TE Lvwg Erkenntnis 2022/1/25 VGW-102/012/1900/2020

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.01.2022
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Entscheidungsdatum

25.01.2022

Index

24/01 Strafgesetzbuch
25/01 Strafprozess

Norm

StGB §84
StGB §269
StPO 1950 §170
StPO 1950 §171
StPO 1950 §172
  1. StGB § 84 heute
  2. StGB § 84 gültig von 01.01.2016 bis 31.12.2015 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 112/2015
  3. StGB § 84 gültig ab 01.01.2016 zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 154/2015
  4. StGB § 84 gültig von 01.03.1988 bis 31.12.2015 zuletzt geändert durch BGBl. Nr. 605/1987

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seine Richterin Mag. Hornschall über die Maßnahmenbeschwerde des Herrn A. B., vertreten durch Rechtsanwälte KG, betreffend Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (Festnahme, Anlegen von Handschellen und Inhaftierung) durch Organe der Landespolizeidirektion Wien am 1.1.2020 in Wien, C. Höhe ON ...,

zu Recht erkannt:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG wird die Beschwerde hinsichtlich der Dauer der Anhaltung stattgegeben und festgestellt, dass die Anhaltung des Beschwerdeführers in der Dauer von dreieinhalb Stunden rechtswidrig war. In den übrigen Punkten wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a Verwaltungsgerichtshofgesetz – VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz – B-VG unzulässig.

Entscheidungsgründe

Gang des Verfahrens

Mit Schriftsatz vom 12.2.2020 brachte der Beschwerdeführer, Herr A. B., vertreten durch die RAe KG, eine Maßnahmenbeschwerde beim Verwaltungsgericht Wien ein. Es wird vorgebracht, dass ein Organ der Landespolizeidirektion Wien (belangte Behörde) den Beschwerdeführer im Rahmen einer Lenker- und Fahrzeugkontrolle am 1.1.2020 in Wien, C. Höhe ON ..., auffordert habe, die Fahrzeugpapiere vorzuzeigen und aus seinem Taxi auszusteigen. Als dies der Beschwerdeführer anstandslos getan habe, sei er sofort auf dem Boden niedergedrückt und seien ihm hinter dem Rücken Handschellen angelegt worden. Der Polizeibeamte habe behauptet, dass der Beschwerdeführer ihm über den Fuß gefahren sei. Der Beschwerdeführer hätte sodann von 18:25 Uhr bis 22:05 Uhr in Haft verbringen müssen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Festnahme, das Anlegen der Handschellen und die Inhaftierung hätten nicht vorgelegen und seien diese Maßnahmen jedenfalls unverhältnismäßig gewesen.

Die belangte Behörde legte die Verfahrensakten vor und erstattete die Gegenschrift vom 6.3.2020. Der Beschwerdeführer sei bei der Kontrolle weggefahren und dabei dem amtshandelnden Beamten über den Fuß gefahren. Es habe somit der dringende Verdacht des versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt und der schweren Körperverletzung bestanden, weshalb die Festnahme nach der Strafprozessordnung – StPO ausgesprochen worden sei. Um zu verhindern, dass der Beschwerdeführer endgültig davonfährt oder auch ohne Pkw flüchtet, sei es notwendig gewesen, ihm Handfesseln anzulegen. Die Fesselung sei nach dem Ausspruch der Festnahme auch zu deren Erzwingung notwendig gewesen. Die Zwangsmaßnahmen seien daher zu Recht erfolgt.

Am 6.10.2020 fand vor dem Verwaltungsgericht Wien die öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer und folgende Zeugen einvernommen wurden: Insp. D., Insp. E., Herr F. und Herr G.

Das Verwaltungsgericht Wien hat erwogen:

Feststellungen

Der Beschwerdeführer hat sein Taxi am 1.1.2020 gegen 18:20 Uhr beim Taxistandplatz in Wien, C., eingeparkt. Hinsichtlich dieses Parkmanövers kam es zu einer beidseitig heftigeren Diskussion mit einem den Verkehr kontrollierenden Beamten der Landespolizeidirektion Wien. Der Polizist führte eine Lenker- und Fahrzeugkontrolle durch und forderte den Beschwerdeführer auf, den Führerschein und den Zulassungsschein zu zeigen. Plötzlich legte der Beschwerdeführer den Rückwärtsgang ein und fuhr ein bis zwei Fahrzeuglängen nach hinten weg, um sich dort einzupacken. Der Polizeibeamte ging dem Taxi nach und forderte nochmals die Papiere des Beschwerdeführers.

Während der Kontrolle der Dokumente und bevor seine Identität festgestellt werden konnte, fuhr der Beschwerdeführer abermals los. Er lenkte sein Taxi ein Stück nach vorne und fuhr dabei mit dem linken Hinterrad über den rechten Fuß des Beamten. Obwohl er Sicherheitsschuhe trug, erlitt der Polizist dabei eine Prellung. Der Polizeibeamte wertete daher das Verhalten des Beschwerdeführers als Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Der Polizeibeamte folgte dem Taxi abermals, sprach um 18:25 Uhr die Festnahme aus und forderte den Beschwerdeführer zum Aussteigen auf. Als dieser sich weigerte, zog ihn der Beamte an der Jacke ins Freie und brachte ihn zu Boden. Mithilfe seines Kollegen zog der Polizist dann die Hände des Beschwerdeführers auf den Rücken und legte ihm Handschellen an. Nicht erwiesen werden konnte, dass der Polizeibeamte dabei dem Beschwerdeführer auf den Fuß stieg oder auf ihm lag oder kniete. Der Beschwerdeführer wurde in der Folge in die Polizeiinspektion H.-platz gebracht, wo die Maßnahme dokumentiert wurde. Dann wurde der Beschwerdeführer ins Polizeianhaltezentrum I. gebracht, wo er um 21:24 Uhr einvernommen und danach um 22:05 Uhr aus der Anhaltung entlassen wurde. Nicht festgestellt werden konnte, dass Sachverhaltselemente vorlagen, die einer sofortigen Vernehmung des Beschwerdeführers entgegengestanden wären.

Beweiswürdigung

Beweise wurden erhoben durch die öffentliche mündliche Verhandlung, die Einsichtnahme in den vorgelegten Verfahrensakt, den Spitalsbrief der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 1.1.2020 und den Befund des Amtsarztes vom 1.1.2020.

Der Beschwerdeführer und Insp. D. gaben in der Verhandlung übereinstimmend an, dass es eine heftigere Diskussion gab und die Papiere des Beschwerdeführers kontrolliert wurden. Weiters sagten beide aus, dass der Beschwerdeführer während der Amtshandlung erst nach hinten wegfuhr und dann nach vorne.

Dass der Polizeibeamte bei dabei eine Prellung des rechten Fußes erlitt, ist durch den Arztbrief des aufgesuchten Krankenhauses und den Befund des Amtsarztes, welche noch am Tag ausgestellt wurden, erwiesen. Da diese Verletzung durch das Wegfahren des Beschwerdeführers während der Amtshandlung verursacht wurde, ist nachvollziehbar, dass der Beamte den Vorfall als Widerstand gegen die Staatsgewalt wertete. Dass er Sicherheitsschuhe trug, ist der glaubhaften Aussage des Arbeitgebers des Beschwerdeführers zu entnehmen. Er hatte keinen ersichtlichen Grund, seinem Taxilenker schaden zu wollen.

Bei den Feststellungen über den Ablauf der Festnahme und deren Durchsetzung war den authentischen und detaillierten Schilderungen des Polizeibeamten zu folgen. Die Glaubhaftigkeit des Zeugen wird überdies dadurch erhöht, dass er in der Verhandlung von sich aus eingestanden hat, dass er sich gegenüber dem Beschwerdeführer nach der Festnahme nicht sehr nett verhalten und geschimpft hat. Der Beschwerdeführer, welcher in der Verhandlung einen eher impulsiven Eindruck hinterließ, wies im Gegensatz dazu nicht sehr glaubhaft jegliches Fehlverhalten von sich. Wäre der Beamte bei der Durchsetzung der Festnahme dem Beschwerdeführer auf den Fuß gestiegen oder auf ihm gelegen oder gekniet, hätte dies, nach den Erfahrungen des täglichen Lebens und der erkennenden Richterin aus vielen ähnlichen Verfahren, zu Verletzungen oder zumindest Schmerzen führen müssen. Solches wurde jedoch vom Beschwerdeführer nicht vorgebracht.

Die Einvernahme und die Dauer der Anhaltung ergeben sich aus dem unbedenklichen Verfahrensakt und den Angaben des Beschwerdeführers. Seitens der Behörde wurden keine Umstände vorgebracht, die der sofortigen Vernehmung des Beschwerdeführers entgegengestanden wären, und sind solche auch im vorgelegten Verfahrensakt nicht ersichtlich.

Maßgebliche Rechtsgrundlage

§ 269 Strafgesetzbuch – StGB lautet:

Widerstand gegen die Staatsgewalt
§ 269.
  1. (1) Wer eine Behörde mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt und wer einen Beamten mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung an einer Amtshandlung hindert, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, im Fall einer schweren Nötigung (§ 106) jedoch mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
  2. (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer eine Behörde mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt oder einen Beamten mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung zu einer Amtshandlung nötigt.
  3. (3) Als Amtshandlung im Sinn der Abs. 1 und 2 gilt nur eine Handlung, durch die der Beamte als Organ der Hoheitsverwaltung oder der Gerichtsbarkeit eine Befehls- oder Zwangsgewalt ausübt.
  4. (4) Der Täter ist nach Abs. 1 nicht zu bestrafen, wenn die Behörde oder der Beamte zu der Amtshandlung ihrer Art nach nicht berechtigt ist oder die Amtshandlung gegen strafgesetzliche Vorschriften verstößt.

§ 84 StGB lautet:

Schwere Körperverletzung
§ 84.
  1. (1) Wer einen anderen am Körper misshandelt und dadurch fahrlässig eine länger als vierundzwanzig Tage dauernde Gesundheitsschädigung oder Berufsunfähigkeit oder eine an sich schwere Verletzung oder Gesundheitsschädigung zufügt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.
  2. (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer eine Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 oder Abs. 2) an einem Beamten, Zeugen oder Sachverständigen während oder wegen der Vollziehung seiner Aufgaben oder der Erfüllung seiner Pflichten begeht.
  3. (3) Ebenso ist der Täter zu bestrafen, wenn er mindestens drei selbstständige Taten (§ 83 Abs. 1 oder Abs. 2) ohne begreiflichen Anlass und unter Anwendung erheblicher Gewalt begangen hat.
  4. (4) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren ist zu bestrafen, wer einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt und dadurch, wenn auch nur fahrlässig, eine schwere Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (Abs. 1) des anderen herbeiführt.
  5. (5) Ebenso ist zu bestrafen, wer eine Körperverletzung (§ 83 Abs. 1 oder Abs. 2) begeht
    1. 1.
      auf eine Weise, mit der Lebensgefahr verbunden ist,
    2. 2.
      mit mindestens zwei Personen in verabredeter Verbindung oder
    3. 3.
      unter Zufügung besonderer Qualen.

§ 170 Strafprozeßordnung – StPO lautet:

Festnahme

Zulässigkeit
§ 170.
  1. (1) Die Festnahme einer Person, die der Begehung einer strafbaren Handlung verdächtig ist, ist zulässig,
    1. 1.
      wenn sie auf frischer Tat betreten oder unmittelbar danach entweder glaubwürdig der Tatbegehung beschuldigt oder mit Gegenständen betreten wird, die auf ihre Beteiligung an der Tat hinweisen,
    2. 2.
      wenn sie flüchtig ist oder sich verborgen hält oder, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, sie werde flüchten oder sich verborgen halten,
    3. 3.
      wenn sie Zeugen, Sachverständige oder Mitbeschuldigte zu beeinflussen, Spuren der Tat zu beseitigen oder sonst die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren versucht hat oder auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, sie werde dies versuchen,
    4. 4.
      wenn die Person einer mit mehr als sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohten Tat verdächtig und auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, sie werde eine eben solche, gegen dasselbe Rechtsgut gerichtete Tat begehen, oder die ihr angelastete versuchte oder angedrohte Tat (§ 74 Abs. 1 Z 5 StGB) ausführen.
  2. (2) Wenn es sich um ein Verbrechen handelt, bei dem nach dem Gesetz auf mindestens zehnjährige Freiheitsstrafe zu erkennen ist, muss die Festnahme angeordnet werden, es sei denn, dass auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, das Vorliegen aller im Abs. 1 Z 2 bis 4 angeführten Haftgründe sei auszuschließen.
  3. (3) Festnahme und Anhaltung sind nicht zulässig, soweit sie zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehen (§ 5).

§ 171 StPO lautet:

Anordnung
§ 171.
  1. (1) Die Festnahme ist durch die Staatsanwaltschaft auf Grund einer gerichtlichen Bewilligung anzuordnen und von der Kriminalpolizei durchzuführen.
  2. (2) Die Kriminalpolizei ist berechtigt, den Beschuldigten von sich aus festzunehmen
    1. 1.
      in den Fällen des § 170 Abs. 1 Z 1 und
    2. 2.
      in den Fällen des § 170 Abs. 1 Z 2 bis 4, wenn wegen Gefahr im Verzug eine Anordnung der Staatsanwaltschaft nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.
  3. (3) Im Fall des Abs. 1 ist dem Beschuldigten sogleich oder innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seiner Festnahme die Anordnung der Staatsanwaltschaft und deren gerichtliche Bewilligung zuzustellen; im Falle des Abs. 2 eine schriftliche Begründung der Kriminalpolizei über Tatverdacht und Haftgrund.
  4. (4) Dem Beschuldigten ist sogleich oder unmittelbar nach seiner Festnahme schriftlich in einer für ihn verständlichen Art und Weise sowie in einer Sprache, die er versteht, Rechtsbelehrung (§ 50) zu erteilen, die ihn darüber hinaus zu informieren hat, dass er
    1. 1.
      soweit er nicht freizulassen ist (§ 172 Abs. 2), ohne unnötigen Aufschub in die Justizanstalt eingeliefert und dem Gericht zur Entscheidung über die Haft vorgeführt werden wird (§§ 172 Abs. 1 und 3 und 174 Abs. 1), sowie
    2. 2.
      berechtigt ist,
      1. a.
        einen Angehörigen oder eine andere Vertrauensperson und einen Verteidiger unverzüglich von seiner Festnahme zu verständigen oder verständigen zu lassen (Art. 4 Abs. 7 BVG über den Schutz der persönlichen Freiheit),wobei ihm auf Verlangen die Kontaktaufnahme mit einem „Verteidiger in Bereitschaft“ (§ 59 Abs. 4) zu ermöglichen ist, dessen Kosten er unter den Voraussetzungen des § 59 Abs. 5 nicht zu tragen hat,
      2. b.
        Beschwerde gegen die gerichtliche Bewilligung der Festnahme zu erheben und im Übrigen jederzeit seine Freilassung zu beantragen,
      3. c.
        seine konsularische Vertretung unverzüglich verständigen zu lassen (Art. 36 des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen, BGBl. Nr. 318/1969),
      4. d.
        Zugang zu ärztlicher Betreuung zu erhalten (§§ 66 bis 74 StVG).
    Ist die schriftliche Belehrung in einer Sprache, die der Beschuldigten versteht, nicht verfügbar, so ist sie zunächst mündlich zu erteilen (§ 56 Abs. 2) und sodann ohne unnötigen Aufschub nachzureichen. Der Umstand der erteilten Belehrung ist in jedem Fall schriftlich festzuhalten (§§ 95 und 96).

§ 172 StPO lautet:

Durchführung
§ 172.
  1. (1) Vom Vollzug einer Anordnung auf Festnahme hat die Kriminalpolizei die Staatsanwaltschaft und diese das Gericht unverzüglich zu verständigen. Der Beschuldigte ist ohne unnötigen Aufschub, längstens aber binnen 48 Stunden ab Festnahme in die Justizanstalt des zuständigen Gerichts einzuliefern. Wenn dies, insbesondere wegen der Entfernung des Ortes der Festnahme nur mit unverhältnismäßigen Aufwand möglich oder wegen Erkrankung oder Verletzung des Beschuldigten nicht tunlich wäre, ist es zulässig, ihn der Justizanstalt eines unzuständigen Gerichts einzuliefern oder einer Krankenanstalt zu überstellen. In diesen Fällen kann das Gericht den Beschuldigten unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung vernehmen und ihm den Beschluss über die Untersuchungshaft auf gleiche Weise verkünden (§ 174).
  2. (2) Hat die Kriminalpolizei den Beschuldigten von sich aus festgenommen, so hat sie ihn unverzüglich zur Sache, zum Tatverdacht und zum Haftgrund zu vernehmen. Sie hat ihn freizulassen, sobald sich ergibt, dass kein Grund zur weiteren Anhaltung vorhanden ist. Kann der Zweck der weiteren Anhaltung durch gelindere Mittel nach § 173 Abs. 5 Z 1 bis 7 erreicht werden, so hat die Kriminalpolizei dem Beschuldigten auf Anordnung der Staatsanwaltschaft unverzüglich die erforderlichen Weisungen zu erteilen, die Gelöbnisse von ihm entgegenzunehmen oder ihm die in § 173 Abs. 5 Z 3 und 6 erwähnten Schlüssel und Dokumente abzunehmen oder die aufgetragene Sicherheitsleistung nach § 172a einzuheben und ihn freizulassen. Die Ergebnisse der Ermittlungen samt den Protokollen über die erteilten Weisungen und die geleisteten Gelöbnisse sowie den abgenommenen Schlüsseln und Dokumenten sind der Staatsanwaltschaft binnen 48 Stunden nach der Festnahme zu übermitteln. Über die Aufrechterhaltung dieser gelinderen Mittel entscheidet das Gericht.
  3. (3) Ist der Beschuldigte nicht nach Abs. 2 freizulassen, so hat ihn die Kriminalpolizei ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber binnen 48 Stunden nach der Festnahme, in die Justizanstalt des zuständigen Gerichts einzuliefern oder – im Fall seiner Erkrankung (Abs. 1) – einer Krankenanstalt zu überstellen. Sie hat jedoch vor der Einlieferung rechtzeitig die Staatsanwaltschaft zu verständigen. Erklärt diese, keinen Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft zu stellen, so hat die Kriminalpolizei den Beschuldigten sogleich freizulassen.
  4. (4) Soweit das Opfer dies beantragt hat, ist es von einer Freilassung des Beschuldigten nach dieser Bestimmung unter Angabe der hiefür maßgeblichen Gründe und der dem Beschuldigten auferlegten gelinderen Mittel sogleich zu verständigen. Opfer nach § 65 Abs. 1 Z 1 lit. a und besonders schutzbedürftige Opfer (§ 66a) sind jedoch unverzüglich von Amts wegen zu verständigen. Diese Verständigung obliegt der Staatsanwaltschaft, wenn sie nach Einlieferung in die Justizanstalt erklärt, keinen Antrag auf Verhängung der Untersuchungshaft zu stellen, im Übrigen jedoch der Kriminalpolizei.

Rechtliche Beurteilung

Das Beweisverfahren hat ergeben, dass der Beschwerdeführer durch ein Organ der Landespolizeidirektion Wien einer Lenker- und Fahrzeugkontrolle unterzogen wurde. Während dieser Amtshandlung fuhr der Beschwerdeführer los, lenkte sein Taxi ein Stück nach vorne und fuhr dabei mit dem linken Hinterrad über den rechten Fuß des Beamten. Obwohl er Sicherheitsschuhe trug, erlitt der Polizist dadurch eine Prellung des Fußes. Somit hatte der Beamte zurecht den dringenden Verdacht, dass der Beschwerdeführer zumindest den Versuch unternahm, ihn mit Gewalt an der Fortführung eine Amtshandlung zu hindern, und an ihm eine schwere Körperverletzung begangen hat. Der verletzte Polizist hat ihn dabei also auf frischer Tat betreten. Durch das wiederholte Wegfahren und die Weigerung, aus dem Taxi auszusteigen, konnte der Beamte zurecht nicht ausschließen, dass der Beschwerdeführer weiter versuchen wird, sich der Amtshandlung zu widersetzen bzw. zu fliehen, zumal seine Personalien vor dem Wegfahren noch nicht festgestellt werden konnten.

Dem Verwaltungsgericht Wien erscheint es zwar aufgrund der Erfahrungen des täglichen Lebens, wonach das Überfahren kleinerer Gegenstände mit einem Pkw oft unbemerkt bleibt, durchaus möglich, dass der Beschwerdeführer beim Nachvornefahren gar nicht realisiert hat, dass er über den Fuß des Polizeibeamten gefahren ist. Das würde auch erklären, warum der Beschwerdeführer der – für ihn zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht nachvollziehbaren – Aufforderung, aus dem Taxi auszusteigen, nicht folgte. Jedoch ist bei Maßnahmenbeschwerden eine ex-ante Prüfung aus Sicht des handelnden Behördenorganes vorzunehmen. Ob somit beim Beschwerdeführer tatsächlich kein Vorsatz vorlag, ist daher nicht in die rechtliche Prüfung der Maßnahme einzubeziehen. Daher ist auch der letztendlich erfolgte Freispruch des Beschwerdeführers von den Vorsatzdelikten des Widerstandes gegen die Staatsgewalt und der vorsätzlichen Körperverletzung mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 4.3.2020, GZ: ..., bei der Beurteilung nicht von Relevanz.

In Hinblick auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 29.6.2000, GZ: 69/01/1071, in einem parallel gelagerten Fall konnte der Beamte daher bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung davon ausgehen, dass das Verhalten des Beschwerdeführers gemäß §§ 269 und 84 StGB zu ahnden sei und dass somit der Festnahmegrund des § 175 Abs 1 Z 1 StPO gegeben sei. Die Verhaftung und Anhaltung des Verdächtigen verstößt auch nicht gegen § 175 Abs 3 StPO, demzufolge Verhaftung und Anhaltung nach Abs. 1 nicht zulässig sind, soweit sie zur Bedeutung der Sache außer Verhältnis stehen, weil die Personalien des einer Straftat nach §§ 269 und 84 StGB Verdächtigen den einschreitenden Sicherheitswacheorganen nicht bekannt waren. Der Verdächtige leistete durch zweimaliges Wegfahren und der Weigerung, aus dem Taxi auszusteigen, nachhaltigen Widerstand. Dass ihm Handschellen angelegt werden mussten, ist auf sein Verhalten zurückzuführen. Es war weder die Gefährdung der einschreitenden Polizeibeamten noch ein Fluchtversuch auszuschließen, sodass sich die Fesselung des Verdächtigen als gerechtfertigt erweist (Hinweis E VfGH 26.9.1989, VfSlg 12134). Da das Vorbringen des Beschwerdeführers, dass ihm der Polizeibeamte auf den Fuß stieg oder auf ihm lag oder kniete, nicht erwiesen werden konnte, liegt auch keine unverhältnismäßige Modalität der Durchsetzung der Festnahme vor.

Gemäß § 172 Abs. 2 StPO wurde der Beschwerdeführer nach seiner kriminalpolizeilichen Festnahme nach etwa drei Stunden vernommen und nach etwa dreieinhalb Stunden Anhaltung entlassen. Es sind im Beweisverfahren keine Sachverhaltselemente zutage gekommen, die einer sofortigen Vernehmung des Beschwerdeführers entgegengestanden hätten. Bei Beobachtung der in Haftsachen gebotenen und unerlässlichen Schnelligkeit – nach Beschaffenheit dieses in einer Großstadt spielenden Falles – hätte der am Abend festgenommene Beschwerdeführer unverzüglich – längstens nach zweieinhalb Stunden (Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 29.6.2000, GZ: 96/01/1071) behördlich einvernommen und danach aus der Haft entlassen werden müssen.

Somit war der Beschwerde in diesem Punkt spruchgemäß stattzugeben und die Rechtswidrigkeit der Anhaltedauer festzustellen. Die übrigen Beschwerdepunkte waren als unbegründet abzuweisen.

Ein Kostenzuspruch gemäß § 35 VwGVG hatte zu unterbleiben, da keine Verfahrenspartei gänzlich obsiegte oder unterlag.

Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Ebenfalls liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Ex-ante-Betrachtung; Festnahmegrund; sofortige Vernehmung; Maßnahmenbeschwerde

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2022:VGW.102.012.1900.2020

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2023
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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