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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
ApG 1907 §10 idF 2016/I/103Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl und die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger sowie den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Derfler, über die Revision der Mag. pharm. S W in W, vertreten durch die Pressl Endl Heinrich Bamberger Rechtsanwälte GmbH in 5020 Salzburg, Erzabt-Klotz-Straße 21A, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 16. Dezember 2020, Zl. LVwG-AV-14/005-2012, betreffend eine Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer öffentlichen Apotheke (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Stadt Waidhofen an der Ybbs; mitbeteiligte Parteien: 1. A OG und 2. Y KG, beide in W, beide vertreten durch Prof. Dr. Wolfgang Völkl, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Nußdorfer Straße 10-12), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird hinsichtlich Spruchpunkt 1. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Der Antrag der belangten Behörde auf Aufwandersatz wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit Bescheid vom 30. Oktober 2012 erteilte die belangte Behörde der Revisionswerberin die Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke an einem näher bezeichneten Standort in W.
2 Gegen diesen Bescheid erhoben die Mitbeteiligten, jeweils Inhaber der ebenfalls in W. situierten S-Apotheke und Y-Apotheke, Berufung (nunmehr: Beschwerde), in der sie sich u.a. gegen die Anwendung der - dem Gutachten der Österreichischen Apothekerkammer (im Folgenden: ÖApK) zugrunde gelegten - Studie über die Apothekennutzung von Patienten, die eine Ambulanz aufgesucht haben (Ambulanzstudie) sowie einer von der Revisionswerberin vorgelegten Studie betreffend Einkaufszentren (Einkaufszentrenstudie) wandten.
3 Ein vom - damals zuständigen - Unabhängigen Verwaltungssenat Niederösterreich eingeholtes Bedarfsgutachten der ÖApK belegte - unter Zugrundelegung sowohl der Ambulanz- als auch der Einkaufszentrenstudie - der bestehenden S-Apotheke ein verbleibendes Versorgungspotenzial von 5.594 Einwohnergleichwerten, während der Y-Apotheke 5.834 Einwohnergleichwerte verblieben.
4 Das zwischenzeitig zuständig gewordene Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (Verwaltungsgericht) führte - wie von der Revisionswerberin in ihrer Stellungnahme zur Berufung beantragt - am 28. April 2014 eine mündliche Verhandlung durch und erteilte nach weiteren Ermittlungen der Revisionswerberin mit Erkenntnis vom 31. Oktober 2016 die Konzession für die Errichtung und den Betrieb einer neuen öffentlichen Apotheke am beantragten Standort, jedoch ohne die in § 10 Abs. 2 Z 3 Apothekengesetz (ApG) normierte Bedarfsprüfung durchgeführt zu haben.
5 Mit Erkenntnis vom 23. Mai 2017, Ro 2017/10/0006, hob der Verwaltungsgerichtshof dieses Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes auf, da das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass aufgrund der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere dessen Beschluss vom 30. Juni 2016, Rs C-634/15 („Sokoll-Seebacher II“), kein Raum für die Anwendung des § 10 Abs. 2 Z 3 ApG bleibe.
6 Im zweiten Rechtsgang erstattete die ÖApK auf Ersuchen des Verwaltungsgerichts am 21. Juli 2019 ein weiteres Bedarfsgutachten, wobei dieses - unter Zugrundelegung einer Studie der Technischen Universität Wien zur Ermittlung von Einwohnergleichwerten (im Folgenden: TU-Studie) - nunmehr davon ausging, dass der S-Apotheke 6.526 und der Y-Apotheke 4.427 zu versorgende Personen verblieben.
7 In einer umfangreichen Stellungnahme vom 6. September 2019 zog die Revisionswerberin (u.a.) die TU-Studie mit konkretem Vorbringen in Zweifel. Die Sogwirkung des Einkaufszentrums, in dem sich die Y-Apotheke befinde, werde darin nicht berücksichtigt, weshalb die Studie als Berechnungsgrundlage für die Versorgungssituation einer Apotheke nicht angewandt werden könne. Die ÖApK sei in der Lage, aus den ihr vorliegenden Umsatzzahlen der betroffenen Apotheke die Beurteilung der Existenzgefährdung der Y-Apotheke auch ohne Heranziehung der TU-Studie durchzuführen. Zudem seien die Patientenkontakte des Landesklinikums W. im Bedarfsgutachten nicht entsprechend berücksichtigt worden und es sei dem Gutachten nicht zu entnehmen, welche tatsächliche Ambulanzzahl hinter dem Einwohnergleichwert stehe. Auch hätten die Übernachtungen im Therapiezentrum B., das lediglich 700 Meter von der Y-Apotheke entfernt liege, hinzugerechnet werden müssen. Es sei auch unverständlich, weshalb im Vergleich zu früheren Versionen im Gutachten der ÖApK nunmehr 700 Einwohner des dunkelblauen Polygons weggefallen seien.
8 Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16. September 2019 führte das Verwaltungsgericht weitere Ermittlungen durch, indem es u.a. die Anzahl der Ambulanzbesucher für das Jahr 2018 erhob, DI K, einen Mitautor der TU-Studie, zur Frage der Berücksichtigung von Patienten des Therapiezentrums B. schriftlich befragte, weitere Informationen zu in Bau befindlichen und geplanten Bauprojekten im Nahbereich der Y-Apotheke einholte und die ÖApK - unter Vorlage der ergänzenden Ermittlungen und weiterer eingelangter Eingaben der Parteien zur Polygonermittlung aufgrund strittiger Entfernungsangaben - um weitere Gutachtensergänzungen ersuchte.
9 Zu den Ermittlungsergebnissen räumte das Verwaltungsgericht den Verfahrensparteien Parteiengehör ein.
10 Mit nunmehr angefochtenem Erkenntnis vom 16. Dezember 2020 wies das Verwaltungsgericht in Abänderung des verwaltungsbehördlichen Bescheides die Anträge der Revisionswerberin auf Erteilung der Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke (Spruchpunkt 1.) sowie auf Aussetzung des Verfahrens gemäß § 38 AVG (Spruchpunkt 2.) ab und erklärte die ordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis für nicht zulässig. Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass ein Bedarf im Sinne des § 10 Abs. 1 Z 2 iVm Abs. 2 Z 3 ApG nicht gegeben sei.
11 Gegen dieses Erkenntnis - soweit damit der verfahrenseinleitende Antrag auf Erteilung einer Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer öffentlichen Apotheke abgewiesen wurde - richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die das Verwaltungsgericht samt den Verfahrensakten vorgelegt hat.
12 In dem vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren erstattete die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung, in der sie sich erkennbar der Rechtsansicht der Revisionswerberin anschloss und die Zuerkennung von Schriftsatzaufwand in der Höhe des Pauschalbetrages beantragte. Die mitbeteiligten Parteien erstatteten eine (gemeinsame) Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision als unbegründet abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
13 Die Revision erweist sich vor dem Hintergrund ihres Zulässigkeitsvorbringens, das angefochtene Erkenntnis weiche aufgrund der Unterlassung (der Fortsetzung) der beantragten Verhandlung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (u.a. Verweis auf VwGH 16.3.2016, Ra 2014/05/0038), als zulässig. Sie ist auch begründet.
14 § 10 ApG, RGBl. Nr. 5/1907 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 103/2016, lautet auszugsweise:
„Sachliche Voraussetzungen der Konzessionserteilung
§ 10. (1) Die Konzession für eine neu zu errichtende öffentliche Apotheke ist zu erteilen, wenn
1. in der Gemeinde des Standortes der öffentlichen Apotheke ein Arzt seinen ständigen Berufssitz hat und
2. ein Bedarf an einer neu zu errichtenden öffentlichen Apotheke besteht.
(2) Ein Bedarf besteht nicht, wenn
[...]
3. die Zahl der von der Betriebsstätte einer der umliegenden bestehenden öffentlichen Apotheken aus weiterhin zu versorgenden Personen sich in Folge der Neuerrichtung verringert und weniger als 5 500 betragen wird.
[...]
(4) Zu versorgende Personen gemäß Abs. 2 Z 3 sind die ständigen Einwohner aus einem Umkreis von vier Straßenkilometern von der Betriebsstätte der bestehenden öffentlichen Apotheke, die auf Grund der örtlichen Verhältnisse aus dieser bestehenden öffentlichen Apotheke weiterhin zu versorgen sein werden.
(5) Beträgt die Zahl der ständigen Einwohner im Sinne des Abs. 4 weniger als 5 500, so sind die auf Grund der Beschäftigung, der Inanspruchnahme von Einrichtungen und des Verkehrs in diesem Gebiet zu versorgenden Personen bei der Bedarfsfeststellung zu berücksichtigen.
[...]“
15 § 24 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der hier anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 138/2017 lautet auszugsweise:
„Verhandlung
§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.
[...]
(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.
(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.“
16 Angesichts des von der Revisionswerberin gestellten Verhandlungsantrages hätte das Verwaltungsgericht nur unter der Voraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG von der Fortsetzung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen (vgl. etwa VwGH 16.12.2019, Ra 2018/03/0066 bis 0068). Nach § 24 Abs. 4 leg. cit. kann das Verwaltungsgericht, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) entgegenstehen.
17 Das vorliegende Verfahren über einen Antrag auf Erteilung einer Konzession zur Errichtung und zum Betrieb einer Apotheke fällt in den Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK, weil es sich bei dem Recht auf Ausübung des Berufes eines Apothekers um ein „ziviles Recht“ handelt (vgl. EGMR 21.12.1999, G.S. gegen Österreich, Nr. 26297/95).
18 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat sich die Prüfung des Bedarfs gemäß § 10 Abs. 2 Z 3 ApG auf eine - auf entsprechende Ermittlungsergebnisse gestützte - prognostische Zuordnung konkreter Kundenpotentiale zu den beteiligten Apotheken nach den örtlichen Verhältnissen zu gründen: Die Behörde hat zunächst festzustellen, wie viele der ständigen Einwohner im Umkreis von 4 Straßenkilometern von der Betriebsstätte der bestehenden öffentlichen Apotheke(n) nach Errichtung der geplanten Apotheke ihren Arzneimittelbedarf aufgrund der örtlichen Verhältnisse voraussichtlich weiterhin aus der (den) bestehenden öffentlichen Apotheke(n) decken werden. Ergibt sich dabei für eine bestehende öffentliche Apotheke die kritische Zahl zu versorgender Personen nicht schon aus den ständigen Einwohnern des 4 km-Umkreises, so ist weiter zu prüfen, ob diese Zahl unter Berücksichtigung der aufgrund der Beschäftigung, der Inanspruchnahme von Einrichtungen und des Verkehrs in diesem Gebiet weiterhin zu versorgenden Personen erreicht wird (vgl. VwGH 22.4.2015, Ro 2015/10/0004, mwN).
19 Die nach Durchführung einer Verhandlung am 16. September 2019 durchgeführten weiteren Ermittlungen des Verwaltungsgerichtes bezogen sich allesamt auf die Zuordnung konkreter Kundenpotentiale zu den beteiligten Apotheken, zumal diesbezüglich örtliche und zahlenmäßige Einteilungen der ständigen Einwohner ebenso strittig waren wie das Ausmaß der Berücksichtigung von Ambulanzpatienten und Patienten des Therapiezentrums B.
20 Wenn das Verwaltungsgericht aber eine Ergänzung des Ermittlungsverfahrens als geboten ansah und deshalb die dargestellten Ermittlungen veranlasste, so zeigt diese Vorgangsweise, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt in dieser Hinsicht eben (noch) nicht geklärt war. Schon in Hinblick darauf durfte das Verwaltungsgericht nicht von der Fortsetzung der Verhandlung absehen und davon ausgehen, dass die (zudem von der Revisionswerberin beantragte) mündliche Erörterung der nach der Aktenlage strittigen Fragen eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse (vgl. VwGH 28.7.2021, Ra 2020/10/0145; sowie etwa auch VwGH 15.7.2019, Ra 2017/11/0254).
21 Durch die zu Unrecht unterlassene Fortsetzung der Verhandlung hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Denn die nach der ersten Verhandlung durchgeführten weiteren Ermittlungen des Verwaltungsgerichts (Rz 8) zeigen nicht nur, dass der Sachverhalt noch nicht geklärt war, sondern es kann aufgrund der zusätzlich gewonnenen Ermittlungsergebnisse nicht ausgeschlossen werden, dass deren Erörterung im Rahmen einer fortgesetzten Verhandlung zu einem anderen Verfahrensergebnis geführt hätte.
22 Das angefochtene Erkenntnis war daher im bekämpften Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.
23 Die Kostenentscheidung stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Die von der Revisionswerberin gesondert angesprochene Umsatzsteuer ist in den dort genannten Pauschalbeträgen bereits enthalten, sodass das diesbezügliche Mehrbegehren abzuweisen war (vgl. VwGH 14.2.2022, Ra 2020/10/0118 bis 0119).
24 Das Aufwandersatzbegehren der belangten Behörde war abzuweisen, weil anderen Parteien als der revisionswerbenden Partei (so insbesondere der belangten Behörde des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht, wenn diese nicht selbst Revision erhebt) auch dann, wenn sie beantragen, der Revision stattzugeben, bei Aufhebung der angefochtenen Entscheidung kein Kostenersatz zusteht, da ein Beitritt als Streithelfer auf Seiten der revisionswerbenden Partei im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof im Gesetz nicht vorgesehen ist (vgl. dazu VwGH 24.2.2022, Ro 2020/05/0030, mwN).
25 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 24. Jänner 2023
Schlagworte
Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Besonderes Fachgebiet Verfahrensbestimmungen BerufungsbehördeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021100034.L00Im RIS seit
23.02.2023Zuletzt aktualisiert am
23.02.2023