Entscheidungsdatum
22.11.2022Index
82/03 Ärzte Sonstiges SanitätspersonalNorm
ÄrzteG 1998 §117a Abs1 Z2Text
Das Verwaltungsgericht Wien stellt durch seine Richterin Dr. Fekete-Wimmer im Verfahren über die Beschwerde des Herrn Dr. A. B. gegen das Disziplinarerkenntnis der Disziplinarkommission für Wien des Disziplinarrats der Österreichischen Ärztekammer vom 21.04.2022, Zl. ..., betreffend die Verhängung einer Disziplinarstrafe nach dem Ärztegesetz 1998 (ÄrzteG 1998), gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG iVm Art. 140 B-VG den
A N T R A G
der Verfassungsgerichtshof möge
§ 117b Abs. 1 Z 23 des Ärztegesetzes 1998 (ÄrzteG 1998), BGBl. Nr. 169/1998 idF BGBl. I Nr. 80/2012, mit Ausnahme des letzten Wortes („sowie“), das Wort „sowie“ am Ende von § 120 Z 8 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 80/2013, § 120 Z 9 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 80/2013, mit Ausnahme des Punktes am Ende des Satzteils, sowie § 140 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 80/2013,
in eventu
das Wort „und“ in § 117a Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 144/2009, § 117a Abs. 1 Z 3 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 144/2009 mit Ausnahme des Punktes am Satzende, § 117b Abs. 1 Z 23 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 80/2012, mit Ausnahme des letzten Wortes („sowie“), das Wort „sowie“ am Ende von § 120 Z 8 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 80/2013, § 120 Z 9 ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 80/2013, mit Ausnahme des Punktes am Ende des Satzteils, alle Bestimmungen des 3. Hauptstücks des ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 25/2017 sowie § 195e ÄrzteG 1998 idF BGBl. I Nr. 25/2017,
in eventu
das ÄrzteG1998 idF BGBl. I Nr. 65/2022 zur Gänze,
als verfassungswidrig aufheben.
BEGRÜNDUNG
I. Ausgangsverfahren und maßgeblicher Sachverhalt:
1.1. In dieser Angelegenheit sind – soweit für das Verwaltungsgericht Wien ersichtlich – Gesetzesprüfungsanträge des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich zu LVwG-AV-1574/001-2021 und LVwG-AV-76 (001-2022 vom 13.09.2022 sowie zu LVwG-AV-1481/002-2020 vom 30.08.2022 sowie des Verwaltungsgerichtes Wien zu VGW-172/091/12851/2021-8, VGW-172/091/6825/2022-10 und VGW-172/091/6572/2022/E-9 vom 16.11.2022 anhängig. In der verfahrensgegenständlichen Rechtssache sind dieselben als gesetzwidrig beurteilten Bestimmungen anzuwenden (zur Einbeziehung solcher Fälle in anhängige Normenprüfungsverfahren siehe VfSlg 10.616/1985).
1.2. Mit dem vor dem Verwaltungsgericht Wien angefochtenen Bescheid vom 21.04.2022 wurde der Beschwerdeführer von der Disziplinarkommission für Wien des Disziplinarrates der Österreichischen Ärztekammer (belangte Behörde) wie folgt für schuldig befunden:
„Der Disziplinarbeschuldigte Dr. A. B. ist schuldig, er hat in Wien am 30.11.2021 in seinem Newsletter an seine Patienten die Wirksamkeit und das Risiko der COVID-Impfung unrichtig dargestellt, indem er angab, die Ansteckungswahrscheinlichkeit sei bei Geimpften gleich groß wie bei Ungeimpften, es seien genau so viel Geimpfte wie Ungeimpfte im Krankenhaus, aber 60-jahrige sogar zu 70 %, 25 %-35 % der schweren Verlaufe betreffen geimpfte Personen, das COVID-Virus sei für Kinder und Jugendliche zu 99,998 % ungefährlich. Das Risiko der Corona-lmpfung sei nicht einzuschätzen, männliche Kinder und Jugendliche hatten dabei ein Risiko von 1:5.000 für eine Herzmuskelentzündung, die Impfung habe schwerste Nebenwirkungen bis hin zum Tod, und dadurch das Ansehen der in Österreich tätigen Ärzteschaft beeinträchtigt sowie überdies unsachliche und unwahre Tatsachen behauptet, solcherart gegen seine Berufspflicht nach § 53 Abs. 1 ÄrzteG iVm §§ 1, 2 Abs 1 und Abs 2 Verordnung Arzt und Öffentlichkeit verletzt und damit die Disziplinarvergehen nach § 136 Abs. 1 Z 1 und Z 2 ÄrzteG begangen.“
Gemäß § 139 Abs. 1 Z 2 ÄrzteG 1998 wurde über den Beschwerdeführer eine Geldstrafe in Höhe von € 2.000,-- verhängt.
Dem Beschwerdeführer wurden außerdem die mit 1.000,-- Euro bestimmten Kosten des Disziplinarverfahrens auferlegt.
Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 03.05.2022 zugestellt. Mit fristgerechter Beschwerde, per mail eingelangt bei der belangten Behörde am 30.05.2022, wurde dieser Bescheid zur Gänze angefochten (Art. 130 Abs. 1 Z 1 iVm Art. 132 Abs. 1 Z 1 B-VG).
Die belangte Behörde legte in Folge die Beschwerde samt Verwaltungsakten zur Entscheidung vor.
1.3. Die belangte Behörde bestand gemäß § 140 ÄrzteG 1998 aus einem vom Bundesminister für Gesundheit und Frauen (bzw. einem gemäß § 17 BMG zuständig gewordenen anderen Bundesminister) bestellten rechtskundigen Vorsitzenden (welcher nicht Arzt und somit weder Mitglied einer Ärztekammer noch der Österreichischen Ärztekammer ist) und zwei weiteren vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer bestellten ärztlichen Beisitzern (die somit Mitglied einer Ärztekammer sind).
1.4. Dieser Sachverhalt bzw. Verfahrensgang ergibt sich aus der vorliegenden Aktenlage (Verwaltungsakten, Gerichtsakten).
II. Rechtsvorschriften:
2.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 109/2021, lauten:
„[…]
Anzuwendendes Recht
§ 17. Soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, sind auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder
Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
[…]
Prüfungsumfang
§ 27. Soweit das Verwaltungsgericht nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, hat es den angefochtenen Bescheid und die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen.
[…]
Beschlüsse
§ 31. (1) Soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist, erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss.
[…]“
2.2. Die Art. 120a ff des Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 idF BGBl. I Nr. 2/2008, lauten auszugsweise:
„B. Sonstige Selbstverwaltung
Artikel 120a. (1) Personen können zur selbständigen Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, die in ihrem ausschließlichen oder überwiegenden gemeinsamen Interesse gelegen und geeignet sind, durch sie gemeinsam besorgt zu werden, durch Gesetz zu Selbstverwaltungskörpern zusammengefasst werden.
[…]
Artikel 120b. (1) Die Selbstverwaltungskörper haben das Recht, ihre Aufgaben in eigener Verantwortung frei von Weisungen zu besorgen und im Rahmen der Gesetze Satzungen zu erlassen. Dem Bund oder dem Land kommt ihnen gegenüber nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsführung ein Aufsichtsrecht zu. Darüber hinaus kann sich das Aufsichtsrecht auch auf die Zweckmäßigkeit der Verwaltungsführung erstrecken, wenn dies auf Grund der Aufgaben des Selbstverwaltungskörpers erforderlich ist.
(2) Den Selbstverwaltungskörpern können Aufgaben staatlicher Verwaltung übertragen werden. Die Gesetze haben derartige Angelegenheiten ausdrücklich als solche des übertragenen Wirkungsbereiches zu bezeichnen und eine Weisungsbindung gegenüber
dem zuständigen obersten Verwaltungsorgan vorzusehen.
(3) Durch Gesetz können Formen der Mitwirkung der Selbstverwaltungskörper an der staatlichen Vollziehung vorgesehen werden.
Artikel 120c. (1) Die Organe der Selbstverwaltungskörper sind aus dem Kreis ihrer Mitglieder nach demokratischen Grundsätzen zu bilden.
[…]“
2.3. Die maßgeblichen Bestimmungen des Ärztegesetzes 1998 (ÄrzteG 1998), BGBl. I Nr. 169 idF BGBl. I Nr. 65/2022 (die angefochtenen Bestimmungen erhielten ihre Fassung bereits durch die im Spruch angeführten Novellen), lauten:
„[…]
2. Hauptstück
Kammerordnung
[…]
2. Abschnitt
Ärztekammern in den Bundesländern
Einrichtung der Ärztekammern
§ 65. (1) Zur Vertretung des Ärztestandes ist für den räumlichen Bereich eines jeden Bundeslandes eine Ärztekammer eingerichtet. Diese Ärztekammern führen die Bezeichnung „Ärztekammer für ...“ mit einem auf das jeweilige Bundesland hinweisenden Zusatz.
(2) Die Ärztekammern in den Bundesländern sind Körperschaften öffentlichen Rechtes.
[…]
Kammerangehörige
§ 68. (1) Einer Ärztekammer gehört als ordentlicher Kammerangehöriger jeder Arzt an, der
1. in die von der Österreichischen Ärztekammer geführte Ärzteliste gemäß § 4 eingetragen worden ist und
2. seinen Beruf im Bereich dieser Ärztekammer ausübt und
3. keine Alters- oder ständige Invaliditätsversorgung aus dem Wohlfahrtsfonds bezieht.
Bezieher einer Alters- oder ständigen Invaliditätsversorgung aus dem Wohlfahrtsfonds sind ordentliche Kammerangehörige, wenn sie auf Grund regelmäßiger ärztlicher Tätigkeit fortlaufend Beiträge zum Wohlfahrtsfonds und die Kammerumlage entrichten.
(2) Ordentliche Angehörige einer Ärztekammer sind ferner Ärzte, die gemäß § 34 in die Ärzteliste eingetragen worden sind und ihren Beruf im Bereich dieser Ärztekammer ausüben.
[…]
4. Abschnitt
Österreichische Ärztekammer
Einrichtung
§ 117. (1) Zur Vertretung der gemeinsamen Interessen aller in Österreich tätigen Ärzte, die Angehörige einer Ärztekammer sind (§ 68 Abs. 1, 2 und 5), ist die „Österreichische Ärztekammer“ am Sitz der Bundesregierung eingerichtet.
(2) Die Österreichische Ärztekammer ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts.
[…]
Wirkungskreis
§ 117a. (1) Die Österreichische Ärztekammer ist berufen,
[…]
3. für die Wahrung des ärztlichen Berufs- und Standesansehens und der ärztlichen Berufs- und Standespflichten zu sorgen.
(2) Der Wirkungskreis gemäß Abs. 1 gliedert sich in einen eigenen und einen übertragenen Wirkungsbereich.
Eigener Wirkungsbereich
§ 117b. (1) Die Österreichische Ärztekammer ist berufen, im eigenen Wirkungsbereich insbesondere folgende Aufgaben wahrzunehmen:
[…]
23. disziplinäre Verfolgung von Verletzungen der ärztlichen Berufspflichten und von Beeinträchtigungen des Ansehens der Ärzteschaft durch Ärzte einschließlich der Führung eines Disziplinarregisters, in das jede in Rechtskraft erwachsene Disziplinarstrafe unter Angabe der Personaldaten des betroffenen Arztes sowie der Daten des verurteilenden Erkenntnisses einzutragen sind, sowie […]
Mitglieder
§ 119. Mitglieder der Österreichischen Ärztekammer sind die Ärztekammern in den Bundesländern.
Organe
§ 120. Organe der Österreichischen Ärztekammer sind
1. die Vollversammlung (§§ 121 und 122),
2. der Vorstand (§ 123),
3. der Präsident und drei Vizepräsidenten (§ 125),
4. die Bundeskurien (§ 126),
5. die Bundeskurienobmänner und ihre Stellvertreter (§ 127),
6. das Präsidium (§ 128),
7. die Ausbildungskommission (§ 128a),
8. der Verwaltungsausschuss eines gemeinsamen Wohlfahrtsfonds (§ 134) sowie
9. der Disziplinarrat (§ 140).
[…]
Vorstand
§ 123. […]
(3) Dem Vorstand obliegt die Durchführung aller der Österreichischen Ärztekammer gemäß §§ 117b und 117c dieses Bundesgesetzes oder nach anderen Vorschriften übertragenen Aufgaben, soweit diese nach diesem Bundesgesetz nicht ausdrücklich anderen Organen zugewiesen sind. […]
[…]
3. Hauptstück
Disziplinarrecht
1. Abschnitt
Begriffsbestimmung
§ 135. (1) Ärzte im Sinne dieses Hauptstückes sind alle ordentlichen Kammerangehörigen (§ 68 Abs. 1 und 2) sowie alle Ärzte, die über eine Bewilligung gemäß den §§ 32 oder 33 verfügen, unabhängig davon, ob sie ihre ärztliche Tätigkeit freiberuflich oder im Rahmen eines Dienstverhältnisses ausüben, sowie Ärzte gemäß den §§ 35, 36 und 37.
[…]
5. Abschnitt
Disziplinarrat und Disziplinaranwalt
§ 140. (1) Über Disziplinarvergehen erkennt der Disziplinarrat der Österreichischen Ärztekammer.
(2) Im Rahmen des Disziplinarrates ist zur Durchführung der Disziplinarverfahren für den Bereich eines jeden Oberlandesgerichtssprengels zumindest eine Disziplinarkommission einzurichten. Die Bestellung mehrerer Disziplinarkommissionen mit örtlich verschiedenem Wirkungsbereich ist zulässig. Überdies sind jeder Disziplinarkommission mehrere vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer zu bestellende rechtskundige Untersuchungsführer beizugeben, die in einer vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer zu führenden Liste zu erfassen sind.
(3) Jede Disziplinarkommission besteht aus dem Vorsitzenden, der rechtskundig sein muss und auf Vorschlag des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer vom Bundesminister für Gesundheit und Frauen bestellt wird, sowie aus zwei ärztlichen Beisitzern, die vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer bestellt werden. Für den Vorsitzenden sind gleichzeitig zwei Stellvertreter, die rechtskundig sein müssen, auf Vorschlag des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer vom Bundesminister für Gesundheit und Frauen und für die ärztlichen Beisitzer gleichzeitig vier Stellvertreter vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer zu bestellen. Der Bundesminister für Gesundheit und Frauen hat bei der Bestellung eines Richters zum Vorsitzenden oder zum Stellvertreter des Vorsitzenden das Einvernehmen mit dem Bundesminister für Justiz herzustellen. Mitglieder des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer dürfen einer Disziplinarkommission nicht angehören.
(4) Die ärztlichen Beisitzer haben dem Vorsitzenden vor Antritt ihrer Tätigkeit die gewissenhafte und unparteiische Erfüllung ihrer Pflichten zu geloben.
(5) Die einzelnen Disziplinarkommissionen des Disziplinarrates sind ermächtigt, soweit dies zur Vermeidung unnötiger Kosten und zur rascheren Durchführung des Verfahrens angezeigt ist, ihre Tätigkeit in den Räumlichkeiten jener Ärztekammer auszuüben, der der Beschuldigte angehört.
[…]
Disziplinarrechtliche Aufsicht
§ 195e. (1) Das disziplinarrechtliche Aufsichtsrecht der Bundesministerin/des Bundesministers für Gesundheit und Frauen umfasst die Sorge für die gesetzmäßige Führung der Kanzleigeschäfte und die ordnungsgemäße Durchführung von Disziplinarverfahren. Zu diesem Zweck ist die Bundesministerin/der Bundesminister für Gesundheit und Frauen berechtigt, sich jederzeit von der Kanzleigeschäftsführung des Disziplinarrats sowie vom Stand der anhängigen Disziplinarverfahren unterrichten zu lassen und die Beseitigung diesbezüglicher Rechtswidrigkeiten zu verlangen.
(2) Der Genehmigung der Bundesministerin/des Bundesministers für Gesundheit und Frauen bedarf die Bestellung
1. der beiden ärztlichen Mitglieder der Disziplinarkommission und deren
Stellvertreterinnen/Stellvertreter (§ 140 Abs. 3) sowie
2. der Disziplinaranwältin/des Disziplinaranwaltes und ihrer/seiner
Stellvertreterinnen/Stellvertreter beim Disziplinarrat (§ 141).
Die Bundesministerin/Der Bundesminister für Gesundheit und Frauen hat die Genehmigung zu erteilen, wenn die Bestellung diesem Bundesgesetz nicht widerspricht.
(3) Werden Rechtswidrigkeiten (Abs. 1) nicht innerhalb angemessener Zeit beseitigt, so ist die Bundesministerin/der Bundesminister für Gesundheit und Frauen berechtigt,
1. den Disziplinarrat oder einzelne Disziplinarkommissionen aufzulösen oder
2. die Disziplinaranwältin/den Disziplinaranwalt oder ihre/seine Stellvertreterinnen/Stellvertreter beim Disziplinarrat abzuberufen,
wenn die gesetzmäßige Führung der Kanzleigeschäfte und die ordnungsgemäße Durchführung von Disziplinarverfahren nicht anders gewährleistet werden kann. In einem solchen Fall ist eine Neubestellung durchzuführen.
(4) Die Österreichische Ärztekammer hat zum Ende eines jeden Jahres der
Bundesministerin/dem Bundesminister für Gesundheit und Frauen ein Verzeichnis der
1. eingegangenen Anzeigen,
2. erledigten Disziplinarverfahren sowie
3. der noch anhängigen Disziplinarverfahren
vorzulegen (disziplinarrechtlicher Jahresbericht). Allfällige strukturelle und inhaltliche Kriterien für die Gestaltung des Jahresberichts sind einvernehmlich zwischen der Bundesministerin/dem Bundesminister für Gesundheit und Frauen und der Österreichischen Ärztekammer festzulegen. Der disziplinarrechtliche Jahresbericht ist erstmals für das Jahr 2017 zu erstellen.
[…]“
2.4. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 2 des Bundesministeriengesetzes 1986 (BMG), BGBl. Nr. 76 idF BGBl. I Nr. 8/2020, iVm lit. L Z 11 des Teils 2 der Anlage zu diesem Bundesgesetz sind Angelegenheiten der Ärzte vom Wirkungsbereich des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz umfasst.
Gemäß § 17 BMG gelten Zuständigkeitsvorschriften in besonderen Bundesgesetzen als entsprechend geändert, wenn auf Grund von Änderungen dieses Bundesgesetzes Änderungen im Wirkungsbereich der Bundesministerien vorgesehen sind.
III. Zur Zulässigkeit der Beschwerde:
Das Verwaltungsgericht Wien erachtet die Beschwerde als fristgerecht erhoben und auch sonst im Lichte der Art. 130 Abs. 1 Z 1 und 132 Abs. 1 Z 1 B-VG als zulässig.
IV. Bedenken des Verwaltungsgerichtes Wien:
4.1. In dieser Angelegenheit sind dem Verwaltungsgericht Wien die Gesetzesprüfungsanträge des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich LVwG-AV-1574/001-2021 und LVwG-AV-76(001-2022 vom 13.09.2022 sowie LVwG-AV-1481/002-2020 vom 30.08.2022 sowie jene des Verwaltungsgerichtes Wien VGW-172/091/12851/2021-8, VGW-172/091/6825/2022-10 und VGW-172/091/6572/2022/E-9 vom 16.11.2022 bekannt und das Verwaltungsgericht Wien schließt sich den darin geäußerten Bedenken an.
Mit der B-VG–Novelle BGBl I Nr. 2/2008 erfolgte in den Art 120a bis 120c B-VG die ausdrückliche verfassungsrechtliche Verankerung der nicht-territorialen Selbstverwaltung. Damit wurde auch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern abseits der bereits zuvor in den Art. 115 ff B-VG geregelten territorialen Selbstverwaltung (Gemeindeselbstverwaltung) klargestellt (vgl. VfSlg 18.731/2009).
4.2. Ein solcher nicht-territorialer Selbstverwaltungskörper ist, wie die §§ 117 ff ÄrzteG 1998 zeigen, auch die Österreichische Ärztekammer, sodass deren gesetzliche Regelung (Organisation) verfassungsrechtlich an den Art. 120a bis 120c B-VG zu messen ist.
Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Österreichischen Ärztekammer, wie sich aus § 119 ÄrzteG 1998 ergibt, um einen „Dachverband“ in dem Sinn handelt, dass die Mitglieder der Österreichischen Ärztekammer die Ärztekammern in den Bundesländern sind. Letztere sind in den §§ 65 ff ÄrzteG 1998 ebenfalls als Selbstverwaltungskörper organisiert. Gegen die Bildung derartiger Dachverbände bestehen grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. etwa VfSlg. 13.460/1993 oder VfSlg. 20.361/2019).
Aus der Konstruktion als Dachverband folgt nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien gemäß Art. 120c Abs. 1 B-VG zunächst allerdings, dass die dort geforderte Bildung der Organe nach demokratischen Grundsätzen durch die Ärztekammern in den Bundesländern zu erfolgen hat. Weiters müssen die Organe „aus dem Kreis ihrer Mitglieder“ bestellt sein. Da die Mitglieder wiederum Selbstverwaltungskörper (und somit juristische Personen, vgl. § 65 Abs. 2 ÄrzteG 1998) sind, müssen auch deren Organe aus dem Kreis ihrer Mitglieder, also der in § 68 Abs. 1 und 2 ÄrzteG 1998 genannten Ärzte, bestellt sein. Die demokratische Bestellung der Organe entspricht einem Kerngedanken der Selbstverwaltung (VfSlg. 20.226/2017), ebenso die Befugnis zur Bestellung der Organe aus der Mitte der Verbandsangehörigen (VfSlg. 17.023/2003).
Zusammengefasst entsprechen Organe der Österreichischen Ärztekammer somit jedenfalls nur dann Art. 120c Abs. 1 B-VG, wenn sie einerseits nur aus Ärzten gemäß § 68 Abs. 1 und ÄrzteG 1998 bestehen (weil ja, was wiederum aus Art. 120c Abs. 1 B-VG folgt, nur solche die Ärztekammern in den Bundesländern – den Kreis der Mitglieder der Österreichischen Ärztekammer – als Organe repräsentieren können) und wenn sie andererseits alleine von Ärzten, die Organe der Ärztekammern in den Bundesländern sind, bestellt sind.
4.3. Das Verwaltungsgericht Wien hegt zunächst das Bedenken, dass die durch § 117b Abs. 1 Z 23 ÄrzteG 1998 bewirkte Verweisung des ärztlichen Disziplinarrechts in den eigenen Wirkungsbereich der Österreichischen Ärztekammer in Verbindung mit der Bestimmung des Disziplinarrates der Österreichischen Ärztekammer zum Organ der Österreichischen Ärztekammer in § 120 Z 9 ÄrzteG 1998 sowie den Regelungen des § 140 leg.cit. über den Disziplinarrat bzw. die Disziplinarkommissionen, durch die dieser zu entscheiden hat, gegen Art. 120c Abs. 1 B-VG verstößt.
Dieser Verstoß wird konkret dadurch bewirkt, dass den Disziplinarkommissionen gemäß § 140 Abs. 3 ÄrzteG 1998 jeweils neben zwei vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer bestellten ärztlichen Beisitzern ein rechtskundiger Vorsitzender angehört, der vom Bundesminister für Gesundheit und Frauen (nunmehr vom gemäß § 17 BMG iVm Punkt L. Z 11 des Teils 2 der Anlage zum BMG zuständig gewordenen Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), allenfalls im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Justiz, bestellt wird. Hinsichtlich dessen Person kommt dem Vorstand der Österreichischen Ärztekammer lediglich ein Vorschlagsrecht zu. Nach derselben Regelung sind zwei Stellvertreter des Vorsitzenden zu bestellen.
Das Gesetz schreibt einerseits nicht vor, dass der Vorsitzende Repräsentant eines Mitglieds der Österreichischen Ärztekammer (also einer Ärztekammer in einem Bundesland und somit insbesondere selbst Arzt, vgl. oben 2.) sein muss.
Andererseits handelt es sich beim Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, der die Bestellung des Vorsitzenden (allenfalls im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Justiz) vorzunehmen hat, um kein Organ, das eine demokratische Legitimation besitzt, die Interessen der Ärztekammern in den Bundesländern zu vertreten (vgl. in diesem Sinn zur Bestellung der Dienstnehmervertreter in der BVAEB VfGH 13.12.2019, G 211/2019 ua.).
Hinzu kommt noch, dass es nach § 140 Abs. 4 ÄrzteG 1998 gerade diesem Vorsitzenden obliegt, den ärztlichen Beisitzern (gegen deren Bestellung im Lichte des Art. 120c Abs. 1 B-VG für sich genommen keine Bedenken bestehen) ein vor dem Dienstantritt zu leistendes Gelöbnis abzunehmen und somit über deren Dienstantritt zu entscheiden.
Somit dürfte die Zusammensetzung der – als Organ der Österreichischen Ärztekammer in deren eigenem Wirkungsbereich tätig werdenden – Disziplinarkommissionen (und damit des Disziplinarrates) nicht Art. 120c Abs. 1 B-VG entsprechen.
4.4. Darüber hinaus hegt das Verwaltungsgericht Wien das Bedenken, dass die von § 117b Abs. 1 Z 23 ÄrzteG 1998 vorgenommene Verweisung des gesamten ärztlichen Disziplinarrechts in den eigenen Wirkungsbereich der Österreichischen Ärztekammer Art. 120a Abs. 1 B-VG widerspricht.
Dies ergibt sich daraus, dass die Vollziehung des ärztlichen Disziplinarrechts (somit des 3. Hauptstücks des ÄrzteG 1998 samt den Bestimmungen, auf die darin verwiesen bzw. an die angeknüpft wird; das sind im Wesentlichen Regelungen des 1. Hauptstücks sowie zahlreiche Bestimmungen des StGB, der StPO und des AVG) ein Ausmaß an rechtlicher Komplexität aufweist, die durch ein den Bestimmungen des Art. 120c Abs. 1 B-VG entsprechendes und somit aus dem Kreis der Mitglieder der Österreichischen Ärztekammer (bzw. deren Repräsentanten, die wiederum Art. 120c Abs. 1 B-VG genügen, also Ärzte sein müssen, s. oben 2.) gebildetes Organ im Allgemeinen nicht aufweisen kann. Daran ändert auch die Beigabe rechtskundiger Untersuchungsführer durch den letzten Satz des § 140 Abs. 2 ÄrzteG 1998 nichts, sind diese doch gemäß § 146 Abs. 6 ÄrzteG 1998 ausdrücklich von der Teilnahme an der Entscheidung ausgeschlossen.
Genau dieser Gedanke dürfte der durch § 140 Abs. 3 ÄrzteG 1998 angeordneten, jedoch Art. 120c Abs. 1 B-VG widersprechenden, Einbeziehung eines rechtskundigen Vorsitzenden in die Disziplinarkommissionen zu Grunde liegen.
4.5. Im Hinblick auf die beiden vorgenannten Bedenken übersieht das Verwaltungsgericht Wien nicht, dass der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis VfSlg. 13.012/1992 ausgesprochen hat, dass die Disziplinarkommission bei der Kammer der Tierärzte Österreichs in verfassungskonformer Sicht nicht als Organ der Bundeskammer der Tierärzte anzusehen sei, weil dieser Behörde ua. zwei Beamte des zuständigen Bundesministeriums angehören (darauf zurückkommend auch VfSlg. 17.023/2003).
Im damaligen Fall ließ sich also eine dem vorliegenden Fall vergleichbare Problematik mittels verfassungskonformer Interpretation lösen.
Einer verfassungskonformen Interpretation des ÄrzteG 1998 mit diesem Ergebnis steht aber nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien der klare Wortlaut des § 117b Abs. 1 Z 23 bzw. des § 120 Z 9 leg.cit. entgegen.
4.6. Schließlich hegt das Verwaltungsgericht Wien gegen § 140 Abs. 2 ÄrzteG 1998 auch das Bedenken, dass diese Bestimmung gegen das Legalitätsprinzip des Art. 18 B-VG im Hinblick auf die Regelung der Behördenzuständigkeit iVm Art. 83 Abs. 2 B-VG (Recht auf den gesetzlichen Richter) verstößt.
§ 140 Abs. 2 ÄrzteG 1998 erster Satz bestimmt zunächst, dass für den Bereich jedes Oberlandesgerichtssprengels zumindest eine Disziplinarkommission einzurichten ist.
Der zweite Satz erklärt sodann auch die Einrichtung mehrerer Disziplinarkommissionen für einen Oberlandesgerichtssprengel für zulässig, lässt jedoch offen, von wem, in welcher Form und nach welchen Determinanten die Entscheidung der Einrichtung mehrerer Disziplinarkommissionen zu treffen ist.
Ebenso nicht geregelt ist, wer, in welcher Form und auf Grund welcher Determinanten die örtliche Zuständigkeit der unterschiedlichen Disziplinarkommissionen voneinander abgrenzt.
Die Frage des entscheidungszuständigen Organs ließe sich allenfalls durch die in § 123 Abs. 3 erster Satz ÄrzteG 1998 vorgesehene subsidiäre Zuständigkeit des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer lösen. Diesfalls bestünde freilich eine Bindung des zur Ernennung des Vorsitzenden zuständigen Bundesministers an eine Willensäußerung des Vorstandes der Österreichischen Ärztekammer, was mit der Stellung des Bundesministers als oberstes Organs der Vollziehung (Art. 19 Abs. 1 B-VG) in einem Spannungsverhältnis stünde. Die Fragen der Form und der maßgeblichen Determinanten für die Errichtung weiterer Disziplinarkommissionen bzw. die Abgrenzung von deren örtlicher Zuständigkeit bleiben auch bei dieser Auslegung offen.
Damit genügt § 140 Abs. 2 ÄrzteG 1998 nicht den in der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes im Hinblick auf Art. 18 iVm Art. 83 Abs. 2 B-VG aufgestellten Anforderungen nach einer präzisen und eindeutigen Regelung der Behördenzuständigkeit (zuletzt VfGH 10.03.2021, G 380/2020 ua. mwN).
V. Zu Zulässigkeit und Umfang des Antrages sowie zu den Rechtsfolgen der Aufhebung:
5.1. Gemäß Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über Verfassungswidrigkeit von Gesetzen auf Antrag eines Gerichtes. Nach Art. 135 Abs. 4 iVm Art. 89 Abs. 2 B-VG hat ein Verwaltungsgericht den Antrag auf Aufhebung von Gesetzesbestimmungen beim Verfassungsgerichtshofs zu stellen, wenn es gegen deren Anwendung aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken hat.
5.2. Der Umfang einer aufzuhebenden Gesetzesbestimmung – und damit auch des auf eine Aufhebung gerichteten Gerichtsantrages – ist derart abzugrenzen, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als zur Beseitigung der zulässigerweise geltend gemachten Rechtsverletzung erforderlich ist, dass aber andererseits der verbleibende Text keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt. Es liegt auf der Hand, dass beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können. Der Verfassungsgerichtshof hat daher in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (VfSlg. 13.721/1994 mwN).
Weiters hat der Verfassungsgerichtshof in seiner jüngeren Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass die Grenzen der Aufhebung einer auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzesbestimmung so zu ziehen sind, dass einerseits der verbleibende Gesetzesteil nicht einen völlig veränderten Inhalt bekommt und dass andererseits die mit der aufzuhebenden Gesetzesstelle untrennbar zusammenhängenden Bestimmungen auch erfasst werden. Dieser Grundposition folgend hat der Verfassungsgerichtshof die Rechtsauffassung entwickelt, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Norm bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf. Der Antragsteller hat all jene Normen anzufechten, welche für die Beurteilung der allfälligen Verfassungswidrigkeit der Rechtslage eine untrennbare Einheit bilden. Es ist dann Sache des Verfassungsgerichtshofes, darüber zu befinden, auf welche Weise eine solche Verfassungswidrigkeit – sollte der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Antragstellers teilen – beseitigt werden kann.
Unzulässig ist der Antrag etwa dann, wenn der im Falle der Aufhebung im begehrten Umfang verbleibende Rest einer Gesetzesstelle als sprachlich unverständlicher Torso inhaltsleer und unanwendbar wäre, der Umfang der zur Aufhebung beantragten Bestimmungen so abgesteckt ist, dass die angenommene Verfassungswidrigkeit durch die Aufhebung gar nicht beseitigt würde, oder durch die Aufhebung bloßer Teile einer Gesetzesvorschrift dieser ein völlig veränderter, dem Gesetzgeber überhaupt nicht mehr zusinnbarer Inhalt gegeben würde.
Unter dem Aspekt einer nicht trennbaren Einheit in Prüfung zu ziehender Vorschriften ergibt sich ferner, dass ein Prozesshindernis auch dann vorliegt, wenn es auf Grund der Bindung an den gestellten Antrag zu einer in der Weise isolierten Aufhebung einer Bestimmung käme, dass Schwierigkeiten bezüglich der Anwendbarkeit der im Rechtsbestand verbleibenden Vorschriften entstünden, und zwar in der Weise, dass der Wegfall der angefochtenen (Teile einer) Gesetzesbestimmung den verbleibenden Rest unverständlich oder auch unanwendbar werden ließe. Letzteres liegt dann vor, wenn nicht mehr mit Bestimmtheit beurteilt werden könnte, ob ein der verbliebenen Vorschrift zu unterstellender Fall vorliegt (zuletzt VfGH 29.04.2022, G 29/2022, mwN).
5.3. Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht Wien nach § 27 erster Halbsatz VwGVG zunächst – auch ohne entsprechendes Vorbringen in den Beschwerden (vgl. etwa VwGH 27.03.2018, Ra 2015/06/0072, mwN) – die Zuständigkeit der belangten Behörde, konkret also der Disziplinarkommission für Wien des Disziplinarrates der österreichischen Ärztekammer, zu prüfen.
Teil dieser Prüfung ist auch die Prüfung der gesetzmäßigen Zusammensetzung einer Kollegialbehörde (vgl. etwa VwGH 27.11.2000, 99/17/0312, mwN).
Um diese durchführen zu können, muss das Verwaltungsgericht Wien zunächst § 140 Abs. 1 bis 3 ÄrzteG 1998 anwenden. Mit diesen Absätzen stehen die weiteren Absätze des § 140 ÄrzteG 1998 im untrennbaren Zusammenhang, weil sie im Falle der Aufhebung der Abs. 1 bis 3 unanwendbar würden.
§ 117b Abs. 1 Z 23 (ausgenommen dessen letztes Wort „sowie“) und § 120 Z 9 ÄrzteG 1998 sind bei der Zuständigkeitsprüfung gemäß § 27 erster Halbsatz VwGVG mitanzuwenden bzw. besteht im Lichte der vorgebrachten Bedenken zumindest ebenfalls ein untrennbarer Zusammenhang zu § 140 Abs. 1 bis 3 ÄrzteG 1998 im Sinne der angeführten Rechtsprechung.
Aus diesen Überlegungen erklärt sich die Formulierung des Hauptantrages.
5.4. Es erscheint aber auch vorstellbar, dass der Verfassungsgerichtshof einen darüber hinausgehenden untrennbaren Zusammenhang von § 117b Abs. 1 Z 23 (mit Ausnahme des letzten Wortes), § 120 Z 9 und § 140 Abs. 1 bis 3 ÄrzteG 1998 mit dem gesamten ärztlichen Disziplinarrecht, also sämtlichen Regelungen des 3. Hauptstücks des ÄrzteG 1998, und darüber hinaus mit dem auf die Wahrnehmung des Disziplinarrechts durch die Österreichische Ärztekammer abzielenden § 117a Abs. 1 Z 3 (ohne den Punkt am Ende, jedoch einschließlich des damit sprachlich zusammenhängenden Wortes „und“ in § 117a Abs. 1 Z 2) sowie der die disziplinarrechtlichen Aufsicht des zuständigen Bundesministers regelnden Bestimmung des § 195e ÄrzteG 1998 erkennt, weil diese Normen bei Wegfall der die Zusammensetzung des Disziplinarrates bzw. der Disziplinarkommissionen regelnden Bestimmungen unanwendbar würden bzw. – wenn man nach Aufhebung des § 140 von der Anwendbarkeit der subsidiären Zuständigkeitsbestimmung des § 123 Abs. 2 ÄrzteG 1998 ausginge – einen völlig veränderten Inhalt bekämen.
Schließlich erscheint es im Hinblick darauf, dass auch mehrere Bestimmungen des ÄrzteG 1998 außerhalb des 3. Hauptstücks an den Bestimmungen dieses Hauptstücks anknüpfen (vgl. etwa § 59 Abs. 1 Z 4 und 5 ÄrzteG 1998), vorstellbar, dass ein noch weiterer untrennbarer Zusammenhang von § 117b Abs. 1 Z 23, § 120 Z 9 und § 140 Abs. 1 bis 3 ÄrzteG 1998 mit Bestimmungen des ÄrzteG 1998, möglicherweise auch allen Bestimmungen des Gesetzes, erkannt wird.
Auf diesen Überlegungen beruht die Formulierung der beiden Eventualanträge.
5.5. Im Falle der Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen wären die angefochtenen Bescheide vom Verwaltungsgericht Wien wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.
VI. Ergebnis:
6.1. Gemäß Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a iVm 135 Abs. 4 und Art. 89 Abs. 2 B-VG sieht sich das Verwaltungsgericht Wien verpflichtet, die Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen zu beantragen. Für den Fall, dass der im Primärantrag umschriebene Anfechtungsumfang vom Verfassungsgerichtshof als zu eng angesehen wird, werden die beiden Eventualanträge gestellt.
6.2. Gemäß § 62 Abs. 3 des Verfassungsgerichtshofgesetzes 1953 dürfen in beim Verwaltungsgericht Wien anhängigen Beschwerdeverfahren bis zur Verkündung bzw. Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes nunmehr nur solche Handlungen vorgenommen oder Anordnungen und Entscheidungen getroffen werden, die durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes nicht beeinflusst werden können oder welche die Frage nicht abschließend regeln und keinen Aufschub gestatten.
6.3. Dem Antrag sind der Behörden- und Gerichtsakt angeschlossen.
Schlagworte
Normprüfungsantrag; Gesetzesprüfung; Österreichische Ärztekammer ärztliches Disziplinarrecht; Disziplinarkommission; nicht-territoriale Selbstverwaltung; eigener Wirkungsbereich; Legalitätsprinzip; Recht auf den gesetzlichen RichterAnmerkung
VfGH v. 6.3.2023, G 237/2022 ua.; teilweise AufhebungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2022:VGW.172.024.7768.2022.2Zuletzt aktualisiert am
20.03.2023