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10/07 Verfassungs- und VerwaltungsgerichtsbarkeitNorm
B-VGLeitsatz
Auswertung in ArbeitSpruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen die Erlassung eines auf 2 Jahre befristeten Einreiseverbotes abgewiesen wird, wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616, – bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Nigeria, stellte am 19. Jänner 2014, 21. Dezember 2016 und 17. Oktober 2018 Anträge auf internationalen Schutz. Alle Anträge wurden negativ beschieden. Der Beschwerdeführer kam in weiterer Folge seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach und stellte am 10. März 2021 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §56 Abs1 AsylG 2005. Außerdem brachte er einen Antrag auf Mängelheilung gemäß §4 Abs1 Z2 und 3 AsylG-DV 2005 ein, wobei er unter anderem begründend ausführte, dass ihm die nigerianische Botschaft bislang keinen Reisepass ausgestellt habe.
2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16. Mai 2022 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Mängelheilung gemäß §4 Abs1 iVm §8 AsylG-DV2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Des Weiteren wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §58 Abs11 Z2 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen (Spruchpunkt II.), gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt IV.). Weiters wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt V.) und gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von 2 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt VII.).
3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 5. Juli 2022 als unbegründet ab. Das Einreiseverbot begründet das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass der Beschwerdeführer seinen auferlegten Rückkehrverpflichtungen wiederholt nicht nachgekommen sei und den Besitz ausreichender Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermochte. Dabei sei auch darauf Bedacht zu nehmen, dass er zwar keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung mehr beziehe, er jedoch auch keine der Pflichtversicherung unterliegenden nachhaltigen Erwerbstätigkeit nachgehe, er seinen Lebensunterhalt lediglich durch seine Tätigkeit als Zeitungsverkäufer und insbesondere durch private Zuwendungen bestreite und damit eine Selbsterhaltungsfähigkeit nicht gegeben sei.
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Der Beschwerdeführer stellt zudem den Antrag, seiner Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren und sie in eventu an den Verwaltungsgerichtshof abzutreten.
5. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die zulässige Beschwerde ist – soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich des auf 2 Jahre befristeten Einreiseverbotes wendet – begründet:
1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 6. Dezember 2022, G264/2022, §53 Abs Z6 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 87/2012, als verfassungswidrig aufgehoben und verfügt, dass diese Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.
1.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist daher die aufgehobene Gesetzesbestimmung nicht nur im Anlassfall, sondern ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (VfSlg 15.401/1999, 19.419/2011).
1.3. Das Bundesverwaltungsgericht wendete bei Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde hinsichtlich des auf 2 Jahre befristeten Einreiseverbotes abgewiesen wird, wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt.
Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.
2. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gegen die Abweisung des Antrages des Beschwerdeführers auf Mängelheilung und die Zurückweisung des Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Rückkehrentscheidung und die Feststellung, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria zulässig sei, gegen die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise und die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
2.1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die vorliegende Beschwerde behauptet die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten.
Der Verfassungsgerichtshof geht in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (s etwa EGMR 7.7.1989, Fall Soering, EuGRZ1989, 314 [319]; 30.10.1991, Fall Vilvarajah ua, ÖJZ1992, 309 [309]; 6.3.2001, Fall Hilal, ÖJZ2002, 436 [436 f.]) davon aus, dass die Entscheidung eines Vertragsstaates, einen Fremden auszuweisen – oder in welcher Form immer außer Landes zu schaffen –, unter dem Blickwinkel des Art3 EMRK erheblich werden und demnach die Verantwortlichkeit des Staates nach der EMRK begründen kann, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht worden sind, dass der Fremde konkret Gefahr liefe, in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (VfSlg 13.837/1994, 14.119/1995 und 14.998/1997).
Das Bundesverwaltungsgericht hat weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen noch sind ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Verletzung des genannten Grundrechtes darstellen (vgl VfSlg 13.897/1994, 15.026/1997, 15.372/1998, 16.384/2001, 17.586/2005; zu den krankheitsbedingten Gründen vgl auch VfSlg 18.407/2008 und 19.086/2010). Ob ihm sonstige Fehler bei der Rechtsanwendung unterlaufen sind, hat der Verfassungsgerichtshof nicht zu beurteilen.
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte).
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage der Gefährdung des Beschwerdeführers in seinen Rechten auseinandergesetzt. Ihm kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art8 EMRK überwiegt (vgl VfSlg 19.086/2010).
Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung in jeder Hinsicht rechtmäßig begründet hat, nicht anzustellen.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gegen das auf 2 Jahre befristete Einreiseverbot abgewiesen wird, wegen Anwendung eines verfassungswidriggen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben.
2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B-VG zur Entscheidung abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436, – enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.
5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2023:E2165.2022Zuletzt aktualisiert am
20.03.2023