass gemischt konfessionelle Familien diskriminiert und bedroht würden. Die vom BVwG herangezogenen Länderberichte wiesen Diyala, die Herkunftsregion der revisionswerbenden Parteien, überdies als die „gewalttätigste Region“ des Landes aus und hielten fest, dass der IS in Diyala und Kirkuk im Vergleich zum Rest des Landes mit relativ hohem Tempo sein Fundament wieder aufzubauen scheine und seine Angriffe wieder verstärkt habe. Nach den Feststellungen des BVwG zu Kindern im Irak sind diese häufig Opfer der kriegerischen Auseinandersetzung und in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage einerseits und Gewaltakten gegen sie oder ihre Familienmitglieder andererseits betroffen. Im Falle einer „Nichtregistrierung“ eines Kindes würden diesem Bildung, Lebensmittelhilfe und Gesundheitsversorgung versagt werden.

14       Die kursorischen rechtlichen Erwägungen des BVwG zur Rückkehrsituation der minderjährigen dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien erschöpfen sich im Wesentlichen darin festzuhalten, dass der Schulbesuch für irakische Kinder in den ersten sechs Jahren verpflichtend sei und die Eltern des Erstrevisionswerbers sowie sein Bruder samt Kindern ohne Probleme in einem 200 m² großen Haus in Diyala wohnen würden.

15       Es bleibt unklar, ob das BVwG davon ausging, dass die revisionswerbenden Parteien Unterkunft bei diesen Verwandten nehmen könnten bzw. ob dies - im Hinblick auf das von der Zweitrevisionswerberin erstattete und vom BVwG nicht näher beurteilte Vorbringen, wonach sie von der Familie des Erstrevisionswerbers aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensrichtung schlecht behandelt worden sei - konkret möglich wäre.

16       Ausgehend von der besonderen Schutzbedürftigkeit der minderjährigen dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien wird sich das BVwG im fortgesetzten Verfahren genauer mit der konkreten Rückkehrsituation der revisionswerbenden Parteien auseinanderzusetzen und insbesondere die minderjährigen revisionswerbenden Parteien im Hinblick auf Aspekte des Kindeswohls anzuhören (vgl. VfGH 14.12.2022, E 1487/2022 ua.) haben.

17       Aus den dargelegten Gründen hat das BVwG das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Es war daher im angefochtenen Umfang (nämlich in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) nach § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG unter Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

18       Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. Februar 2023

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021180078.L00

Im RIS seit

21.03.2023

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2023
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten